Wie eine Knospe, die man pflegen muss

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In meinem Studium habe ich gelernt, dass Geschichten am besten mitten im Augenblick des Geschehens beginnen. In medias res. An dieser Stelle muss ich mich bei meinem Dozenten entschuldigen (ich habe die Frage in der mündlichen Prüfung ohnehin falsch beantwortet), denn für diese Geschichte muss ich ab ovo anfangen. An dem Tag, an dem ich, im stolzen Alter von fünf Jahren, zum Dino wurde. Zum Doppeldino, um genau zu sein.

Das Basteleckenverbot

‚Doppeldino‘ war in unserem Kindergarten die Bezeichnung für die Kinder, die kurz nach dem Stichtag für die Grundschule sechs Jahre alt werden. Ich, mit dem dritten Oktober knapp am Stichtag vorbei geschrammt, war also ein Doppeldino und habe noch ein entspanntes siebtes Lebensjahr im Kindergarten verbracht. Nachdem ich die Bauecke satt hatte und so oft dem Bastelzimmer einen Besuch abstattete, dass mir dort irgendwann ein Betretungsverbot erteilt wurde, entwickelte sich das Dasein als Doppeldino jedoch zu einem ziemlich langweiligen Unterfangen. An diesem Punkt kam mein Vater auf die Idee, mir das Lesen beizubringen. Literaturtheoretisch wäre das dann wohl ein Wendepunkt meines Doppeldino-Lebens.

Im Sinne des nächsten Lernaspekts des Studiums, des zeitraffenden und iterativen Erzählens: von diesem Tag an habe ich sehr viel gelesen. Und als ich dann doch mal wieder Zutritt zur Bastelecke erhielt, habe ich zur großen Freude meiner Erzieherinnen keine Unmengen an Pappe und Klebstoff mehr verbraucht, sondern hauptsächlich Papier. Damals schrieb ich meine ersten Geschichten. „Mein Buch ist fertig“, habe ich meinen Eltern gesagt, und ihnen stolz mein Werk entgegengestreckt. Vier lose Seiten kamen mir vor wie das größte Werk nach denen von Goethe. Auch wenn ich damals noch nicht wusste, wer das ist.

Ein Gefängnis für die Angst

Also schrieb ich. Im Nachhinein ist es schwer zu sagen, wozu oder wieso. Ich habe es einfach getan. Nichts anderes hat mir so viel Spaß gemacht und ist mir mehr eingeleuchtet, als mich in meinen eigenen, selbstgeschriebenen Welten zu verstecken. Leider auch mit Vorliebe während den Unterrichtsstunden, weshalb mich Bestsellerromane wie „Annas und Lisas Pferdeabenteuer“ die gesamte Grundschulzeit um eine gute Mitarbeitsnote gebracht haben.

Als ich in der dritten Klasse war, ereignete sich nicht allzu weit weg von meinem Zuhause der Amoklauf von Winnenden. Am nächsten Tag gab es in unserer Schulklasse kein anderes Thema. Ich glaube, in dieser Zeit habe ich verstanden, was das Schreiben für mich ist. Meine Flucht. Mein Sprachrohr. Ein sicheres Verließ für den Schmerz. Benedict Wells schreibt in Vom Ende der Einsamkeit: “Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich.” Ich sehe mich noch in dem kleinen Klassenzimmer meiner Grundschule sitzen, wie ich meine wild durcheinander fliegenden Gedanken über Schüsse und Tod in Gedichtzeilen einsperrte.

Durch eine Kette an Zufällen wurden diese Gedichte einige Tage später auf der Kinderseite unserer Zeitung veröffentlicht. Mit der Folge, dass ich plötzlich eine Heidenangst hatte, „berühmt zu werden“, und mich weigerte, meinen echten Namen unter den Artikel drucken zu lassen. Mein Schreiben, meine Worte gehörten nicht mehr mir allein. Aber dann dachte ich auch daran, dass sich vielleicht andere Kinder verstanden fühlen könnten. Ich bekam Nachrichten und Anrufe. Und stumm und leise, ohne, dass ich den Zeitpunkt seiner Ankunft bestimmen könnte, gesellte er sich in mein Leben: der Traum, ein Buch zu veröffentlichen.

Unter den Nachrichten, die ich damals auf meine Gedichte hin bekommen habe, war ein Brief von einem Bekannten unserer Familie. In feiner, geschwungener Schrift schrieb er davon, dass das Schreiben wie eine Knospe sei, die ich in mir trüge, und die ich immer gut pflegen müsse, damit sie wachsen und gedeihen wird. Pflegen bedeutet in diesem Fall: immer weiterschreiben. Immer und immer und immer.

Mein Vertrauen an mich und mein Schreiben grenzte damals an Größenwahnsinn. Die Vorstellung, nicht jeden Tag zu schreiben, schien mir absurd. Tja, und dann wurde ich älter, und vielleicht auch ein bisschen erwachsen, und was einem diese anstrengende, furchtbare und wunderschöne Zeit bekanntermaßen am meisten zeigt: je kostbarer etwas ist, desto größer wird die Angst, es zu verlieren.

