Wenn der Sommer vorbei ist

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Im März diesen Jahres habe ich schon mal geschrieben: 2020 ist sowas wie ein bahnbrecher Kinofilm, mit einer Idee, die laut diversen Rezensionen „brandneu“ und „so noch nie dagewesen“ ist. Die Frage ist halt nur, wer den denn sehen wollte. Und wie viele Zuschauer mit Einsetzen des Special-Effekts „Pandemie“ aus dem Saal gegangen wären. Wer hätte in diesem Chaos an eine Wendung geglaubt?

2020 war von Beginn an so anders, dass es absurd war, wenn etwas beim Alten geblieben ist. Unglaublich, dass es im April wieder wärmer wurde und die Blätter an den Bäumen seelenruhig und in casual grün vor sich hinwuchsen. Auch wenn wir mit dem Annehmen der Kontaktbeschränkungen hart dafür gekämpft haben; als die Infektionszahlen in Deutschland und Baden-Württemberg gesunken sind, als nach und nach Grenzen wieder geöffnet wurden und die ersten Instagramstories von diversen europäischen Stränden auftauchten, war ich erstmal mindestens vier Wochen ungläubig. Äußerst traumatisiert von den Ereignissen im März (von Null auf Kontaktperson in Quarantäne in weniger als zehn Tagen) rechnete ich jeden Tag mit einer neuen Katastrophe.

Aufatmen

Nur langsam gewann ich im Kopf die Gelassenheit zurück, die davor selbstverständlich war: es wird schon nicht morgen die Welt untergehen. Eine Erkenntnis, die mich zwang, auf meine Klasur zu lernen, denn ohne Weltuntergang auch keine Gnadenfrist. So fanden die Anfänge des Sommers hauptsächlich hinter den Scheiben der Wohnheim-Bibliothek oder jenseits des Balkongeländers statt. Zum ersten Mal seit ich denken konnte, machte ich keine Reisepläne. Das Einzige, was noch mehr weh tut, sind nämlich Reisepläne, die zerplatzen. Wenn man sich selbst jahrelang zu einem großen Teil über das Reisen definiert hat, ist das nicht einfach. Aber im Kern liebe ich das Unterwegssein vor allem deswegen, weil es mich wachsen lässt. Und wenn ich jetzt auf den Sommer zurückblicke, hat sich meine Seele doch jeden einzelnen Moment ein Stückchen gedehnt.

Im Juli, als ich mich mit meinen Komilitoninnen regelmäßig zum Lernen verabredete, war die Stadt längst wieder zum Leben erwacht. Dieser Anblick hat mich unglaublich glücklich gemacht (na gut, fünf Minuten, dann war ich wieder gestresst über die wohl vollsten, engsten Gassen Deutschlands). Am 08. August ereignete sich der diessemestrige Höhepunkt meines universitären Soziallebens: eine Klausur mit rund 200 Personen im Audimax. Übrigens dem Hörsaal, in dem auch Jessica Schwarz und Luna Wendler in der Serie Biohackers sitzen. Vier Stunden lang widmete ich Kloppstocks Dichtungen, diversen Erzähltechniken und dem Heimweh der Iphigenie auf Tauris, dann war ich ein freier Mensch. Und von einen Moment auf den anderen war es Sommer geworden.

Das Zitroneneis des Sommers

Hier eine kurze Auflistung an Aktivitäten für einen unvergesslichen Pandemie-Sommer: Berge besteigen und auf ihnen übernachten, Sternschnuppen zählen und Rotwein trinken, Nachtbaden in der Dreisam (mit ganz viel Fantasie ist es ein warmer Whirpool), Balkonübernachtungen, Filmabende, Bodensee-Roadtrips, nächtliche Tischtennis-Matches, hochemotionales Wizard(Regel Nummer 1: am Spieltisch gibts keine Freundschaften) und längst überfällige Wiedersehen in der Heimat. Aus all diesen endlos sonnig-heißen Wochen habe ich eine bahnbrechende, offenbar immerwährende Erkenntnis gezogen: es kommt nicht darauf an, wo du hingehst, aber immer, mit wem. Nie war menschliche Nähe so elementar wie in Zeiten einer globalen Pandemie. Das Gran Canaria, der Luxus und das Zitroneneis dieses Sommers war die Vereinigung mit Leuten, die wir monatelang auf Distanz halten mussten. Vollkommen egal wo, wir waren zusammen.

