Man tut was man kann | Bundestagswahl 2017

Kategorien Weltgeschehen

Geh dein‘ Weg

Du hast alles was du brauchst

Es ist nicht zu spät

Du kannst was bewegen

wenn du fest an dich glaubst!

-Kraftklub, Fenster


Ich bin fünf Jahre alt, fast schon sechs, als mich mein Vater eines Tages mit in unser Rathaus nimmt. Ich verstehe nicht, was er vorhat, natürlich nicht, aber in unserem kleinen, sonst so ruhigen Dorfrathaus wuselt es nur so von Leuten und ich verstehe, dass es ein besonderer Tag sein muss. Erst recht, als mich mein Vater in eine Art Umkleidekabine zieht, und mir einen Zettel zeigt, auf man mehrere Sachen ankreuzen kann. „Da malst du das Kreuz.“ sagte er zu mir und zeigt auf einen der Kreise. Und mit größter Vorsicht, und gefühlt in Zeitlupe male ich ein wunderschönes Kreuzchen, und bin stolz wie Oskar, ohne genau zu wissen, was ich gemacht habe.

12 Jahre und 3 Bundestagswahlen später bin ich siebzehn Jahre alt, und stehe nicht mehr mit meinem Vater im Wahllokal. Mein Geburtstag ist der 03.10., ich habe meine Wahlberechtigung zur diesjährigen Bundestagswahl um 9 Tage verpasst. Ich kann also nichts dazu beitragen, wie der neue Bundestag aussehen wird, schlichtweg weil ich zu jung dazu bin. „Ich kann sowieso nichts dazu beitragen!“ hört man aber immer wieder und von allen Seiten von Leuten, die genau dies können: Wählen gehen!

Manchmal muss man ein bisschen über den Tellerrand sehen können, um einen neuen Blickwinkel der Dinge zu erhalten. Ich habe Großcousins und -Cousinen, die aufgrund der Arbeit ihres Vaters seit einigen Jahren in Nairobi, Kenia leben. Den Sommer verbringen sie immer bei uns, so auch dieses Jahr. Zeitgleich brachen in Kenia aufgrund der Wahlen Unruhen und Proteste aus.

Oppositionskandidat Odinga, der die Präsidentschaftswahl nach 2007 und 2013 2017 erneut verloren hatte, gab an, die Wahl sei gefälscht und manipuliert worden. Daraufhin brachen gewaltsame Demonstrationen und Proteste in mehreren Teilen Kenias, vor allem auch in Nairobi aus. Und mein Großcousin sagte: „Mit Deutschland ist das kenianische Wahlsystem überhaupt nicht vergleichbar. Sie sind auf einem guten Weg, aber letztendlich geht es nur ums Geld, viel mehr noch als in Deutschland.“ Er lachte. „Wenn ich hier so Radio höre, denke ich: Das ist alles Jammern auf hohem Niveau.“

Ob nun Bomben fallen

auf Afghanistan und den Irak

Wie es dir geht hat mal wieder überhaupt keiner gefragt

Du stehst da mit leeren Händen

Du wurdest betrogen

Du kannst nichts daran ändern

Schuld sind die da oben

Du bist der Normale,

alle ander’n sind Idioten

All die Nachrichtenportale,

die haben dich belogen

Vertraue keinem einzigem Wort in keiner Zeitung

Die hab’n ihre Fakten, aber du hast deine Meinung

-Kraftklub, Fenster

 

Jammern auf hohem Niveau – das trifft es. Gejammert wird genug. Jammerdeutschland, könnte man fast sagen, jammerschade dass bei uns ja alles so schlimm läuft. Politiker, deren Hauptbeschäftigung angeblich Korruption ist. Die uns belügen, alles schönreden und ihre Fehler vertuschen wollen. Immer mehr Menschen springen auf den Zug auf, dass alles was wir tagtäglich vorgelegt bekommen auf Manipulation und Fake News basieren würde. Die da oben sind schuld ist so einfach zu sagen, und endlich haben die Menschen eine Zielscheibe für ihre lange, vage Unzufriedenheit gefunden.

Und dann diese unfassbar große Bedrohung, die angeblich ausgeht, von Menschen die in unserem Land nach Schutz suchen. Sie würden uns unsere deutsche Kultur nehmen, heißt es, und uns alle Stück für Stück islamisieren. Ist es die Angst allein? Kann Angst Menschen dazu treiben, mit Worten, Taten und Feuerzeugen zerstörerisch zu werden? Oder braucht es dazu noch was anderes? Seit 2015 schon grassiert der Fremdenhass wie eine Grippe, und in dieser Zeit habe ich mich oft damit beschäftigt, auch hier.