„Sehr viel gerade ist aufregend“

Ich habe immer irgendwie geschrieben, aber es war nur noch selten kampflos. Meine arme kleine Knospe musste sich mit sehr abwechslungsreichen Pflegebedingungen zurechtfinden. Manchmal war meine Angst, nicht mehr schreiben zu können, so groß, dass ich tatsächlich monatelang kein Wort mehr getippt habe. Dann wieder schrieb ich Nächte durch. Am 28. Februar 2016 war mein erstes Buch zu Ende. Am 18. Oktober 2021 mein zweites.

Dieses zweite Buch heißt Nordsommer und schließt, nach diesem langen historischen Exkurs, den Kreis zu einem Jetzt, in dem ich 22 Jahre alt bin und zum Glück immer noch schreibe. Und das, obwohl ich noch nie so viel Angst hatte, es zu verlieren wie in den letzten Wochen.

Am zweiten Mai diesen Jahres habe ich meinen Roman Nordsommer an drei Literaturagenturen geschickt. Literaturagenturen kann man sich als eine Art Makler für Bücher vorstellen, die mit Projekten an Verlage herantreten. Weil die Verlage jeden Tag von unaufgefordert eingesendeten Manuskripten überschwemmt werden, ist eine Vertretung durch eine Literaturagentur mittlerweile fast obligatorisch. Am 27. Juni hat sich eine der Literaturagenturen zurückgemeldet. Und dann begann eine sehr sehr aufregende, sehr sehr schöne und sehr sehr furchtbare Zeit. Noch stand nicht fest, ob die Zusammenarbeit wirklich zustande kommt. Das war übrigens die Unklarheit, die ich in meinen Monatstexten so pathetisch mit Sehr viel gerade ist aufregend umschrieben habe. Ich war Vollzeit damit beschäftigt, meine Hoffnung auf einen Literaturvertrag kleinzuhaltend. Nur damit sie – falls es doch eine Zusage werden würde – hochschnellen konnte. Wie, wenn man einen Wasserball unter der Wasseroberfläche hält und dann loslässt. Aber so oder so – die Hoffnung war da. 

Und die Angst. Und so eine langsame, schleichende Befürchtung.  Wovor? 

Davor, dass ich niemals Autorin sein würde? Dass es, bis ich zum nächsten Mal einem Agenturvertrag so nahe komme, ewig dauern würde?

War es die Angst vor den Reaktionen und Urteilen der anderen, die alle schon die Zusage erwartet hatten, die aber mein Buch zu einem großen Teil nicht gelesen haben und nun erfahren würden, dass es und ich doch nicht gut genug waren?

Die echte, große Angst war eine andere. Sie ging von einer zitternden Knospe in meinem Inneren aus. Was, wenn ich das Schreiben jetzt verliere? Wenn die Absage es einfach zerhackt? Werde ich weiterschreiben?

Eigentlich gibt es für diese Frage nur eine denkbare Antwort. Ich muss es tun. Ich bin nicht Ich ohne das Schreiben. Und nimmt mir eine Agenturabsage wirklich den Teil vom Schreiben, der mich ausmacht? Andersrum – schreibe ich, um veröffentlicht zu werden? 

Zu einem Teil – ja. Es war und ist und bleibt mein Traum, mein Ziel, auf dem ich mit meinem Schreiben hinarbeite. Das, was mich dazu bringt, immer weiterzumachen. Aber wenn ich auf die Zeit im Nordsommer zurücksehe und zwischen dem letzten Winter links und der potentiellen Veröffentlichung rechts hin und her sehe, wird mir klar: viel wichtiger ist, was auf dem Weg vom ersten bis zum letzten Wort passiert ist. Zwei Jahre lang habe ich Nordsommer geliebt, gehasst, verflucht, angezweifelt und weitergebracht. An zahllosen dunklen Winterabenden habe ich die Augen geschlossen und mich dort hin geträumt, wo alles den Gesetzmäßigkeiten einer anderen Welt folgt, einer, die ich selbst erschaffen habe, und die gleichzeitig an allen Ecken und Enden vom echten Leben gefärbt ist. In einer Zeit, in der es zwischen dem Fühlen und mir nicht ganz so einfach war, haben mich die Worte spüren lassen, alles, was ich wollte. Und während das echte Leben nicht besonders viel vom Festhalten hält, sind in dieser Geschichte Momente und Menschen kristallisiert, um für immer genau an diesem Ort zu bleiben. Dafür schreibe ich. Auch in der Hoffnung, dass sich in diesen festgehaltenen Gefühlen und kristallisierten Momenten Menschen verstanden fühlen. Und immer auch ein bisschen für den Moment, in dem ich im Buchladen stehe und mein eigenes Buch vor mir liegt.

Ja, dieser Moment liegt in einer fernen, erträumten Zukunft. „Wäre ja auch zu einfach, würde es sofort klappen“, sagte meine Freundin Sina dazu. Ich habe Sina kennengelernt, weil sie auch schreibt, und genau weiß, wie strapazierend derart emotionale Tätigkeiten sein können. Ich gab ihr recht.

Als ich verstand, dass mir keine Absage der Welt mein Schreiben wegnehmen konnte, wenn ich es gut festhielt, wurde das Warten einfacher.
Na gut, auch nur so minimal. Oder, wenn ihr meine Freunde fragt, die mich die letzten Wochen erlebt haben – ungefähr gar nicht.

Wir warteten alle zusammen. Meine Knospe, das Schreiben, die Angst und ich.

Gestern Mittag um 14:30 Uhr habe ich eine Zusage bekommen.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.