Solange du träumst

Kategorien Kurzgeschichten

Zum dritten Mal in dieser Nacht werde ich davon wach, dass es zu still ist. Der Wecker zeigt vier Uhr dreiunddreißig. Noch zwei Stunden, bis er klingelt. 

Langsam richte ich mich auf und sehe im blauen Licht des Weckers zu, wie du schläfst.  Ich mochte immer, wie du schläfst. Denkst du, das ist die erste Nacht, in der ich neben dir liege, um eine Weile dabei zuzusehen, wie alles Laute, alles was weh tut, langsam zur Decke schwebt und sich im dunklen Zimmer in Luft auflöst, wenn du schläfst? Dein langsamer Atem sagt meinem Herzschlag, dass er aufhören kann, sich zu beeilen. Beim ersten Mal pochte er die ganze Nacht unbeirrt vor sich hin, weil es das Aufregendste der Welt war, dass du neben mir eingeschlafen bist. Jetzt ist es die Angst. 

Wenn du schläfst, nimmst du die ganze weite Welt mit in deinen Kopf. Es ist dann sehr still im Raum, während in deinen Träumen alles passiert. Ich kenne nur den Bruchteil davon, den du mir am nächsten Morgen erzählst. Eigentlich ist es seltsam, wie wir mit den wenigsten Menschen über unsere Träume reden. Beim ersten Kaffee in der Uni erzählen wir uns von den Reisen letzten Sommer, aber was wir in den vergangenen acht Stunden erlebt haben, hat in der echten Welt keinen Bestand. Als wären das gar nicht wir gewesen, sondern die Schauspieler eines Films, der nachts vor unseren Augen auf Leinwand läuft. Und selbst über Filme reden wir mehr als über unsere Träume.

Ich weiß also nicht viel über die Träume anderer Menschen, und deswegen weiß ich auch nicht, ob du der Einzige bist, der alle Träume mehrmals träumt. Du hast deinen Lieblingstraum, und deinen Hasstraum, und den, bei dem dir manchmal die Tränen über die Wangen laufen, und dann halte ich deine Hand, und dann hören sie manchmal auf. Ich weiß, dass du in diesem Traum bei deinem Großvater bist. Er war auch im Krieg. Wie mein Großvater. Sie waren im Krieg. Mein Großvater hat überlebt. Es sind dunkle, schwere Worte, mit denen er uns davon erzählt hat. Ihm zuzuhören fühlte sich an wie heißes, flüssiges Pech, das uns durch die Finger rann, weil wir es nicht auffangen konnten. Diese Nacht und die letzten Tage fühlen sich an wie: heißes, festgetrocknetes Pech vom Boden aufkratzen und selbst in den Mund nehmen. 

Ein paar Regentropfen fallen gegen die Fensterscheiben. Ihr Aufprall auf dem Glas klingt wie Nadeln, die auf einen Tisch fallen. Hoffentlich sind sie zu leise, um dich zu wecken. In schlaflosen Momenten wie diesem wünsche ich mir, mit dir zu träumen. Ich wäre gerne bei dir, wenn du all diese Geschichten erlebst, in denen du manchmal der Held, und manchmal der Verfolgte bist. Das ist das Stichwort für die Angst. Einen Moment lang hält mich ihr eisiger Griff gefangen. Als sie mich loslässt und ich sie mit einem Stoß aus dem Zimmer verbanne, fange ich an, zu frieren. Ich lehne meinen Kopf an deinen warmen Rücken und stelle mir vor, dass wir uns am Ende dieses Tages in unseren Träumen wiedersehen werden. Wenigstens das. Ich schlafe ein bisschen ein. 

In meinen Träumen wartet der erste Abschied noch einmal auf mich.  Heute Mittag, an der U-Bahn-Haltestelle in der Stadt. Wieder und wieder drückte mein Vater mich an sich, sein einziges Kind, mein einziger Vater, Pass auf dich aufPass DU auf dich auf, und auf meinen Freund, Wir passen alle aufeinander auf. Bald sind wir wieder zusammen. Mein Vater hatte dunkle Schatten unter seinen Augen. Sie verrieten, wie viel er heute Nacht geschlafen hatte. Nicht, dass es früher anders gewesen wäre. Mein Vater ist ein seltsamer Maler.Er lässt nicht Tageslicht auf seine Gemälde scheinen, sondern nur Kerzen.

