The joy of staying home

Kategorien Gedanken, Reiseatlas

Auf meinem Blog gibt es eine Kategorie namens Reiseatlas, und die hat über 50 Beiträge. In meiner Instagram-Bio prangte jahrelang das Weltkugel-Emoj. In meinem Zimmer zuhause wird fast eine gesamte Wand eingenommen von der Weltkarte aus Kork, auf der ich meine bisherigen Reisen mit goldenen und meine Pläne mit roten Stecknadeln markiere. Ich habe fast die ganze Fasnet über durchgearbeitet, um genug Überstunden für das Reisen im Sommer zu haben.

Vor einer Woche habe ich meinen nagelneuen, gold-grauen Backpack gepackt. Am nächsten Tag habe ich ihn wieder ausgepackt und habe nacheinander meine Flixbus-Verbindung Ulm- Neapel und Neapel – Ulm, sowie meine Fährkarten Neapel -Stromboli und Lipari- Neapel storniert. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich gegen eine Reise entschieden, und darüber will ich heute reden.


Kurz die Eckdaten: vom 30. August bis zum 08. September wollte ich noch einmal zunächst nach Stromboli und dann weiter nach Lipari reisen und dort meine Freunde vom letzten Sommer besuchen, sie mit meiner Forschungsarbeit überraschen, die ich über ihre Inseln geschrieben habe. Dazu habe ich – wie immer last minute – in nächtelanger Arbeit alles auf Englisch übersetzt. Die Bücher kamen zwei Tage vor meiner Abreise bei mir an, gemeinsam mit einer Hiobsbotschaft: der Stromboli bricht aus. Was so perse mal nichts Neues ist, weil der Stromboli nämlich grundsätzlich alle fünf bis zehn Minuten ausbricht. Wie das ein aktiver Vulkan halt so an sich hat. Nur, die vulkanische Aktivität am Krater ist seit diesem Sommer um einiges gestiegen. Nach einem größeren Ausbruch im Juli mit einem Todesopfer gab es vergangenen Mittwoch erneut eine starke Explosion. Die Begeisterung meiner Eltern für meine Reisepläne stieg exponentiell an. Nicht. Meine Gastfamilie auf Stromboli vermeldete zwar, dass alle wohlauf und in Sicherheit waren, aber der Schiffsverkehr wurde zwischenzeitlich eingestellt und niemand konnte sagen, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. Gleichzeitig waren die Wettervorhersagen für Lipari ein weiteres Problem. Besonders für meine Abreise am 07. September waren Gewitter und starke Böen vorhergesagt. Eine verzögerte Abreise wie im letzten Jahr konnte ich mir aber nicht leisten, weil in der nächsten Woche eine wichtige Veranstaltung bei der Arbeit bevorstand.

Ganz abgesehen von diesen äußeren Umständen hatte sich in meinem Inneren schon lange vor dem Ausbruch etwas geregt, das ich bisher so nicht kannte: der dringende, brennende Wunsch, zuhause zu bleiben. Erst deutete ich ihn als die übliche Überwindung, meine Komfortzone zu verlassen, aber es war mehr als das. Das wurde mir spätestens klar, als ich am Tag meiner Abreise nach stundenlangen Alpträumen und richtiggehend Angst vor dem Aufwachen, dem Morgen und dem Abreisen, im Bett saß, und meiner Mutter eine WhatsApp Nachricht schrieb. Ich glaube, ich will echt nicht gehen. Meine Eltern waren natürlich die letzten, die mich zwangen, es doch zu tun, und so fuhr der Flixbus ohne mich, und die Fähre am Tag darauf fuhr gar nicht, weil der Stromboli am Samstagmittag erneut ausbrach – danke, Bauchgefühl!


Ich dachte, wenn ich auf diesem Blog ständig vom Reisen und der Erfüllung des Unterwegsseins berichte, dann ist es eine logische Konsequenz, auch vom Nicht-Reisen zu schreiben. Vom Zuhausebleiben und der Angst, was zu verpassen, nicht mehr abenteuerlustig genug zu sein. Die ersten zwei Tage hatte ich schreckliche Angst, dass irgendwann der Moment einsetzen würde, in dem ich es bitter bereute, nicht gefahren zu sein. Dann die Erkenntnis: er kam nicht. Er ist bis jetzt nicht gekommen. Dadurch habe ich etwas wichtiges verstanden.

Aufgeben ist, sich einem Druck hinzugeben, um ihm nicht mehr standhalten zu müssen. Scheitern ist, aufhören auf dem richtigen Weg zu sein. Dass ich nicht nach Lipari gefahren bin, war die einzig richtige Entscheidung. Eine Entscheidung nach Bauchgefühl, ein Signal an mich, dass ich mich mag wie ich bin, auch wenn ich nicht immer die abenteuerlustige, mutige Tabitha sein kann. Ich respektiere meine Ängste.

