Alles neu | 2022, KAPITEL 5

Kategorien Tagebuch

Die Redewendung „Alles neu macht der Mai“ stammt aus dem Jahr 1818 und ist Teil eines Gedichts über den Frühling. Hermann Adam von Kamp schildert darin, wie im Mai die Natur zum Leben erwacht und sämtliche verschiedenen Pflanzen zu blühen beginnen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mein Mai hat diese Wendung sehr ernst genommen. Auch über die Blüten hinaus.

Welcome to another round of Monatsrückblick! An dieser Stelle: DANKE – dass ihr jeden Monat wieder da seid. Eigentlich ist es nur mein Leben, und es ist schwer vorstellbar, dass das jemand so lesenswert findet. Wenn doch, freut mich das. Sehr.

Urlaub auf Coronacation oder auch: die Hälfte des Monats

Im letzten Post auf diesem Blog habe ich es am Rande erwähnt: das Wunder ist geschehen, ich habe Corona bekommen. Oder wie mein Vater es formuliert hat: „Manche brauchen einfach länger“. Und weil ich so lange daran vorbei geschrammt bin, hatten Corona und ich dann auch einiges nachzuholen, und ich war fast zwei Wochen positiv. Die erste Hälfte des Monats verbrachte ich somit abwechselnd in meinem Zimmer und am Ufer der Dreisam.

In ihrer Intensität glich die Quarantänezeit eher einem Wirbelsturm als stiller Erholung, und mit den ersten Tagen danach verhielt es sich auch nicht anders. Am Anfang hat es mir wahnsinnig Angst gemacht, ohne meine schützende Quarantäne-Blase zurück in die Welt zu gehen. Wenn ich jetzt zurücksehe- dafür, dass ich nicht durchgedreht bin, für meinen milden Verlauf und die schnelle Erholung. Ich habe das mit der Sportpause vorsichtshalber sehr ernst genommen, aber vergangenen Sonntag war ich zum ersten Mal wieder laufen. Nichts gegen Spazierengehen – aber DAS war ein unglaublich schönes Gefühl.

Du und ich und der Sommer

Wie gesagt – der Übergang zwischen Quarantäne und normalem Leben war etwas abrupt. An Tag 12 meiner Quarantäne ergab mein zweiter PCR-Test, dass ich – trotz positivem Schnelltest – nicht mehr ansteckungsfähig bin. An Tag 13 saß ich in einem völlig überfüllten Zug nach Konstanz, wo über das Wochenende insgesamt 20 000 Festivalbesucher das Bodenseestadion und die Stadt bevölkerten. Corona war auf einmal ganz weit weg. Stattdessen war ich plötzlich ganz nahe an dem Leben, das wir hatten, bevor eine globale Pandemie Zusammenkünfte dieser Art undenkbar gemacht hat. Eine zweistündige Zugfahrt nach Konstanz wurde zu einem Crossover von zwei völlig verschiedenen Leben: meine Heimatfreunde, meine Zeltlagerfreunde und meine Freiburgfreunde, alle an einem Ort.

Kennt ihr das, wenn man erst merkt, wie sehr einem etwas gefehlt hat, wenn es wieder da ist? Ich habe völlig vergessen, wie essentiell für das Wohlbefinden es ist, zwischen Menschenmassen in der Sonne zu stehen und Songtexte zu schreien. Wie es klingt, ist egal, weil die Band auf der Bühne ohnehin alles übertönt. „Es ist SO schön, wieder hier zu sein“, sagt Henning May von Annenmaykantereit, und ich stehe mitten in der Menge – meine Freunde habe ich verloren, sobald ich mich einmal umgedreht habe – und stimme ihm von ganzem Herzen zu. Ich habe jede Sekunde dieses Festivals geliebt. Und das, obwohl ich das Ticket einige Monate zuvor mit dem unguten Gefühl gebucht habe, Geld zu „verschwenden“. Sollte sich jemand von euch gerade in dieser Situation wiederfinden: tut es. Wenn es finanziell irgendwie möglich ist, wenn ihr die Vermutung habt, dass es euch lebendig fühlen lässt: tut es.

Das Leben geht weiter

Die zweite Hälfte des Monats hatte es ziemlich schwer. Gegen eine Corona-Infektion und ein Musikfestival ist ungefähr alles andere langweilig. Mein stressgeplagtes Ich aus dem Wintersemester würde mir den Kopf abreißen, wenn sie das lesen würde, aber ja: 24 ECTS reichen irgendwie nicht aus, um meinen Tag zu füllen. Mein Roman ist endgültig fertig, der Papierstapel der Erasmus-Organisation wird weniger, und irgendwie ist da plötzlich viel Platz. Deswegen übe ich mich gerade darin, das auszuhalten: dass es auch mal ruhig und langweilig sein kann. Und das es völlig legitim ist, dann auch wirklich nichts zu tun. Das Leben geht weiter.

