You´re in ruins | Kurzgeschichte

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It all comes down to the person you look for in a crowded room

Eigentlich wollte ich gar nicht feiern gehen.
Eigentlich wollte ich viel lieber zuhause sitzen, „Traumfahrt ins Glück“ anschauen und über mein eigenes, verlorenes Glück weinen.
Dass ich stattdessen unter die Dusche ging, meine Haare glättete und die sündhaft teure, neue Mascara aufschraubte, lag an dem Gruppenzwang, unter den ich mich mal wieder selber setzte, und der besagte, dass wir alle ins Nachbarort auf die Infernoparty gingen.
Ich wollte es nicht. Ich wollte es wirklich nicht.
Er würde kommen, und es würde mich schmerzhaft daran erinnern, wie wir uns vor zwei Wochen gestritten hatten. Seitdem ignorierten wir uns, in der Schule, im Messenger.
Nur: eine Party war seit dem nicht mehr gewesen.
„Du musst mit uns dahin gehen!“ hatten Sophia und Marla gesagt, und : „Wir machen dort Party! Er darf ruhig sehen, wie gut es dir geht!“
Leider war mir überhaupt nicht nach Party machen zu Mute, und gut ging es mir auch nicht. Eher so wie vom LKW überfahren. Zwei mal.
Sollte er das denn sehen? Und was dachte er sich dann?
Es half alles nichts, pünktlich um neun Uhr stand ich mit meinen Freundinnen am Eingang der Turnhalle, ließ mir vom apokalyptischen Schneesturm die Haare versauen und wartete darauf, ins Foyer zu gelangen, wo die Security im Schneckentempo die Ausweise kontrollierte.
Vor uns in der Schlange standen seine Freunde. Ausgerechnet. Leon und Hannes drehten sich um und begrüßten mich. Ich fragte mich, wo er wohl war, ob er schon da war oder noch kam, aber ich verkniff es mir, die Jungs zu fragen. Sie hätten nur blöde Kommentare gebracht.
Innen war es schon ziemlich voll, aber die Halle war übersichtlich, und ich suchte und suchte, und fand ihn nicht.
„Suchst du ihn?“ fragte mich Sophia.
„Nein.“ Ich lachte schrill. „Ich wünschte, ich würde ihn nie wieder sehen.“
Ich wünschte, du würdest hier sein. Jetzt.
„Ach Süße.“ Sie ließ ihre Hand meinen Rücken hinunter gleiten. „Das tut mir so Leid. Das wird schon wieder gut.“
„Ich weiß.“
Wir gingen an die Bar. Es war so streng, dass wir mit ach und Krach einen Hugo bekamen.
„Auf uns!“ rief Marla, und wir stießen an. Es prickelte, erst auf meiner Zunge, dann in meinem Magen. Es war zu süß.
„Nachher ist bestimmt noch mehr los.“ meinte Sophia. „He, da sind Leon und Hannes!“
Zu fünft tanzten wir zu „All the single ladies“. „Darfst du da überhaupt mitsingen?“ fragte Hannes. Es war nur Provokation, und ich hasste das, aber anstatt etwas Geistreiches zu kontern sagte ich: „Weißt du wo er ist?“
„Ich habe ihn den ganzen Abend noch nicht gesehen. Willst du mit ihm reden?“
„Ich will in Deckung gehen, sobald ich ihn sehe.“ informierte ich ihn.
Falsch falsch falsch. Wieso konnte ich anderen nie die Wahrheit sagen?
Wieso brachte ich die richtigen Dinge nie über die Lippen?
Die nächste Runde spendierte Leon. Die übernächste Hannes.
Er tauchte nicht auf.
Hannes und Leon entdeckten derweil die anderen Jungs ihrer Stufe, wanken uns zu und verschwanden im Getümmel. Von meinem Platz aus sah ich alle anderen Jungs, aber nicht ihn. Er hatte gesagt, das er kam. Er hatte es zu uns allen gesagt.
Da entdeckte ich ein paar Meter weiter Lara, seine beste Freundin. Ich konnte sie noch nie wirklich leiden, obwohl ich dazu eigentlich keinen zumindest handfesten Grund hatte.
Sie war nur immer so hochnäsig und besonders und glitzernd. Neben ihr fühlte ich mich wie ein winziges, graues Mäuschen.
Aber heute war sie nicht wie sonst, im Gegenteil. In ihrem Blick lag Unruhe und Panik. Ihr Freund war weg.
