Gleise und Umwege |  8 Monate 2021

Kategorien Weltgeschehen

Seit acht Monaten ist 2021. Stellt sich die Frage, was sich seit dem verheißungsvollsten Silvester des Jahrzehnts verändert hat. Auf der Welt? Eine Menge. Am Verhältnis der dunklen und der hellen Tage? Einiges, auch wenn es nicht immer so scheint, was insbesondere auf die interessante Ausgestaltung von „Sommer“ von Seiten des Wetters zurückzuführen ist. An der Geschwindigkeit, in der sich die Dinge ereignen und entwickeln? Vermutlich nichts. 2021 schaut sich ziemlich viel von 2020 ab, was die Dichte an weltbewegenden Geschehnissen betrifft. Und es zeugt von außergewöhnlichem Innovationsgeist.

Ungefähr ein bis zwei Mal im Monat frage ich mich selbst: „Du hattest doch dieseen Blog. Möchtest du den vielleicht mal wieder mit Leben füllen?“ „Ja!“ steige ich in mein Selbstgespräch ein. „Unbedingt!“ Dann stelle ich mir die alles entscheidende Frage, worüber ich denn schreiben möchte, und stelle fest: ich weiß es nicht. Genauer: ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und wie ich es anfangen soll, dass nicht alles wieder von einem Wort bestimmt wird: Corona. Das wohl meist genannteste Wort der letzten eineinhalb Jahre, in der Welt genauso wie in diesem kleinen Blog. Beunruhigende Vorstellung, ein kleines grünes Virus als Markenzeichen zu haben.

In der Abiturzeitung meiner Schwester hat der Rektor im Vorwort geschrieben: „Jetzt wollen wir dem Corona-Virus nicht den Gefallen tun, auch bei der Rückschau auf eure Schulzeit das beherrschende Thema zu sein. In den acht Jahren eurer Gymnasialzeit ist viel, viel mehr passiert.“

Der Umsteigebahnhof

Bevor die Pandemie in unser Leben gekommen ist, hätte ich nicht geglaubt, dass wir einmal etwas erleben würden, das mächtig genug ist, die Zeitgeschichte in ein „Davor“ und „Danach“ einzuteilen. Eineinhalb Jahre später vergesse ich in regelmäßigen Abständen, dass es ein „Davor“ gegeben hat. Vielleicht, weil uns mittlerweile bewusst ist, dass es keine Rückkehr dorthin geben wird. Darum heißt es ja auch „Davor“. Wie also leben wir in diesem seltsamen „Danach“? Ich würde sagen: es ist eine inzidenz- und emotionsgetriebene Berg- und Talfahrt, ohne dass beides zwangsläufig miteinander kongruiert. Was der Begriff „Fahrt“ dabei impliziert: wir stehen längst nicht so lange auf der Stelle, wie es uns mitunter vorkommt. Wir dachten, wir seien gestrandet, dabei ist Corona nur der Umsteigebahnhof, auf dem die Weichen neu gestellt wurden. Ein Weichensteller, der die Menschen in viele verschiedene Richtungen lenkt. Manche bis kurz vor die Abrgünde des finanziellen Ruins. Andere Strecken sind voll von Traurigkeit, Verlust und physischer und psychischer Spätfolgen. Manche Gleise sind verschüttet und müssen erst freigeräumt werden. Es gibt auch Gleise, die enden im gräsernen, verwilderten Nichts. Stand heute sind es 4,3 Millionen.

Was stellen wir auf der Zugfahrt in die unfreiwillig eingeschlagene Richtung fest? Vielleicht, dass die Landschaft abseits der Gleise sehenswerter ist als zunächst berfürchtet. Bestenfalls, dass wir die ursprünglich geplante Strecke aus dem Kopf verlieren vor lauter neuer Reisepläne. Aber sicher ist auch: vor dem Zugfenster ziehen Berge und Stürme vorbei, die wir nie sehen wollten. Steigende Thermometer und Wasserpegel. Durchflutete Häuser, davongeschwemmte Dörfer. Zwanzig Fahrtminuten später ein brennender Wald und eine zerbombte Stadt. Das Leben geht weiter, und wir sitzen im Hochgeschwindigkeitszug ohne Zwischenhalt, ohne sichere Auskunft über unsere Endhaltestelle. Selbst wenn es einen Stopp-Knopf geben würde, den wir betätigen könnten, was würden wir dann tun?

Wer macht, hat Macht

Machtlos – so empfinde ich mich momentan in vielen Bereichen unseres Lebens. Gegen die Fensterscheiben prasseln sehr viele Dinge, auf die wir keinen Einfluss nehmen können – achja, und der nicht endende Sommerregen. Aber das mit dem mangelnden Einfluss, stimmt das wirklich?

„Wer macht, hat Macht“, sagt mein Vater, als ich ihm aufliste, was mich alles frustiert, vom Klimawandel beziehungsweise dem uneinheitlich ausgeprägten Engagement dagegen, dem Stocken der Impfkampagne über das Vorschreiten der Taliban in Afghanistan und die Unsicherheiten bezüglich des kommenden Präsenzsemesters bis hin zu Umbrüchen der Strukturen in meinem Freiburger Wohnheim. Wie, frage ich also meinen Vater, soll ich da denn etwas MACHEN?

