Rennen und Stehenbleiben | 2022, KAPITEL 3

Kategorien Kurzgeschichten

Worin liegt der Sinn von Monatsrückblicken? Im Zurücksehen generell? In einer Welt, in der es vor allem ums Vorwärtsrennen geht, wieso trauen wir uns, uns mitten in dem Strom aus Menschen noch einmal umzudrehen? Vielleicht aus einem einfachen Grund: um zu sehen, wie weit wir gekommen sind.

Vor 31 Tagen habe ich hier geschrieben: Mit dem Monatswechsel ändert sich nichts, aber mit dem Monat an sich immer. Im Moment nicht die schönste Vorstellung. Das war die poetische Übersetzung für: ich habe verdammt Angst, worüber ich im nächsten Monatsrückblick schreiben werden muss.

Ende Februar ist in der Ukraine ein Krieg ausgebrochen. In dem anfänglichen Schock war Alltag etwas absurdes, und die Angst vor dem ungewissen Fortschreiten der Geschehnisse lähmte uns so sehr, dass jeder andere Gedanke irgendwie belanglos war. Damit begann der März und es passierte – nichts.

Es kommt mir sehr falsch vor, das zu sagen. Natürlich ist etwas passiert. Seit über einem Monat passiert jeden Tag etwas, das nie hätte Wahrheit werden dürfen. Nur eben immer noch nicht bei uns. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht erleichtert wäre, und das nicht mehr jeden Morgen mein erster Gedanke dem Krieg gilt. Das Leben ist sehr schnell wieder sehr normal geworden. Das ist auf einer Seite absolut gut so, denn wir können eben nicht durchgehend im Krisenmodus leben und vor Angst wachliegen. Das hilft keinem. Auf der anderen Seite führt die Alltäglichkeit dazu, dass ich nicht mehr auf Ukraine-Kundgebungen gehe und manchmal tagelang keine Nachrichten ansehe. Es ist genau das passiert, wovor ich am Anfang Angst hatte: dass sich der Ukraine-Krieg nahtlos in den Reigen der ungelöst vor sich hinschwelenden Probleme einreiht, ein Hintergrundgeräusch, das unangenehm im Ohr sirrt, aber irgendwie ja auch schon dazugehört. Tragisch, aber nicht zu ändern. Mit solchen Worten sollte niemals über einen Krieg gesprochen werden.

Vielleicht sollten wir diesen Moment als Chance sehen: unsere eigene Gefühlslage hat sich beruhigt, wir gehen wieder unserem Alltag nach, und haben vielleicht gerade deswegen die Kraft, noch einmal Geld zu spenden, zu Kundgebungen zu gehen, Geflüchteten zu helfen. Für alle Freiburger: Das „Einlädele“ sammelt weiterhin täglich Sachspenden, nähere Informationen findet ihr hier.

With that said: auch mein März war wieder viel Alltag. Ich sag’s wie’s ist: mir ging es oft nicht gut. Aber trotzdem habe ich viele schöne Dinge erlebt, die mir hoffentlich auch genauso in Erinnerung bleiben werden. Ich habe meine Hausarbeit zu Ende geschrieben, bin so oft wie möglich laufen gegangen und habe als Hiwi Kaffee gekocht – komplette Überforderung übrigens, lass mich eine Arbeitsbibliographie über schreibende Frauen der Frühen Neuzeit erstellen, aber Kaffee kochen? Beinahe unmöglich. Aber man wächst bekanntlich an seinen Aufgaben.

Diesen Monat habe ich mich weiterhin vor allem in einem geübt: dem Loslassen. Loslassen von der Version meines Lebens, die mein schriftstellerisch ambitioniertes Ich in meinem Kopf vor sich hinschreibt. Loslassen von Nordsommer, meinem zweiten Roman-Manuskript, von dem ich momentan jeden Satz ein letztes Mal lese, bevor ich es vorsichtig in die Welt der Literaturagenturen hinausschicke. Und loslassen von einem Mitbewohner, der für mich ungefähr so sehr zu meinem Zuhause gehört wie mein Bett oder das Spülbecken – weil er immer schon da war. In den letzten Tagen, die wir alle zusammen verbrachten, war ich durchgehend hin und hergeworfen zwischen Traurigkeit über eine so tiefschneidende Veränderung und der Dankbarkeit, dass die Zeit, die mit dem 31. März zu Ende geht, zu meinem Leben gehört. Die Erinnerung daran wird mich immer prägen. Deswegen mag ich Worte so: sie bleiben auch noch, lange nachdem sie zum ersten Mal ausgesprochen wurden. Toby, falls du das liest: danke, dass du mich zu einem Bierpong-Monster gemacht hast. Und für alles andere auch.

Zurück zum Ziel eines Monatsrückblicks. Wie weit hat mich der März gebracht? Nach reiflicher Überlegung (so reiflich, wie man am 31. März um 23:59 Uhr noch überlegen kann) sage ich: es geht vielleicht doch nicht immer ums vorwärts kommen. Es geht auch um den Wegrand, und was uns von dort aus aufhält.

Ich bin vielleicht viel stehengeblieben, um Abschied zu nehmen und Kraft zu sammeln.

Aber ich kann es auch kaum erwarten, wieder zu rennen. In den April, gegen die Angst, gestärkt von der Hoffnung und mit ein paar guten Worten im Kopf.

Ich glaube, das könnte reichen.

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Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.