Am Ende der Angst | 2022, KAPITEL 4

Kategorien Tagebuch

Heute habe ich einen Essay über die Erzählperspektive in Theodor Fontanes Roman Effi Briest geschrieben, und was soll ich sagen, vier Seiten Interpretation sind mir leichter gefallen als ein paar Sätze über mein Leben in Kapitel 3. Ich sehe zurück auf die 30 Tage, auf die es verteilt ist. Jeder von ihnen war wie ein Jahr.

Ein bisschen übers Wetter reden

Was ich am April generell mag: er färbt die Welt. Hellblau, rosa, grün, wo man hinsieht. Na gut, am 02. April diesen Jahres hat es geschneit. Und am dritten auch. Aber am vierten April hat die Sonne geschienen. Ich habe Stunden damit verbracht, nur dabei zuzusehen, wie selbst die grauen, wolkenvollen Tage leuchtender geworden sind. Auch in mir drin. Am liebsten würde ich immer im Frühling leben. (Dasselbe denke ich übrigens auch über die Jahreszeiten Sommer, Herbst und Winter, wenn es nach langem Warten soweit ist, und ich glaube es ist ein ziemliches Privileg, nicht in einem Tageszeitenklima zu leben)

Am Ende Europas

Am 07. April ist etwas passiert, von dem ich lange nicht mehr geglaubt habe, dass es wirklich wahr wird: ich bin mit meinen besten Freunden nach Zypern geflogen. Nach all den Versuchen, bei denen das Leben dazwischengekommen ist, war dieser Flug ein Wunder. Und ein großes Geschenk. Wir haben fast eine ganze Insel, die drittgrößte im Mittelmeer gesehen. Wir haben die Heimat unserer Freundin Elsa kennengelernt, nächtelang gesungen und Bierpong auf dem Esstisch gespielt. Jede zyprische Haloumi-Spezialität war die absolute Erfüllung. Ich habe erlebt, was es heißt, in einem geteilten Land zu leben und wie es sich anfühlt, eine besetzte, von UN-Kräften überwachte Zone zu betreten. Wir fünf konnten über alles reden: schwere und leichte Worte. Bei jedem der vier Flüge habe ich beim Abheben Shots von Imagine Dragons gehört (das allerbeste Lied, um die Energie eines sich in die Luft erhebenden Flugzeugs zu spüren). Ich habe die Sonne auf- und untergehen sehen.

Zypern liegt am Ende von Europa. Je länger ich dort war, desto näher kam ich meinem ganz eigenen Ziel: dem Ende der Angst.

Die Wellen von Kourion

Am dritten Tag auf Zypern waren wir am Strand von Kourion. Das Meer war aprilkalt und wurde vom Wind aufgeraut, aber das hielt uns nicht ab. Wir hatten unseren Spaß in den Wellen, aber ich konnte relativ schnell nicht mehr stehen und plötzlich war eine anrollende Welle größer als die andere. Sie kamen schnell und ich merkte, wie meine Kraft, zu schwimmen nachließ (Hauptsächlich, weil ich mich beim Mittagessen zuvor traditionell übergessen hatte). Zum ersten Mal wurde das Meer ein grau-blaues Ungetüm, vor dem ich Angst hatte. Und dann passierte etwas, womit mein pessimistischer Kopf gar nicht mehr gerechnet hätte: ich schaffte es. Ich kam an Land, indem ich vor immer und immer wieder Luft holte und mich nach oben stieß und mir selbst vertraute. Vor jeder neuen Welle kam die Angst, und dann wurde sie im Keim erstickt, weil ich wusste, dass ich es schaffte.

In den folgenden Tagen fiel mir plötzlich auf, wie oft ich eigentlich in meinem Leben dachte „Oh Gott, das halt ich nicht aus“. Dabei halte ich es jedes Mal aus. Natürlich tue ich das. Weil ich es kann. Und so haben die Wellen von Kourion mir das gegeben, was mir vielleicht lange Zeit gefehlt hat: das Vertrauen, dass ich es schaffen kann. Alles.

Sechs Tage später sprangen wir am weißen Governors Beach von einer Klippe. Um für Klarheit zu sorgen: die „Klippe“ war ein Stein, höchstens zwei Meter über dem Meer, in denkbar naher Entfernung zum Ufer. Aber die Tabitha vom März wäre niemals gesprungen. Die Tabitha vom April hat es geschafft.

In meiner Erinnerung wird nichts von Zypern vorbeigehen. Ich schenke dieser Reise einen kleinen Platz in mir, an den ich zurückkehren kann. Dann bin ich wieder im windigen Senkrecht-Start auf dem Flug nach Thessaloniki, überstehe das wilde Meer, sitze mit meinen Freunden im Sprühnebel der Caledonia-Wasserfälle und springe von einer Klippe ins Meer. Auch wenn sie vielleicht keine Klippe ist.