Plötzlich begann sie zu weinen und schrie ihren Freundinnen etwas ins Ohr. Sie wirkten bestürzt, und dann drückten sie sich durch die Menge und verschwanden.
Hannes und Leon fehlten auch. Irgendwie waren alle genau da, wo ich mich hinsehnte: vom Erdboden verschluckt. Irgendwo im nirgendwo.
Und trotzdem irgendwo bei ihm.
Sophia und Marla berieten, wen sie fragen könnten, ob er uns Wodka-O holte. Ich wollte nichts mehr trinken, das süße Hugo-Zeug reizte meinen Magen, und irgendwie war mir schlecht.
Ich war so dumm, so dumm, so dumm.
Ich war auf diese Party gekommen, weil Sophia und Marla mich überredet hatten, weil sie gesagt hatten, dass wir ihm aus dem Weg gehen würden und ihm nicht begegnen mussten.
Jetzt stand ich hier und wollte nichts mehr, weil er mir fehlte, und weil ich ihm so dringend sagen musste, dass mir dieser ganze Scheißstreit leid tat. Vermutlich lag es am Alkohol, dass ich so aufbrauste. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, sonst stand ich in einer halben Stunde auf der Bühne und offenbarte meine Liebe zu ihm durchs Mikrofon, wie es defintiv in „Traumfahrt ins Glück“ der Fall gewesen wäre.
Nachdem Sophia und Marla es geschafft hatten, zwei Oberstufenjungs aus unserer Schule dazu zu bringen, ihnen Wodka-O zu bringen, beschlossen wir, kurz raus auf Toilette zu gehen.
Ich sah es schon, als wir noch in der Halle waren.
Ich sah Leon, Hannes und die anderen Jungs, und wie sie in einem Kreis standen und aufgeregt miteinander redeten. Sie hielten ihre Handys in den Händen, die zitterten, was komisch war bei Jungs. Ich sah, wie blass Hannes war, und wie fassungslos Leon, und dann stürmte ich auf sie zu und rief.: „Was ist los?“
Es hätten so viele Dinge sein können. Eine vergessene Klausur, eine Freundin, die Schluss gemacht hatte, Eltern, die stressten, zu viel Alkohol, zu wenig Geld, aber ich hatte in mir ein Gefühl, das mir sagte, dass es nicht so war.
Hannes sah mich mit großen Augen an. „Er wollte mit dem Auto kommen. Mit seinem großen Bruder und dessen Kumpels.“ „Und?“ fragte ich nur.
In diesem Moment ertönte im Inneren der Halle das schrille Geräusch eines Mikrofons. Die Musik wurde abgedreht. „Liebe Inferno-Gäste, wir müssen euch leider sagen, dass wir das Programm an dieser Stelle nicht mehr weiterführen können. Soeben haben wir erfahren, dass ein Auto mit drei Insassen, das gerade auf dem Weg zu uns war, aufgrund der Wetterlage von der Straße abgekommen und eine zehn Meter tiefe Böschung hinuntergestürzt ist. Dabei sind alle Insassen tödlich verunglückt.“ Tödlich-verunglückt-tödlich-verunglückt-alle-Insassen-Party-Inferno.
„Wir halten es für respektlos, das Programm jetzt einfach weiterzuführen. Die Musik läuft aber weiter.“
Tödlich-verunglückt-tödlich-verunglückt-alle-Insassen-Party-Inferno.
Der DJ spielte 21 Guns.
Sophia und Marla kamen näher.
Hannes nahm meine Hand. Sie war eiskalt.
Ist er tot?
Ist er es nicht?
„Das war er nicht, oder? Das war doch ein anderes Auto.“ sagte ich zu meinen Freundinnen.
Leon rannte aus der Halle. Die Security wollte ihn zurückhalten, weil er einen Becher in der Hand hatte. „Der Becher ist mir scheißegal!“ rief er, und schmiss ihn auf den Boden. Eine rote Flüssigkeit breitete sich aus. Blut. Blutrot.
„Er ist es.“ sagte Hannes.
Something inside this heart has died, sang GreenDay,und : you´re in ruins.
„Er ist tot.“ sagte ich langsam. „Ist er.“ sagte Hannes. „Ich konnte ihm nichts mehr sagen.“ sagte ich.
„Er weiß es auch so.“ „Weiß er nicht.“ „Scheiße.“
Eigentlich wollte ich gar nicht feiern gehen.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.