Deine 28 Tage zu Besuch | 2022, KAPITEL 2

Kategorien Tagebuch, Weltgeschehen

Es ist wieder Februar.

Die deutsche Pop-Band Ok kid hat 2017 ein Lied geschrieben, das alles beschreibt, was man über diesen Monat wissen muss. Auch wenn dich hier fast niemand vermisst 
Was wär das Jahr bloß ohne dich
?

Der Februar ist kein langer Monat, aber seine Wetterverhältnisse und unvorhergesehenen Ereignisse dehnen die Zeit aus, und während nichts passiert ist, ist alles passiert.

Die ersten 23 Tage erlebte jeder von uns seinen eigenen Februar. Zwischen Regen und Frühlingsgefühlen, zwischen du bist mein gehasster Freund und mein geliebter Feind. Ich glaube nicht, dass ich darüber schreiben möchte, wie ich meine Prüfungen geschrieben und feierlich für zwei Monate die Uni verlassen habe, nur um ein Wochenende später wieder in der UB zu sitzen, oder wie zartbitter das pain au chocolat unter dem Eiffelturm geschmeckt hat, und wie zwischen diesen Momenten tagelang alles gleich war, und ich nie wusste, ob das gut oder entmutigend ist. Ich hab mich entschieden, ich geb auf, auf, dich zu hassen, Februar.

Am 24. Februar greift Russland die Ukraine an, und die Welt verändert sich. Die letzten fünf Tage Februar sind kollektiver Schock, zwischen bewegenden, gruselig nahen Bildern und der maximalen Unvorstellbarkeit des Geschehens. Die Filme, die von den Kriegen des 20. Jahrhunderts handeln und zerrüttete Familien, getrennte Liebende und Aufständischen in dunklen Kellern erzählen – plötzlich ist alles echt. Und fühlt sich trotzdem überhaupt nicht so an. Es ist ein Hin und Her zwischen Mitfühlen und Abschalten müssen, wie es uns sonst zu Boden reißt, zwischen dankbar sein, dass wir in Deutschland leben, und Angst, weil wir in Deutschland leben und uns nicht nicht einmischen können, wenn in Europa Krieg herrscht. In Europa herrscht Krieg. Ich glaube nicht, dass ich das schon verstanden habe.

Am Freitag, den 25. Februar, findet auf dem Platz der Alten Synagoge eine Kundgebung statt. Es sprechen auch Menschen aus der Ukraine, die ihrer Familie nicht helfen können. Am Samstag soll in Freiburg ein Bus mit der Bewohnerschaft eines Kinderheims ankommen. In diesen Momenten bin ich so froh, in Freiburg zu leben, wo so viele Menschen dieselben Grundwerte teilen und zusammenstehen. Am nächsten Tag findet auf dem selben Platz die 349889 Querdenker-Demonstration statt, und ich bin wütender, machtloser, verständnisloser denn je gegenüber Plakaten, die die „Freiheit in Deutschland“ zurückfordern.

Ansonsten ist alles absurd normal. Ich schreibe eine Hausarbeit über den interventionistisch-engagierten Charakter Konkreter Poesie, während in Russland Menschen für den Frieden auf die Straße gehen und verhaftet werden. Ich laufe im Sonnenuntergangslicht vier Kilometer und frage mich, wie es sich anfühlt, die Nacht im Luftschutzbunker zu verbringen. Der Reißverschluss meiner Jacke ist kaputt und es ist immer noch ein bisschen kalt in Freiburg, es nervt – in der Ukraine stehen Menschen bis zu 70 Stunden bei Minusgraden an der Grenze.

Dann denke ich an die Berichte, die erzählen, wie die Menschen in der Ukraine tagsüber zur Arbeit gehen. An die Grenzschützer der Schlangeninsel, der „Russian warship, go f**k yourself“ sagt, bevor die Insel um das Schwarze Meer unter Beschuss steht. „One word to describe our nation is BADASS“, schreiben Ukrainerinnen und Ukrainer in den sozialen Medien. Ich bewundere sie, dass sie die Kraft haben, diese Zeilen überhaupt zu schreiben.