Wenn ich ins Bett gehe, fängt er damit an. Aus dem Wohnzimmer dringt dann leise Klaviermusik nach oben, zwischen den Tönen die sanften Pinselstriche auf der Leinwand, zumindest stelle ich mir das vor, wenn ich einen Stock höher im Bett liege und nicht schlafen kann.  Egal wie wenig Stunden Schlaf er in diesen Nächten findet, wenn ich an meinen Vater denke, sehe ich ihn immer mit leuchtenden Augen am Frühstückstisch sitzen.

Die Bilder meines Vaters erzählen vom Sommer, von bunten Früchten und Sternschnuppen. Einmal hat er das Kyjiw aus seiner Jugend gemalt, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehört hatte. Durch die Mitte des Bildes lief eine feine Achse zwischen wütenden Straßenzügen und strahlenden frisch verputzten Fassaden. Ich weiß noch, wie ich das Bild angesehen habe, und dann aus dem Fenster, und dann war ich froh, an genau diesem Punkt auf dem Zeitstrahl geboren zu sein. 

Letzte Woche hat meinen Vater den Krieg gemalt. Ich glaube, er wollte es heimlich tun, aber ich konnte in der Nacht nicht schlafen, und ich bin genau in dem Moment ins Wohnzimmer gekommen, in dem er den letzten Strich gezogen hat. Der Krieg war eine feuerrote Wolke auf dem blauen Himmel über der Stadt. Sie war nicht groß, aber sie verdeckte die Sonne.

„Denkst du wirklich, wir werden Krieg haben?“, fragte ich. Er sah weg und schwieg. Ich setzte mich neben ihn auf einen Stuhl und gemeinsam betrachteten wir die Wolke. „Wenn es anfängt“, sagte ich langsam, „dann gehen wir weg, oder?“ Er schwieg immer noch. Oder wieder. Irgendwann stand er auf, um seine Pinsel ins Wasser zu legen. „Erinnerst du dich an meine Cousine aus Przemyśl? Du wirst dorthin gehen.“ Ich schluckte. „Und du?“  Er drückte die Pinsel gegen den Boden des Glases und die Farben wirbelten das Wasser auf und machten es trüb. „Sie werden uns hierbehalten. Sie werden alle Männer hierbehalten.“ Mir wurde kalt. Vor meinen Augen wurde die Wolke seines Bildes größer und größer. Bald überdachte sie die ganze Stadt, und dann sprang sie mir ins Gesicht. Ich stand auf und ging vor die Haustür, atmete die eiskalte Nachtluft ein und starrte in den schwarzen Himmel. Ich tat, was ich immer tue, wenn etwas weh tut: ich rief dich an. 

Zehn Minuten später warst du da. Deine Hände auf meinem Gesicht waren so kalt wie die Luft um uns herum. 

Fünf Uhr dreißig. Der Regen hat wieder aufgehört. Angstvoll suche ich in dem Stück Himmel zwischen den Fenstersprossen nach den Anzeichen einer Dämmerung. Es gibt keine. Ein kleines Stück der Nacht gehört noch uns. In den Pausen zwischen deinen Atemzügen ist es still im Zimmer. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass hinter diesen Wänden noch unsere Stadt liegt, und unser Leben, mit der Universität, den Einkäufen fürs Abendessen, der Physiotherapie für dein vom Fußball geschundenes Knie und den Prüfungen in Anatomie, die wir nächste Woche geschrieben hätten. Nichts in diesem stummen, warmen Moment deutet darauf hin, dass es nicht mehr so ist.

Selbstverständlich ist es still, es ist doch mitten in der Nacht.

Aber es nichts mehr selbstverständlich. 

Je leiser die Stille, desto lauter die Sirenen. 

Je dunkler der Himmel, desto heller flackert die nächste Explosion.

Die Angst klopft polternd an den Fensterscheiben. Als würdest du sie hören, wird dein Atem schneller. Dein Arm zuckt, und du rollst dich auf den Bauch. Ich nehme deine Hand, bis du wieder ruhig wirst. Solange du träumst, ist alles noch möglich. Auch nach dem Sonnenaufgang noch. Wenn ich ganz fest daran denke, kann ich dir vielleicht einen schönen Traum schenken.

Ich schließe die Augen und denke an Odessa.  In Odessa gibt es einen großen Leuchtturm. Er ist weiß und rot und man erreicht ihn über einen schmalen Steg aus Stein. Ich sehe uns, wie wir beide dort entlanglaufen. Du warst nur der Junge aus der Parallelklasse, mit der wir die Klassenfahrt unternommen haben. Seit 15 Jahren haben wir beide in Kyjiw gewohnt, aber richtig gesehen haben wir uns 474 Kilometer entfernt am Schwarzen Meer. 