Doch jetzt befindet sich die Problematik des Rechtsextremismus auf einer anderen Ebene, denn angesichts der Bundestagswahl und der vorangegangenen Erfolge in mehreren Landtagen Deutschlands brüstet sich eine rechtsextreme Partei für ihren möglichen Aufschwung: die AFD. Die scheinbar problemlose, rosarot glitzernde Alternative und Lösung für alle Wehwehchen, die der deutsche Durchschnittsbürger so hat. Und der deutsche Durchschnittsbürger denkt sich: Wieso kompliziert, wenn es doch auch einfach geht? Die AFD polarisiert. Sie provoziert und proklamiert und windet sich in Aufmerksamkeit, und dass genau diese absurd erscheinenden Verhaltensweisen zu Erfolg führen können, haben wir im vergangenen November erlebt. Und auch in einigen Landtagswahlen in Deutschland diesen Jahres.

Was manchen Leuten vielleicht nicht klar ist: dass wir schon verdammt viel haben. Dass sich – anders als in Kenia- bei uns keiner fürchten muss, am Wahltag auf die Straße zu gehen. Dass in unserem Bundestag Menschen aus unserer Mitte sitzen, die dorthin rechtmäßig gewählt wurden, die was zu sagen haben, was uns zugute kommt. Dass die Gewaltenteilung bei uns so ausgeklügelt ist, dass wir gegen politische Katastrophen abgesichert sind. Politische Katastrophen wie Diktaturen – bei denen der Diktator äußerst seltsame Vorstellungen hat, wie ein Mensch zu sein hat. Vielleicht müssen wir uns einfach eingestehen, dass nichts im Leben perfekt ist. Auch nicht Politik. Dass wir aber in manchen Punkten verdammt froh sein können, vor allem im internationalen Vergleich. Damit muss man sicherlich nicht prahlen, aber das muss man bewahren.

Und das tut.man.nicht., indem man eine populistische Partei mit alarmierend rechtsextremen Zügen wählt, deren Antrieb weniger aus ausgeklügelten Plänen und realistischen Einschätzungen basiert als auf Aufmerksamkeit und Hass, den viele Menschen in sich selbst wiedererkennen.

Dann wiederum gibt es Menschen, die aus diesen Erkenntnissen ihr Fazit ziehen: „Dann geh ich eben gar nicht wählen.“ Weil…alle Parteien blöd sind. Weil das sowieso alles viel zu kompliziert ist. Und eigentlich auch gar nicht interessant.

Unter Statistikern gibt es Uneinigkeiten, wie Nicht-Wähler bei der Erstellung von Prognosen behandelt werden sollen. Allgemeine Meinung ist, dass Nicht-Wähler nicht berücksichtigt werden sollten, jedoch gilt die Wahlabstinenz als politisch-motivierte Entscheidung. Dies ist ohne Zweifel richtig, zumal sich laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung lediglich 15 Prozent aller Nichtwähler der letzten Bundestagswahlen aus nicht-politischen Gründen wie Zeitmangel enthalten haben. Die Frage ist nur, wie sinnvoll diese politische Motivation ist. Für wen jede Partei irgendwie blöd ist, der sollte sich doch viel eher fragen, welche von ihnen dann letztendlich das für ihn persönlich geringste Übel mitbringt. Ich denke nicht, dass eine Bundestagswahl die Wahl zwischen Pest und Cholera darstellt. Es gibt schon noch Abstufungen, insbesondere was rechtsextreme Parteien wie die AFD und die NDP angeht.

Ob man bei einer Klassenarbeit nichts hinschreibt, anstelle von etwas Falschem, macht die Note im Endeffekt auch nicht besser.

Es scheint unverständlich, wieso Menschen bei Gewinnspielen wie Lotto mitmachen, bei denen die Gewinnchance absolut gering ist, und dafür meist noch Geld zahlen, aber bei etwas wie der Bundestagswahl, bei der es um die Zukunft des Landes geht, sagen: „Bringt doch eh nichts, wenn ich da mitmache.“ Wenn jeder so denken würde, wie sähe es denn dann aus in Deutschland? Und bei einer Klassensprecherwahl wählt doch auch jeder jemanden, und wenn es der größte Klassenclown ist (Achtung, keine Aufforderung, die AFD zu wählen, den größten Clown des deutschen Parteienspektrums).

Unsere Vorfahren haben für ein generelles bzw. geschlechterübergreifendes Wahlrecht gekämpft. In vielen Teilen der Welt geschieht dies heute noch. Stellen wir uns vor, wir sind Eltern, die ihren Kindern eine große Freude tun, und dann krabbelt das Kind einfach uninteressiert davon. Wie fühlt sich das an?

Man tut, was man kann und legt sich dann schlafen, heißt ein Sprichwort. Wir können wählen, also tun wir es. Denn:

auf diese Weise geschieht es,
dass man eines Tages etwas geleistet hat.

-Paula Modersohn-Becker

 

Oder um es in Kraftklubs Worten zu sagen:

Du kannst was erreichen

Trag auch du zu etwas bei

 

Und für die Menschen, die das immer noch nicht kapieren, hat Kraftklub noch einige letzte Worte:

Spring aus dem Fenster – für mich

Spring aus dem Fenster – für mich

Auch du kannst etwas Gutes tun

Leiste deinen Teil


INFOS

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.