Es ist wieder Februar ist ein Lied über die Gegensätze. Das letzte was ich brauch, das beste was ich hab. Wenn wir von dem Leid erfahren, in dem andere stecken, fangen wir an, unser eigenes Licht in den Schatten zu stellen. Am Freitag nach der Kundgebung feiert meine WG eine Party, darf ich das, darf ich feiern und Spaß haben und das auf Social Media posten? Ich glaube, wir müssen verstehen, dass es zwischen Mitgefühl und der völligen Hingabe einen Raum gibt, in dem wir weiterleben müssen, damit die Welt nicht kippt. Das beste was ich hab – das war diesen Monat die Freundschaft, die nachlassende Kraft des Winters und die Reise nach Frankreich, in der ich mich in Europa zuhause gefühlt habe. Und das beste was ich hab sind auch die letzten Tage Februar mit der Sonne, so absurd sich das Glücklichen dabei angefühlt hat.

Aber wir können nur stark für andere sein, wenn wir unsere eigenen Ressourcen dafür wahrnehmen. Wir können besser mit der Ukraine mitfühlen, wenn wir nachts gut schlafen, weil wir tagsüber etwas schönes unternommen haben. Wir können 20 Euro spenden, und dürfen danach ins Schwimmbad gehen. Das ist die Theorie des Dürfens, aber oft steht uns das Können im Weg, weil diese Nachrichten und Bilder lähmen und zutiefst verunsichern. Im Moment gibt es niemanden, der sagt: Nächste Woche steht die Ukraine nicht mehr unter Beschuss, oder: Es wird keinen Krieg bei uns geben. Und genauso wenig, wie es diese Gewissheit gibt, gilt die Pflicht, genauso zu funktionieren wie sonst immer. Es ist eine Ausnahmesituation. Es gibt wichtigeres auf der Welt als eine perfekt geschriebene Hausarbeit. Gefühle wie die Angst, so unangenehm und quälend sie auch sein mögen, wollen meistens nur gesehen und gefühlt werden. Damit wir das aushalten, ist es wichtig, dass wir uns selbst zugestehen, dass sie da sind und uns vom Tagesplan abhalten, dass wir uns selbst ernst nehmen dürfen. Und das Aushalten wird auch leichter, wenn man mit anderen darüber spricht. Selten haben wir so viele Gedanken, so viele Bilder und Ängste geteilt, wie in diesen vier letzten Tagen Februar.

Das letzte Mal, dass eine kollektive Krise begonnen hat, ist keine zwei Jahre her. Der Februar und der Krieg treffen uns an wunden Punkten, die noch nicht verheilen konnten, weil die Pandemie zu lange keine Entspannung bereithielt. Ich glaube, wir müssen es machen, wie meine Freundin Sherin einmal gesagt hat: „Ich höre auf, diese Zeit als Katastrophe zu betrachten, denn dann vergleiche ich die ganze Zeit, wie es normalerweise wäre, und habe überhaupt keine Energie mehr, durchzuhalten.“ Es mag tausend Mal einfacher klingen als es ist, aber es gilt genauso wie im Januar: There is no way things should be. There is just what is, and what we do. Was wir tun können? Spenden. Zuhören. Uns informieren, aber in einer begrenzten, festgelegten Zeitspanne am Tag, nicht allen einprasselnden Neuigkeiten hilflos ausgeliefert. Mit anderen reden. Ohne schlechtes Gewissen im eigenen, bombenfreien Hier und Jetzt bleiben, ohne zu vergessen, dass Europa eine Gemeinschaft ist, und ein Krieg uns alle betrifft.

Heute ist März. Kiew stand über Nacht unter Beschuss, und ich sitze in der Bibliothek und schreibe eine Hausarbeit über Konkrete Poesie. Mit dem Monatswechsel ändert sich nichts, aber mit dem Monat an sich immer. Im Moment nicht die schönste Vorstellung.

Das war der Februar.

Niemand normales schreibt ein Lied über dich 
Auch dies hier ist nicht mehr wert als das was du für mich bist 
Mit dir tanz ich den Blues so wie jedes Jahr 
Niemand kann das besser als du, Februar.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.