Da sind immer hunderte von Parallelversionen unseres Lebens, die wir zu erahnen versuchen. Ich glaube, das ist zum Scheitern verurteilt. Richtig glücklich können wir sein, wenn wir im Hier und Jetzt das Beste aus DIESER Version machen. Letztlich wären wir ohne die Reisebeschränkungen nicht alle am selben Ort geblieben, dem, an dem wir in den vergangenen Monaten ein Abenteuer nach dem anderen erlebt haben. Ich werde nie aufhören, dafür dankbar zu sein. Überhaupt, was ist das für ein Glück, die ersten acht Monate einer Pandemie so unbeschadet, und trotz allem noch so frei überstanden zu haben?

Dann ist tatsächlich passiert, was mein pessimistisches März-Ich niemals für möglich gehalten hätte. Fast den ganzen September war ich unterwegs, in Senden, Münster, Emden, Norddeich, Greetsiel, Schillig, Borkum, Groningen und später noch in Berlin. Was ich auf diesen Reisen erlebt habe: salzige Meerluft, unbekannte Orte, ein Wiedersehen mit meinem Großcousin Adam, Freundschaft, Gespräche nachts um zwei, anhaltende Lachanfälle, Straßenkonzerte, rasante Autobahn-Roadtrips, das erste Mal in den Niederlanden, das fünfte Mal in Berlin, eine Lesung bei meiner Lieblingsautorin Antonia C. Wesseling, so viel Spaß und Abenteuer. Eine weitere Erkenntnis: das Leben ist schön. Vor allem, wenn es so lebensvolle Orte und Menschen beinhaltet.

Wenn der Sommer vorbei ist

Wenn der Sommer vorbei ist, bleiben die Zweifel und die dunklen Wolken. Nur weil sich bei uns mittelfristig die Dinge verbessert haben, ist ganz bestimmt nicht alles gut. Was in Moria, in Belarus, in Beirut, in den vielen Corona-Spitzenländern und überhaupt überall passiert, ist von hier aus nur schwer vorstellbar. Wieder drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis unser eigenes Lebens dazu steht. Was wir tun können, um nicht nichts zu tun. Vielleicht ist es ein erster Schritt, sich diesen Problemen, so fern sie auch sein mögen, bewusst zu sein. Sie sind da. Jedes von ihnen hat eine Lösung verdient. Und wenn sich für uns eine Chance ergibt, sollten wir sie ergreifen. Ich bin am Überlegen, mir für dieses Weihnachtsfest von allen nur Geld zu wünschen, damit ich es spenden kann. Wohin, weiß ich noch nicht, denn die Auswahl ist leider erdrückend groß. Ich möchte gerne etwas zurückgeben, für das große Geschenk, das Gott mir gemacht hat: ein sehr, sehr gutes Leben.

Ich weiß noch, wie ich im April auf unserem Balkon saß und auf einen ungewissen Sommer geblickt habe. Damals habe ich geschrieben: Into a summer nobody has ever seen before, but doesn´t that mean we are going to write our very own story? Diesen Gedanken versuche ich, in den Winter mitzunehmen, in dem wieder einmal alles offen ist. Niemand weiß, was passieren wird. Parallelversionen in der Zukunft konkurrieren um die realistischste Position. Wir werden sehen, welche gewinnt. Spätestens dann, wenn der Winter vorbei ist.


Here’s to our feelings, and our yearning
Why do we breathe in, I’ll never learn it
Here’s to the dolphins, but they’re bleeding
You want a meaning, but I will keep it
For the lovers in the nighttime
They move, they move like fireflies
I wanna move too, I wanna move you
Here’s to the living, it is always worth it
From a distance, alarm’s alerting
I’m on a sonde around my solar system
It feels so true, yet I can’t tell you what it is that is missing
All the stars in the blackened sky
They move, they move like fireflies
I wanna move too, I wanna move you
Oh, I wanna move with you

– Giant Rooks

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.