Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sende dir liebe Grüße aus meiner Coronacation. Die Insel hier ist ganz nett. Seltsam vertraut, als hätte ich schon Jahre auf ihr verbracht, aber man entdeckt doch immer wieder etwas neues. Manchmal ist es etwas einsam, außer man trifft auf andere Urlauber. Dann fühlt sich alles ein bisschen nach Abenteuer an. Wann ich zurückkomme? Ich weiß es noch nicht genau.
An manchen Tagen denke ich: diese Insel hat ja nichts zu bieten, außer ständige Ruhe, stapelweise Bücher und ein paar Blumen. An anderen Tagen denke ich: aber das reicht ja auch.
Alles beginnt und endet mit einer dünnen Linie. Dünne Linien haben in den letzten paar Monaten erheblich an Bedeutung gewonnen. Vor allem, wenn wir zwei davon sehen, und nicht gerade in freudiger Erwartung einen Schwangerschaftstest begutachten. In Zeiten von Sars-Cov-2 und Antigen-Schnelltests bedeuten zwei rote Linien vor allem eines: Corona positiv. Und war das nicht das, was wir seit zweieinhalb Jahren mit diversen Kontaktbeschränkungen, fancy Events wie Lockdown lights und Masken in allen Formen, Farben und Filtereinsätzen vermeiden wollten?
In der deutschen Sprache ist indessen eine lexikalische Lücke entstanden, für das Konglomerat an Gefühlen, mit welchem wir einer Corona-Infektion begegnen: ängstlich, befürchtend, neugierig, erwartend, ignorierend – und je nachdem vielleicht sogar erhoffend. Das zumindest war meine emotionale Achterbahnfahrt der letzten zwei Jahre. Euch muss ich das nicht erzählen. Dieser Blog hat sich auf beängstigende Weise zu einer Dokumentationsplattform diverser Corona-Dramen entwickelt. Deswegen nur so viel: nach sechs unnötigen weil negativen Quarantänen, einem falsch positiven Schnelltest und um die hundert Nervenzusammenbrüchen war am 02. Mai 2022 der große Tag gekommen: ich wurde positiv auf Corona getestet.
Ankunft auf Coronacation
Wie gesagt, es begann mit einer sehr dünnen Linie. Auf die ich aber sehr stolz war, nachdem ich die letzten zwei Jahre immer daran vorbei geschrammt war. Dass in Zeiten von Omikron gleichzeitig mit mir wahrscheinlich noch um die 150 000 andere Einwohner unseres Landes infiziert waren, und ich damit so gar keine special snowflake mehr war, vergaß ich kurz. Auch für dieses Gefühl gibt es irgendwie kein Wort: aufgekratzt, etwas besorgt weil ich diese Krankheit immer noch ernst nehmen will, – und unendlich erleichtert. Die letzten Wochen als nicht-Genesene im Schlachtfeld von Omikron haben sich ungefähr so angefühlt wie beim Völkerball-Spiel in der Schule. Nach und nach werden alle vom Ball getroffen und müssen das Spiel verlassen und mit jedem Kind weniger wird es ein bisschen ungemütlicher auf dem Feld. Oder so ähnlich. Endlich war ich auch bei den coolen Kids am Rand! Ich absolvierte frohlockend meinen letzten PCR-Tests (dachte ich) und begab mich auf den nächsten Flug nach Coronacation. Oder – etwas weniger romantisiert -in mein 12-Quadratmeter-Zimmer, ab in die siebte Einzelquarantäne fernab von meiner Stockwerksgemeinschaft und der Welt.
Fakt ist: Quarantänen werden nicht cooler, je mehr von ihnen man erlebt. Man wird nur besser darin, seine Struktur zu bewahren und nur noch alle zwei Tage statt jeden Tag durchzudrehen. Fakt ist aber auch: diese Quarantäne hat sich wenigstens gelohnt – und wurde zu der schönsten von allen.
Die anderen Urlauber
Das (einzig) Gute an einer um sich greifenden Corona-Welle: man schwimmt höchstwahrscheinlich nicht allein darin. Deswegen hier ein wertvoller Tipp: steckt euch einfach gemeinsam mit euren Freunden bei einer Party an! Es lohnt sich!