Das Lied des Achill

Zypern ist übrigens auch der Ort, an dem vor langer Zeit die Götter des Olymps ihre Genitalien verloren haben, woraus dann Aphrodite entstanden ist. Nur falls ihr das noch nicht gewusst haben solltet. Geschichten wie diese haben mich auf die Idee gebracht, mir für diese Reise den Roman The Song of Achilles von Madeline Miller als Begleitung zu wählen. Und das, obwohl ich gar kein TikTok habe (woran ich übrigens merke, dass ich alt werde). Abgesehen davon, dass an Tag 3 der Reise das halbe Buch aus losen Seiten bestand, die ich fortan sorgsam zusammenhielt (ich schiebe alle Schuld auf den Meerwind), habe ich mich selten so sehr, so rasend schnell und so tief in eine Geschichte verliebt wie in die von Patroklos und Achill. Wenn ihr das Buch noch nicht gelesen habt – tut es. Und lest das Ende auf gar keinen Fall auf einem Marktplatz mitten in Südtirol. Ich habe gehört, das ist nicht so empfehlenswert.

Tornata in Italia

Der Logik meiner Rubbel-Weltkarte folgend, nach welcher ich auch schon die ganze Türkei freigelegt habe, weil ich eine Nacht am Flughafen von Istanbul verbracht habe, war ich diesen April zwei Mal in Italien. Einmal auf unserem Rückflug von Zypern über Rom, und einmal mit meiner Familie in Südtirol. Beides zählt möglicherweise nicht wirklich (mir war nicht klar, WIE deutsch Südtirol ist), aber beides Mal dachte ich auch: Das ist das Land, in dem ich bald lebe. Und diese Vorstellung ist so schön, dass sie mich zum Glück etwas über die Stapel bürokratischer Vorbereitungen hinweg trägt (Ich bin seit neuestem stolze Besitzerin einer italienischen Steuernummer, und auch sonst ist Erasmus-Vorbereitung echt spannend). Die Zeit mit meiner Familie in einem kleinen Dorf namens San Vito (das Dorf war natürlich auch drei Kilometer von unserem Hof entfernt) war trotz ausbleibender italienischer Konversation wunderschön. Nur eine kurze Frage am Rande: wie schaffen es Alpen-/Dolomitenbewohner, mehr als 2 Kilometer laufen zu gehen, ohne dass ihnen die Muskeln den Dienst verweigern?

Semesterstart

Ein bemerkenswertes Detail an dieser Stelle: ich studiere noch. Oder wieder, nachdem das die letzten zweieinhalb Monate nicht gerade den Anschein erweckt hat. Mit dem neuen Semester ist es auch immer so eine Sache. In dem Moment, in dem es einsetzt, hat man sich eigentlich gerade völlig daran gewöhnt, sein Leben anderen Projekten zu widmen, und völlig irritiert fragt man sich, wo genau da jetzt noch Veranstaltungen mit bis zu 30 ECTS Platz haben sollen. Gut, ich gebe zu: bei mir werden es nur 24. Und der Semesterstart diesen April war wahrscheinlich der schönste, den ich je erlebt habe. Alle sind wieder zurück. Alle Veranstaltungen sind in Präsenz. Bisher mag ich jede davon, auch die mit Effi Briest. Bin ich froh, dass ich nicht ihr Schicksal habe. Sondern mein Leben. Das gerade irgendwie einfach gut ist.

Solange wir träumen

30 Tage April waren 30 Tage in der Hölle für viele Menschen auf der Welt. Menschen in Dunkelheit, Hunger und Krieg. Nicht nur, aber auch in der Ukraine. In diesem Monat habe ich meine Gedanken an die Situation verarbeitet, indem ich meine Kurzgeschichte von März noch einmal überarbeitet und verlängert habe. Es war eigentlich nur ein Uni-Projekt, aber es war auch mehr als das, und wenn ich mir eins wünsche, dann dass ich es bald nicht mehr tun muss. Geschichten schreiben über etwas, das wirklich passiert.

Die Geschichte vom April ist fast vorbei. In zwei Stunden fängt eine neue an. Viel nehmen wir mit, manches freiwillig, manches zwangsläufig. Seit ich denken kann, ist der Mai mein Lieblingsmonat. Kein Druck an dich, Mai, aber ich hoffe, das bleibt so. Ansonsten ist es wie mit den Wellen von Kourion: durchatmen und über Wasser bleiben.

Weil wir es können.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.