Wie man einen Zeitsprung macht | Frankreich 2022

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you deserve the world, even if it means giving it to yourself“ – r.h. Sin

Dieses Gefühl sollte einen eigenes Wort haben: mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden, in Dunkelheit und Stille das Haus verlassen, in dem alle anderen noch stundenlang schlafen werden, die leere Stadt vorbeiziehen lassen und die Vertrautheit der Fassaden fühlen, mehr als jemals davor. Die Bahnhofshalle, die Durchsagen und das gleichmäßige, feine Streifen der Zugräder auf den Schienen, das einzige Geräusch, das um 05:54 Uhr die Welt füllt.

Die Welt ruft. Leise und beständig. Sie weiß, dass wir sie manchmal hassen, dass wir alles hassen, aber sie ruft. Und während sie ruft, stelle ich fest, dass etwas in mir antwortet. Ich weiß nicht, was „es“ ist. Ich weiß nicht, ob es mir gehört, oder ein Gefühl ist, das durchsichtig durch die Luft schwebt und sich später im Lärm des anbrechenden Tages, irgendwo zwischen Karlsruhe und Paris auflösen wird. Vielleicht wird das passieren. Aber vielleicht ist das auch nur der Anfang. Der Aufbruch zu einer Reise.

Mittags bin ich in Paris La Défense. Es ist sechs Jahre her, dass ich dort schon mal in einen Fernbus gestiegen bin. Ich wollte meine Freundin in der Normandie besuchen, ich habe die ganze Nacht auf der Fahrt passiert mit einem Student aus Albanien geredet, ich habe meine Kamera im Mc Donalds von La Défense verloren und wiedergefunden. Es kommt mir vor, als wäre alles das vorletztes Jahr passiert, und gleichzeitig bin ich ein anderer Mensch. Wirklich. Ein anderer Mensch. Ich bin leider immer noch 1,59 Meter groß, und das werde ich in zwanzig Jahren noch sein, aber in meinem Kopf, und in meinem Herz bin ich gewachsen. Für diese Momente, für das Zeitspringen an dunklen, dreckigen unterirdischen Busbahnhöfen liebe ich das Reisen.

Der TGV von Karlsruhe nach Paris hat zweieinhalb Stunden gebraucht, der Flixbus von Paris nach Dieppe weitere zwei Stunden, aber eigentlich bin ich in der Zeit gesprungen. In dem kleinen Dorf am Ärmelkanal wartet alles so auf mich, wie ich es 2019 verlassen habe. Der Kater Caramel, Idefix und Espi – die einzigen Hunde, vor denen ich keine Angst habe – die Bäckerei, die Burg auf der Steilküste über Dieppe.

In einer Seitenstraße von Dieppe ist ein Haus fast ohne Vorwarnung eingestürzt. Es liegen dort nur noch Trümmer und Staub. Die Menschen hatten ein paar Stunden Zeit, bevor sie ihr Zuhause verlassen mussten. Wir schauen uns den Unglücksort an. Im Mai vor drei Jahren war ich hier, um mit Marine ihren 18. Geburtstag zu feiern. Wir wollten uns im Sommer wiedersehen, spätestens im folgenden Jahr. Stattdessen hat eine Pandemie eingesetzt, die das Reisen zwischen Frankreich und Deutschland zwar nicht Immer unmöglich, aber äußerst kompliziert gestaltet hat. Deswegen haben wir uns drei Jahre nicht gesehen. In diesen drei Jahren haben Marine in Frankreich und ich in Deutschland ein Studium angefangen und abgebrochen und ein neues angefangen. Ich habe in Freiburg ein neues Zuhause gefunden, sie in Rouen. Mir wird klar, dass sich immer etwas verändern wird, und dass es wahrscheinlich auch immer sinnlos sein wird, dagegen anzukämpfen. Ich bin froh, dass ich mich verändert habe.

Fünf Tage lang habe ich Französisch geredet und irgendwann auch wieder Französisch gedacht, mich von fromage, crêpe und pain au chocolat ernährt und zum ersten Mal das Meer im Winter gesehen. Ich hatte minimal Angst vor Zeynep, Ylenia und Antonia, bis meine Freunde gesagt haben „Aber so ist das jeden Februar hier“, und über die hölzerne Absperrung zum Strand geklettert sind, wo sich mindestens zehn Surfer in die eiskalten Wellen gewagt haben.

Am Anfang war es anstrengend, mein ruhiges, sicheres Leben in Freiburg hinter mir zu lassen und aller Corona-Angst zum Trotz quer durch Frankreich zu fahren, lass dich einfach nicht testen, es wird nichts passieren. (Ich habe mich natürlich trotzdem ständig getestet)

Am Ende habe ich es geliebt. Die Welt, die ich so vermisst habe, ist ein bisschen zurück in mir.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.