Ich hatte noch keine 24 Stunden Corona, und mir war schon langweilig. Also gründete ich eine WhatsApp-Gruppe mit allen Freunden aus dem Wohnheim, von denen ich wusste, dass sie auch Corona hatten. Am Anfang waren wir zu fünft, dann zu sechst. Diese Gruppe ist wahrscheinlich das Äquivalent zu spontanen Urlaubsbekanntschaften in einer Strandbar: zusammengewürfelt aus allen möglichen Stockwerken, noch nie in dieser Konstellation aufeinander getroffen – und plötzlich sehr vereint. Weil es uns zum Glück (wieder) einigermaßen gut ging, konnten wir viel Zeit miteinander verbringen. Natürlich nicht, ohne uns zuvor kurz verständigt zu haben, dass man vermutlich nicht zwei Corona bekommen kann. Auf keinen Fall haben wir dabei unsere eigenen vier Wände verlassen um an der Dreisam oder im Garten des Wohnheims die Maisonne zu genießen. Wir haben Blumen gepflückt, CT-Werte verglichen und uns einmal pro Tag unsere Tests gezeigt, um uns gegenseitig zu versichern, dass die zweite Linie auf jeden Fall schon viel blasser geworden ist. Was man halt so macht.
Ich weiß noch, wie ich an einem Morgen während meiner halben Stunde Küchenzeit Blätterteigstangen mit Haselnuss gebacken habe. Wir wollten danach zusammen brunchen, und ich hatte es schon eilig, und plötzlich habe ich inne gehalten und gedacht: „Verrückt, ich habe ja noch ein Leben“. Das Gefühl der bisherigen Quarantänen, dass mein Leben mit allem, was ich sonst liebe, plötzlich auf Pause gedrückt wurde, war weg. Stattdessen hat mir das Leben eine kleine Corona-Gang geschenkt, ältere und neue Freundschaften aufleben lassen und mir gezeigt, wie viel weniger schlimm alles ist, wenn man nicht allein ist.
Mittlerweile sind alle außer mir wieder aufs negative Festland zurückgereist. Das Gute ist: Freunde sind wir ja immer noch. Und ich hoffe, ich nehm dann das nächste Flugzeug zurück zu euch 🙂 Danke für eine unvergessliche Woche.
Die Insel, die nicht einsam ist
Wenn man eine meldepflichtige, hochansteckende Krankheit wie Covid-19 hat, sollte man vor allem eins nicht tun: Menschen sehen. Und so habe ich, abgesehen von den Treffen mit den anderen Corona-Leuten, sehr viel Zeit mit mir allein verbracht. Was mir am Anfang Angst gemacht hat – meine Gedanken und ich pflegen eine klassische Hass-Liebe-Beziehung – wurde zu einer großen Kraftquelle. Ich war lange nicht mehr so bei mir selbst, wie in dieser Zeit. Und es war nicht mehr gruselig. Das habe ich gemerkt, als ich am dritten oder vierten Tag aufgehört habe, mir ständig Podcast-Folgen oder YouTube-Videos reinzuziehen, nur um die Stille mit mir selbst zu übertönen. Stattdessen habe ich mir zugehört. Und ich hatte viel zu sagen. Eine Quarantäne und eine Reise haben vor allem eins gemeinsam: die Distanz zwischen einem selbst und der Welt, von der man normalerweise umgeben ist. Mittendrin hat man weniger Überblick als von oben. Da saß ich also, umgeben von meiner schillernden Schutzblase, und habe mich zum ersten Mal seit langem ehrlich gefragt: was stört mich? Was tut mir gut? Was vermisse ich, und was fehlt mir überhaupt nicht?
Ein kleines grünes Virus und eine Woche Quarantäne haben mich glücklicher sein lassen als ich es monatelang davor war. Nach ungefähr sechs Tagen hatte ich plötzlich Angst davor, mit meinem ersten negativen Test zurück ins Leben katapultiert zu werden. Das war ein wichtiger Moment. Weil ich daraufhin begriffen habe: ich brauche keine Quarantäne, um Zeit mit mir selbst verbringen zu dürfen. Ich brauche kein ansteckendes Virus, um Verabredungen abzusagen, wenn sie mich stressen. Und: ich muss nicht krank sein, um mir Ruhe zu erlauben.
