Vom In der Schwebe leben | 2022, Kapitel 7

Kategorien Tagebuch

Hier ein paar Pro- und Contra-Punkte darüber, was es bedeutet, 22 Jahre alt zu sein, im Jahr 2022 zu leben und sich in der größten Umbruchphase des bisherigen Daseins zu befinden.


Contra:

  • es ist alles so AUFREGEND
  • man kann ungefähr zwei Minuten schlafen, bevor einem wieder einfällt, dass alles so aufregend ist
  • wo ist die Sicherheit und die Routine, die ich brauche?? (da war ja der Lockdown noch besser)
  • die Zeit rast

Pro:

  • es ist alles so AUFREGEND
  • wenn man mal wieder in Gefahr läuft, in einer Vorlesung einzuschlafen: einfach kurz daran denken, dass alles so aufregend ist
  • fancy Instagram-Sprüche wie Du glaubst Abenteuer sind gefährlich? Probier’s mal mit Routine, die ist tödlich gewinnen an tiefgründigem Sinn und Wahrheit, oder zumindest kann man es sich damit schönreden
  • die Zeit rast.

In dieser vor Ungewissheit und Aufregung nur so dahin rasenden Zeit war der Juli wahrscheinlich mein persönlicher TGV. Ging euch das auch so? War es bei euch zwischen dem ersten und dem letzten Tag dieses Monats auch ein Wimpernschlag?

Wenn ich zurücksehe, war besagter Wimpernschlag gar nicht so abenteuerlich, wie man es meinen könnte. Abgesehen von einem wunderschönen Wochenende in Tübingen (Danke an Jan) habe ich mich nämlich hauptsächlich zwischen dem 50-Meter-Becken im Strandbad und der UB hin und her bewegt. Was eine Win-Win-Situation war, weil ich a) gleichermaßen meinen Lernstand und meine Sportlichkeit vorangetrieben habe und mich b) von dem Übermaß an Ungewissheit ablenken konnte, die gerade mein Leben prägt. Eigentlich ist es seltsam, dass die Zeit so schnell vorbei ging. Ich war nämlich durchgehend damit beschäftigt, zu WARTEN. Auf alle möglichen E-Mails und Antworten auf Fragen in meinem Kopf.

Abenteuer auf dem italienischen Wohnungsmarkt

Es ist zum Beispiel gar nicht lustig, auf dem Wohnungsmarkt Paduas unterwegs zu sein, circa zehn Anfragen an WG’s zu verschicken, von welchen zwei beantwortet werden, und eine davon mit der Auskunft „Scusi, non è disponibile per gli studenti Erasmus“ (übersetzt: Erasmus-Studenten sind nicht erwünscht). Damit es noch ein bisschen komplizierter wird, bewegen sich auf besagtem Wohnungsmarkt auch so ein, zwei Scammer, die mit falschen Wohnungen werben. Mit beiden der derzeit bekannten Scammer in Padua war ich auch tatsächlich in Kontakt, aber an dieser Stelle kommt mir mein Spleen für Holzböden und weiß gestrichene Wände sehr zu Gute, denn ich habe beiden Personen abgesagt, bevor sie Geld von mir verlangen konnten, weil ich die Zimmer schlichtweg hässlich fand. Glück gehabt!

Die nächste Stufe dieses Grauens: das Video-Casting der letzten verbleibenden WG läuft gut, die jetzige Bewohnerin, der Landlord und die Agentur wissen Bescheid – und dann setzt die übliche italienische Gemütlichkeit ein, und die nächsten fünf Tage passiert erstmal – nichts. Nach diesen fünf Tagen führt ein vorsichtiges Nachfragen meinerseits zu einem „We will tell you soon“, und nach weiteren drei unruhigen Nächten steht es endlich fest: ich habe ein Zimmer in Padua. Ein durchaus überteuertes, aber gut. Drei Erkenntnisse aus meiner Exkursion in die gruselige Welt des Wohnungsmarktes sind nämlich: ich war ja so privilegiert, in Freiburg in ein Wohnheim zu ziehen, die Menschheit ist grundsätzlich schlecht – und jeder Anspruch ist einer zu viel, wenn man am Ende tatsächlich in einem Zimmer landen will. Umso dankbarer bin ich an dieser Stelle, dass mir meine Eltern und die Erasmus-Förderung erlauben, dass ich Ansprüche haben darf. Dass ich nicht gegen meine Horrorvorstellung ein Doppelzimmer beziehen muss, und dass ich jetzt in einem Zimmer leben werde, in dem ich mich wirklich wohlfühlen kann. Zumindest hoffe ich das… mal sehen, was ich in meinem September- oder Oktoberkapitel dazu sagen werde.