Am Ende des Stegs haben wir uns in Schatten des Leuchtturms gesetzt und den Wellen zugesehen. „So schwarz ist das Meer gar nicht“, hast du gesagt. „Der Himmel ist tagsüber auch noch blau“, habe ich erwidert, und dann haben wir zusammen im Schatten des Leuchtturms darauf gewartet, bis es dunkel und das Meer schwarz wurde. 

Mir ist warm in der Erinnerung, und die Sterne, die wir gesehen haben, verschlucken die Dunkelheit. Dann denke ich: hoffentlich passiert dem Leuchtturm nichts. Und ich bin wieder wach. 

Sechs Uhr. Die Zeit vergeht zu schnell. Vielleicht träumst du gerade den Traum, den du häufig vor dem Aufwachen träumst.Den, in dem du deine erste eigene Operation gemeistert hast. Schon seit dem ersten Tag im Studium hast du davon geredet, wie du mit Ärzte ohne Grenzen nach Somalia fliegen möchtest, um dort den Menschen zu helfen, die unter den sinnlosen Kriegen ihres Landes leiden. Wegen dir habe ich verstanden, was für ein Glück wir hatten, in Europa geboren zu sein. Seit der Klassenfahrt in Odessa sind wir oft weggereist, ein fliegender Wechsel von Grenzen, die keine Grenzen mehr sind, Polen, Kroatien, Italien, Lettland.

Jetzt ist Europa weit weg.

Bis zur polnischen Grenze nach Przemyśl sind es sieben Stunden und fünfzig Minuten. Ich weiß, dass ich in diesen Zug einsteigen werde, aber weißt du, wegen dir würde ich auch in unserem neuen, alten, von den Geistern der Geschichte zerfressenen Land bleiben, wenn du mich lassen würdest. 

Wieso bist du volljährig? Wieso macht dich deine Knieverletzung nicht kampfunfähig, wieso reicht einem Diktator ein Land nicht aus, wieso war niemand von uns vorbereitet auf das Gefühl, das man hat, wenn man in einer anderen Welt aufwacht, einer, in der man Stille nicht vertrauen kann? Ich kann dich nicht festhalten und dann loslassen, ohne dass ich weiß, wann wir uns wiedersehen. In meinem Kopf windet es, Worte fliegen durcheinander, was werde ich sagen? Gibt es Worte, die das halten können, was es bedeutet, dich gehen zu lassen, viel eher, mich gehen zu lassen und dich hier zurück? Ich werde dich küssen. Ich werde dich so lange küssen, und so wenig daran denken wie möglich, wann ich es das nächste Mal tun werde, weil mir das das Herz zerreißt. Direkt auf dem Bahnsteig. 

Ich glaube, dein Herz ist stärker als meins. In jener Nacht unter der roten Wolke, als wir noch immer draußen saßen und zwischen unseren Händen und der kalten Luft keinen Unterschied spürten, habe ich dich zum ersten Mal gefragt. „Hast du Angst?“ Die Stadt wurde noch ein bisschen stiller. Du hast den Blick nicht vom Himmel über den Häuserzeilen genommen, sehr lange, und irgendwann hast du geflüstert: „Ich würde so gerne nein sagen.“ Du meintest nicht den Wehrdienst. Nicht die Aufforderung unseres Landes, für uns zu kämpfen. Es ist nur deine Angst, die du nicht mehr spüren willst. Und ich wünschte, ich könnte es für dich tun.

Sechs Uhr fünfzehn. Einen Sonnenaufgang gibt es nicht, die Wolken werden nur hellgrauer. Die Gespensterstille bleibt. Als wären wir die einzigen in diesem großen Haus, die noch da sind. Morgen um die Zeit bist es nur noch du. Allein mit deiner Angst und den Büchern, meinen Pflanzen und den Fotografien, die ich zurücklasse. 

Ich denke an das Meer in Odessa, das nicht immer schwarz ist, nur nachts, ich denke an den leeren Hörsaal und deinen Lieblingstraum, ich denke an den Bahnhof in Przemyśl und den Tag, an dem der Alptraum vorbei ist und wir uns wiedersehen, ich denke daran, wie alles Laute, alles was weh tut, langsam zur Decke schwebt und sich im dunklen Zimmer in Luft auflöst, wenn du schläfst, und bitte hör nie auf zu träumen, und dann muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als der Wecker klingelt, und du aufhörst zu träumen, und meine Hand hälst, pocht mein Herz wie wild und es dauert einen Moment, bis ich wieder weiß, was heute für ein Tag ist.

Es ist sechs Uhr dreißig. 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.