Urlaub von der Hustle Culture
Es ist nichts Neues: wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wie sehr mich das eigentlich beeinflusst, habe ich erst verstanden, als mit meinem positiven Test und dem Husten plötzlich eine Erleichterung einherging. Ich durfte ausschlafen. Ich durfte im Bett liegen. 12 Minuten Kochsalz-Inhalation waren pure Meditation. Hätte ich mir alles das ohne die Diagnose „Corona“ und die staatlich angeordnete Quarantäne erlaubt? Ich glaube nicht. Ich wäre jeden Tag zur Uni gegangen. Meinen ersten positiven Corona-Test habe ich nur vorsichtshalber gemacht, weil ich ein bisschen Halskratzen hatte und eigentlich zum Sport wollte. (Na gut, und weil ich ein Test-Junkie bin, wie wir alle wissen). Ich will das gar nicht auf die böse, böse Gesellschaft schieben, die uns in den Leistungsgedanken treibt. Tut sie, aber wir lassen es halt auch zu. Und ich weiß, dass ist eine privilegierte Sicht, weil ich Studentin bin und nur selbst für meine Vorlesungen verantwortlich bin, und meinen Nebenjob auch gut und gerne nebenher vom Bett aus ausüben könnte. Nicht jeder hat leider die Chance, einfach mal krank zu sein. Viele laufen mit einer Gleichung in ihrem Kopf herum, die sagt: du bist, was du leistest. Und diese Vorstellung, die mir selbst sehr vertraut ist, macht mich traurig.
Jetzt stelle ich mir jedenfalls ein paar Fragen. Über mich und mein Leben, und ob ich vielleicht in Zukunft auch ohne Corona ein, zwei Mal öfter ausschlafen kann.
Der Rückflug
Was der Urlaub so an sich hat: er geht vorbei. Coronacation ist eine Ferieninsel, mehr nicht. So schön ihre Blumen und ihre Idylle ist, ich kann nicht für immer bleiben. Das Leben wartet, erst recht jetzt, wo ich so viel neuen Mut gesammelt habe, es wieder zu leben.
Und mein Test so: nein.
Es ist Tag 10, und wie gesagt, alles beginnt und endet mit einer dünnen Linie. Die leider immer noch nicht von meinen Teststreifen verschwinden will.
Rechtlich gesehen darf ich schon seit 5 Tagen wieder fröhlich draußen herumlaufen, aber das sagt sich leicht, wenn man in einer 19-köpfigen Stockwerksgemeinschaft lebt und Freunde treffen will, die überraschender Weise kein Interesse an einem Ausflug auf eine einsame Insel haben. So sitzen mein übereifriges Verantwortungsgefühl und ich weiterhin in Quarantäne, zumindest bis das Ergebnis des zweiten PCR-Tests von heute Morgen da ist und mir hoffentlich einen CT-Wert über 30 offenbart. Meine Koffer fürs Festland sind längst gepackt. Mit den Blumen von der Dreisam, vielen schönen Worten, die ich hören durfte, Erinnerungen, die ich nie vergessen werde – und hoffentlich ein bisschen Immunität.
Coronacation ist zwar eine wunderschöne Insel, aber es gibt da noch ein paar Orte mehr auf der Welt. Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen .
Ich hoffe, diese Postkarte kommt an, liebe Grüße und bis bald. Deine Tabitha
PS: Vielleicht liest du das gerade und befindest dich in einer ähnlichen Situation, vielleicht an einem anderen Strand auf der Insel. Ich hoffe, dann konnte dich diese Postkarte ein bisschen aufmuntern und deinen Blick auf die schönen Seiten einer solchen Zeit lenken. Aber vielleicht hasst du auch alles, und es geht dir nicht gut, und auch das ist vollkommen in Ordnung. Eine Quarantäne muss kein inspirierender Selbstfindungstrip sein. Corona ist und bleibt eine Krankheit, die uns das Leben schwer macht. Das Wichtigste ist, dass du sie überstehst. Gute Besserung.