Ja, vielleicht wäre es wunderschön geworden. Ich glaube auch nach wie vor an die Wahrheit von „Am Ende deines Lebens bereust du nur die Dinge, die du nicht getan hast.“ So habe ich gefühlt die letzten 20 Jahre gelebt. Ich habe so viel mitgenommen wie möglich , war überall dabei. Reisen war mein ein und alles. Entsprechend absurd fühlt es sich an, wenn man eine Reise absagt. Ich will ja die Tabitha bleiben, die vor nichts zurückschreckt (außer Achterbahnen und Fleisch), die sich von keinem abhängig macht und alleine durch die Welt reist. Ich will nicht, dass das ein Rückschritt ist, der meine bisherigen Werte und Erfolge entkräftigt.

Letztes Jahr um diese Zeit habe ich mich getraut. Ich hatte den Mut, zu reisen. Ich habe alle Eventualitäten ausgeklammert, meine Ängste über das Bord des Aliscafos geworden und bereitwillig auf meinen Komfort verzichtet. In dieser Zeit wollte ich genau eines: reisen, reisen, reisen. Nicht, weil ich Orte sehen und Instastories posten wollte (auch wenn ich das trotzdem zu genüge getan habe), sondern weil ich wusste, das lässt mich wachsen, erweitert meinen Horizont und macht mich dankbarer und glücklich. Diese Erfahrung hat mich ein Stück weit zur Missionarin gemacht, ich wollte, dass alle Menschen sie machen. Man kann es auch kurzfassen: Ich hatte eine weite Sicht über globale Realitäten, aber einen verdammt einseitigen Blick auf das Reisen selbst.

Vermutlich hätte die Tabitha, die gerade von ihrer zis-Reise 2018 zurückkommt, ein hartes Urteil gefällt über die Tabitha, die 2019 in ihrem Zimmer sitzt und heult, weil sie nicht schon wieder 18 Stunden alleine im Flixbus verbringen will. Der Grund: die jüngere Tabitha weiß ziemlich viel noch nicht. Sie weiß nicht, dass alleine sein zwar nicht immer einsam sein heißt, aber manchmal schon. Sie weiß nicht, wie schön es sein kann, mit seinem besten Freund zu verreisen und kein einziges Problem alleine tragen zu müssen. Sie muss sich noch nicht damit befassen, bald auszuziehen und damit die Heimat der letzten 20 Jahre hinter sich zu lassen, auch wenn sie nur zwei Autostunden davon trennen. Sie weiß nicht, wie das ist, wenn durch einen Verlust ein ganzes Urvertrauen erschüttert wird. Die Tabitha vom August 2019 durfte all das erfahren, und hat dadurch eine wichtige Erkenntnis gefasst:
Reisen ist nicht alles im Leben.

Manche Menschen brauchen es mehr, und andere weniger, und ich gehöre sicherlich zu der ersten Gruppe, aber da ist noch so viel mehr, was auch wichtig ist. Familie, Heimat, Freunde.

Mit dieser ganzen Weitsicht weiß ich, dass nicht zu reisen kein Rückschritt ist. Nicht auf diese Reise zu gehen hat genauso viel Mut erfordert, wie zu gehen. Um an dieser Stelle wieder einmal die gute Toni Pure zu zitieren:

Es braucht Mut, zu sein, wer wir sein wollen. Und es braucht noch mehr Mut, zu sein, wer wir sind.

Die Resultate des Zuhause-bleibens: Wir sind mutig. Wir achten uns selber, und wir lieben das Reisen zu sehr, um es zum Zwang werden zu lassen. Das Leben ist ein Mosaik aus tausend Dingen, und alle sind wichtig. Es gibt kein falsch und richtig, und jeder Mensch hat seine eigene Geschichte.

Fühlt euch niemals gezwungen, zu irgendetwas. Das ist da das Schöne, dass wir eigentlich immer zwei Möglichkeiten haben, von denen beide ihre Berechtigung haben. Es tut mir Leid, wenn ich manchmal den Eindruck vermittelt habe, Reisen sei das Non-Plus-Ultra. Das ist es nicht. Gar nichts ist das Non-Plus-Ultra. Es muss immer ein Mittelweg sein.

Natürlich werde ich wieder reisen! Meine Freunde auf den Inseln haben mir klar zu verstehen gegeben, dass sie weiterhin auf mich warten werden, und mich wiedersehen wollen – aber so schnell wie möglich! Nur, wenn ich dann wirklich losfahre, dann mit Vorfreude, und nicht mit Angst. Das wünsche ich euch allen, dass ihr auf euer Bauchgefühl hören und überall glücklich sein könnt. Ich verbringe jetzt eine wunderschöne Woche zuhause mit meinen Freunden, und könnte glücklicher nicht sein. Ich hoffe, ihr seid es auch.


PS: Und weil es trotz aller Wucht und Gefahr einfach so wunderschön ist, hier noch ein paar Impressionen von Stromboli, die mir meine Freunde geschickt haben:

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.