A little travel back in time

Mitten in dieser Ungewissheit kam es mir sehr zu Gute, dass meine Freunde gesagt haben: los geht’s, wir übernachten auf dem Streckereck. Das Streckereck ist eine Art ebene Waldlichtung auf einem Berg im Glottertal. Als wir vor zwei Jahren das letzte Mal dort oben waren, habe ich mir innbrünstig geschworen, nie wieder diesen Aufstieg auf mich zu nehmen, grausam und steil wie er ist. Tja, und dann stand ich doch wieder am Fuß des Berges, und was soll ich sagen: zu meiner Enttäuschung ändert auch ein Jahr Lauftraining und drei Kilometer schwimmen pro Woche nichts an dem Umstand, dass dieser Berg mich an meine Grenzen katapultiert.

Als wir es dann nach oben geschafft haben, stand ich da und konnte nicht fassen, dass zwischen diesem Tag und der letzten Nacht dort zwei Jahr liegen. Können wir die seltsame, schmerzhafte und oft auch abgrundtiefe Zeit dazwischen vielleicht einfach vergessen? Nein, wahrscheinlich nicht. Und wahrscheinlich wäre es mir an diesem Tag auch nicht so gut gegangen und ich hätte es nicht so genossen, wenn ich nicht wüsste, wie dunkel die Welt sein kann. In dieser Nacht war sie hell.

Das Ende meines 6. Semesters

„Wissen Sie“, hat einer meiner Dozenten kürzlich gesagt, „mit dem Sommersemester ist es immer dasselbe. Am Anfang sieht es nach viel zu wenig Zeit aus, in der Mitte denkt man, dass es niemals endet, und am Ende kann man nicht glauben, wie schnell alles vergangen ist.“ Das ist eine ziemlich exakte Vorstellung davon, wie mein 6. Semester verlaufen ist. Chaos ist gar kein Ausdruck. Sagen wir es mal so: ich war drei Mal Corona-positiv in der Uni, 14 Tage gar nicht, und den Rest der Zeit habe ich damit verbracht, während den Veranstaltungen das Mensa-Essen oder das LineUp des nächsten Festivals zu googeln. Getreu der Aussage meiner Freundin Sophia „Mehr Sommer als Semester“ war das Leben dieses Mal einfach lauter, bunter und wichtiger als die Poetik des Aristoteles und die Forschungsaspekte der Gesprächslinguistik. Ich habe eine Weile gebraucht, um das mit dem ehrgeizigen Teil in mir auszuhandeln, aber dann bin ich zu dem Schluss gekommen, das das in Ordnung ist. Das ist es wirklich! Und als dann nach dem letzten Festival langsam die Prüfungen nähergerückt sind, habe ich sie doch wieder entdeckt: meine unstillbare, an dieser Stelle nur leicht dramatisierte Liebe zur Literatur und dem Studieren. Meine Freunde und ich haben praktisch in der UB gelebt, zum Glück, denn sie war auch der einzig kühle Ort in dieser Stadt, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass ich jetzt, nach abgeschlossener Prüfungsphase immer noch hier sitze. Die Zeit ist geflogen. Unglaublich, dass ich sechs Semester studiert habe. Und umso besser, dass ich noch so 1,2,3 Semester vor mir habe. Ich würde es um nichts in der Welt hergeben.

Bis bald oder sowas

Wenn ich gleich diese mehr oder minder produktive UB-Session beende, dann, um mit meinen Freunden in die Mensa zu gehen und Frühlingsrollen mit Basmati-Reis zu essen. Soweit so alltäglich – nicht umsonst haben wir uns selbst mittlerweile den Namen Mensa Rempartstraße Hardcores gegeben. Das Problem ist nur: das wird unser letztes gemeinsames Mensaessen für acht Monate. Bald werden wir die Qualität des Mensa-Angebots in Oslo, Valencia, Bordeaux und Padua evaluieren, und so sehr ich mich auf diese Zeit freue, so schwer fällt mir auch die Vorstellung, dass dieses Zeit jetzt erstmal auf Pause gedrückt wird. Auch im Wohnheim wird mir die Endlichkeit dieses Alltags mit jedem Tag ein bisschen bewusster. Die nächsten zwei Monate werden schwierig werden, was das betrifft. Deswegen halte ich mich daran fest, was meine Freundin Magda immer zu mir sagt: „Wenn man mutig ist, wird man belohnt.“ Daran glaube ich.

Da ich an dieser Stelle genug Freunde und Dozenten zitiert habe, noch ein paar eigene Worte von mir an euch. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich bin immer noch so dankbar, dass diese Texte, die sich eigentlich nur um mein Leben drehen, noch immer gelesen werden. Das bedeutet mir so viel. Genauso möchte ich den vielen vielen Leuten Danke sagen, die sich für meinen Roman interessieren und ihn lesen wollen. Eure Worte haben mich in vielen Hinsichten durch diesen Monat getragen! Danke!

Falls ihr gerade auch in der Schwebe seid, wünsche ich euch viel Durchhaltevermögen, und dass ihr immer wisst, woran ihr euch festhalten könnt. Macht’s gut.


EIN PAAR BILDER AUS DER SCHWEBE

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.