Auch in der Ukraine. Seit drei Monaten ist Krieg. Meine Familie in der Heimat hat in der Zwischenzeit eine Wohnung hergerichtet, in der jetzt zwei junge Frauen aus Odessa leben. Ich habe sie bei der Taufe meiner Cousine kennengelernt. Es ist schwer zu begreifen, wie zwischen meiner großen, heilen Familie zwei Menschen sitzen, die Teile ihrer Bekannten verloren haben und ihr ganzes Leben zurücklassen mussten. Wie sie nicht jeden Moment in Tränen ausbrechen können. Wie das Leben für sie weitergeht.

Dann gibt es noch einen Ort, an dem es schwer vorstellbar ist, dass das Leben einfach weitergeht.

Stromboli brennt

Am Anfang habe ich es nicht richtig verstanden. Ich dachte: der Iddu bricht aus. Keine große Überraschung für einen Vulkan, der sich seiner Spannung seit Jahrhunderten im Minutentakt entledigt. Dafür ist die Insel Stromboli bekannt. Es hat einige Instagram-Storys und Berichte von meinen italienischen Freunden gebraucht, bis ich die Wahrheit begriffen habe: Stromboli brennt. Nicht der Vulkan. Die Insel.

Der Ort, an dem ich 2018 die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht habe, stand plötzlich in Flammen. Vermutlich geriet das Feuer eines italienischen Filmteams außer Kontrolle, wurde von dem südöstlichen Scirocco-Wind weitergetrieben und umfasste rasch große Teile der Südostflanke der Insel. Ich sah von Deutschland aus zu, wie die Flammen das Grün der Insel fraßen. Ich war vollkommen machtlos, etwas zu tun. Ich schrieb meiner Gastfamilie, sie schickte mir ein Foto von ihrem Garten zurück. Damals lag ich stundenlang in diesem Garten im Gras, habe den Eruptionen des Iddus, dem magischsten aller Geräusche, zugehört und die Sterne im Himmel gezählt. Jetzt war der Garten hell erleuchtet von den Flammen wenige Meter dahinter.

In der Nacht, als die wenigen Löschflugzeuge, die die Insel bereits erreicht hatten, nicht mehr fliegen konnten, kämpften die Einwohner gemeinsam mit Freiwilligen aus Lipari weiter gegen das Feuer. Die ganze Insel war auf den Beinen. Bis der Brand schließlich gelöscht war.

Während meiner Zeit auf Stromboli habe ich mit vielen Menschen gesprochen. Ich habe sie gefragt: „Wie könnt ihr auf einer Vulkaninsel leben, ohne Angst vor dem Risiko eines großen Ausbruchs?“ Ich habe immer dieselbe Antwort bekommen. Weil wir es uns ausgesucht haben. Weil wir uns für dieses Leben entschieden haben. Und die Angst ist keine Angst. Es ist Respekt und Ehrfurcht, und eine unbändige Liebe für den Iddu und seine Urgewalt. Und selbst jetzt, wo nicht der Vulkan wütet, sondern menschliche Unachtsamkeit seine Oberfläche angegriffen hat, atmen die Menschen tief durch und sagen: Es geht weiter.

Die Welt auf Stromboli ist grauer als letzte Woche. Die Insel hat viel verloren, aber nicht ihren Herzschlag, nicht ihre unbändige Energie und die Liebe zu ihrer Heimat. Wie durch ein Wunder ist kein einziger Mensch gestorben.

SC Freiburg vor

Um die Reihe an „Es geht weiter“-Erkenntnissen noch zu vervollständigen: auch beim SC Freiburg wird es weitergehen. Auch wenn diese Niederlage wirklich schmerzt. Und ja, ich musste erst ein nervlich äußerst belastendes DFB-Pokalfinale miterleben, um zu begreifen, wie sehr Freiburg still und leise zu meiner Heimat geworden ist.


Noch dreieinhalb Monate. Dreieinhalb Monate, bis ich diese Heimat verlasse, um in mein casa del cuore, nach Italien zu ziehen. Ich sag’s wie es ist: ich habe vor allem Angst. Aber auch so viel Vorfreude auf alles, was kommt. In der Zwischenzeit wartet ein ganzer Sommer auf uns, und ich wünsche uns, dass er wunderschön wird. Voll mit Sonne, und Büchern, und ein kleines bisschen blindes Vertrauen, dass alles gut wird.

DER MAI IN BILDERN

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.