Mein Vater hat daraufhin jede Menge Ideen, die sich auf parteipolitische Mitarbeit, konstruktive Klimadialoge und Anfragen an den Asta beziehen. Grundsätzlich stimme ich ihm zu, aber vielleicht sehe ich auch Dinge, die er so nicht sieht: wie viel Platz erhält in der Schullaufbahn das Thema „Deutscher Bundestag“ und „gegenwärtige Politik“? Wie sehr werden Jugendliche flächendeckend ermutigt, sich einzubringen, und wie oft erhalten sie das Gefühl, gehört zu werden? Wie viel Zeit bleibt überhaupt in einem derart leistungsgetriebenen Alltag ungefähr ab Klasse Sechs, sich freiwillig noch mit Engagement außerhalb des Curriculums zu beschäftigen?

Abgesehen von diesem anderen, sehr komplexen Thema, habe ich eines in dem Gespräch mit meinem Vater verstanden. Es braucht vor allem eines, um aus der Frustration und Machtlosigkeit auszubrechen: a change of perspective. Also: wie definieren wir die MACHT, die wir MACHEN? Vielleicht ist es nicht immer die Macht der postwendenden Umstöße. Aber Fakt ist, wir MACHEN etwas, und damit verlieren wir automatisch die Machtlosigkeit. Jeder.kleine.Schritt.ist.wichtig. Das ist es, was uns letztendlich auch durch die Pandemie bringen wird. Am Ende wird jede Maske, jedes Zuhausebleiben, jeder Test und jede Impfung Menschenleben gerettet haben. Und wir haben geglaubt, machtlos zu sein?

Ich glaube, die Machtlosigkeit rührt von der Vorstellung, dass wir für große Probleme große Lösungen haben müssen. Diese Gleichung geht nicht auf, weil sich letztlich auch die vermeintlich großen Probleme aus vielen kleinen Elementen zusammensetzen, an denen wir angreifen können. Das ist mühsam. Und ganz und gar nicht unserem Wunsch nach schwarz und weiß und einfachen Lösungen und klaren Ja´s und Nein´s entsprechend. Aber wohlmöglich ist das ein guter Zeitpunkt für ein Perspektivwechsel. Die Welt steht schließlich sowieso schon Kopf.

Wenn wir also unsere Energie fortan nicht mehr auf das unerreichbare Ziel der sekundenschnellen Kehrtwenden richten, sondern auf unsere Möglichkeiten des Machens – im Asta, in der Politik, in Bewegungen und Zusammenschlüssen-, geht es uns vermutlich besser. An diesem Punkt hören wir übrigens auf, den Hochgeschwindigkeitszug nach einer Notbremse zu durchsuchen, und fangen an, uns mit unseren Mitpassagieren zu unterhalten. (Anschließend präsentieren dem Schaffner unseren mehr oder weniger perfekten Masterplan).

Von der Gelassenheit

Am anderen Ende der Macht steht eine Machtlosigkeit, die durch kein Machen der Welt ausgemerzt werden kann. Es gibt Dinge, die kein Mensch dieser Erde in der Hand hat. Deswegen zittern und zerbrechen Städte, deswegen sterben Menschen viel zu jung. Auf einer tieferen Ebene gibt es Entscheidungen, die andere Menschen für uns treffen, und auf die wir trotzdem genauso wenig Einfluss haben. Immer kämpfen wir dabei mit demselben Gefühl: das Leben verläuft anders, als wir es vorgesehen haben. Damit hadern wir viel mehr als mit der Angst, Veränderungen anzustoßen. Wir würden ja, wenn wir nur könnten.

An diesen Punkten ist es wichtig, sich auf den Bereich zu besinnen, in dem wir noch aktiv sein können: unserer Haltung, unserer Resilizenz. Dabei kann uns eine Haltung besonders helfen: die Gelassenheit. Wenn wir mit ihr auf eine unveränderbare Tatsache reagieren, nimmt uns das den inneren Druck, handeln zu müssen und dabei gegen die Wand zu laufen. Wir sparen unsere Energie. Mir ist bewusst, wie privilegiert ich bin, auf diesen Grundsatz zurückgreifen zu können. Wenn ich an die Situation in Afghanistan, an die Dörfer in Nordhrein-Westfalen und Rheinlandpfalz und all die anderen, gebrochenen Orte dieser Welt denke, fehlt mir jedes Wort. Weil es dafür keine gibt. Nur den Wunsch, dass auch für diese Menschen eines Tages wieder die Wolken aufreißen.

In all diesem Chaos halte ich mich fest an einem Gebet, das der US-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr im Zuge des Zweiten Weltkriegs ausgesprochen hat, und an das mich ein guter Freund im genau richtigen Moment erinnert hat : Father, give us courage to change what must be altered, serenity to accept what cannot be helped, and the insight to know the one from the other.

Manche Dinge ändern sich nicht, egal welches Jahr wir schreiben, und egal in welcher Geschwindigkeit sich die Dinge weiterentwickeln.

Und das ist doch irgendwie gut, oder nicht?

POSTSKRIPT

An meinem Zugfenster ziehen zur Zeit unerwartet sehr viele, sehr schöne Landschaften vorbei. Regen hin oder her, dieser Sommer ist unvergesslich, und ich werde ihn hier auch festhalten. Wir dürfen, und wir müssen unseren Blick auf das Schöne wenden. Nur so können wir stark sein für die, die uns brauchen. Wir lesen uns also bald – genießt euren Sommer.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.