Diesen Text schreibe ich, während ich in der Abschluss-Vorlesung der Veranstaltung „Einführung in die Medienkulturwissenschaft“ sitze, und der Dozentin nicht zuhöre. Wenn die circa 5 Prozent Aufmerksamkeit, die ich ihrem Vortrag schenke, richtig liegen, geht es gerade um die nahende Abgabe unseres Portfolios, das ungefähr alle Erstsemester außer mir in den letzten Monaten über die philosophischen Gedankenergüsse diverser Elite-Medienkulturwissenschaftler angefertigt haben. Es ist übrigens die letzte Veranstaltung der Medienkulturwissenschaft, die ich während meiner universitären Laufbahn besuche.
Einen abgebrochenen Studiengang, eine nicht fertiggestellte Studienleistung und eine beunruhigend ausgeprägte studentische Ruhe, mit denen ich diese Punkte aufliste – ist das eine akkurate Zusammenfassung meines ersten Semesters? Nein, definitiv nicht.
Von leisen Zweifeln und lauten Nächten
Zeitsprung: vor exakt vier Monaten und vier Tagen stehe ich mit rund 30 anderen Erstsemestern in einem Kreis auf dem Platz der weißen Rose, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einem baustellbedingten Schlachtfeld gleicht. Vor uns liegt die berühmt berüchtigte Ersti-Woche, die von gemütlichen Frühstückbrunchs bis hin zu hochprozentigen Partyeskapaden alles beinhalten kann – man hört einiges. Zum Glück muss ich nichts davon alleine bestreiten, weil Laura, mit der ich schon auf meinen Stock im Wohnheim eingezogen bin, auch mit Medienkulturwissenschaft anfängt, und wir beide schnell noch Myri kennenlernen. Zwischen Running Dinner und Kneipentour stellt sich schon in dieser ersten Woche ein hartnäckiges Gefühl in mir ein, das mich subtil und säuselnd an meiner Studienwahl zweifeln lässt: Interessierst du dich wirklich so sehr für Medien, wie es dieser Studiengang verlangt? Auf diese beunruhigenden Gedanken hin erstmal ein Shot und eine Ladung rationaler Argumente die für die Entscheidung sprechen – das ist die studentische Art der Problemverdrängung. Sie funktioniert durchaus, weil ich viel zu beschäftigt bin, alles Neue zu begrüßen, um über das Bestehende nachzudenken.
„Herzlichen Glückwunsch!“ sagt mein Dozent in der zweiten Sitzung des Seminars ´Einführung in die Sprachgeschichte und mittelalterliche Literatur´. „Wenn Sie jetzt noch hier sind, haben Sie erstens den Raum wiedergefunden und zweitens den schlimmsten Teil des Studiums hinter sich. Ab jetzt wird alles Spaß machen!“ Ich sitze da und grinse vor mich hin. Woche 2 an der Uni und ich habe bereits die leise Vorahnung, wozu sich mein momentanes Nebenfach „Deutsche Literatur“ entwickeln könnte. Hätte mir vor einem Monat jemand gesagt, dass mich der hochmittelalterliche Literaturbetrieb und die Techniken der Literaturwissenschaft schon Montags um neun Uhr ct faszinieren würde – ich hätte es nicht geglaubt. Und mir weiter eingeredet, dass Medienkulturwissenschaft – weil praxisbezogen, weil zukunftsorientiert, weil realitätsbezogen- schon richtig für mich ist.
Ende Oktober entlassen uns unsere Mitbewohner mit einem vielsagenden Grinsen auf die Erstihütte des Wohnheims. Sie sprechen es nicht aus, aber in ihrem „Viel Spaß!“ schwingt ein bisschen Schadenfreude und ein bisschen Neid. Beides ist absolut angebracht: sie sind am Sonntagabend topfit, und wir zwar einhundert Prozent übernächtigt, aber um eine unvergessliche Erfahrung reicher. Drei Tage im Südschwarzwald, wo Internet überflüssig und jede Nacht schlaflos ist – genau so habe ich mir eine Erstihütte vorgestellt. Verkleidet in Bad Taste tanzen wir auf dem Dachboden der Hütte und singen zum ersten Mal: Ich bin Alban – und stolz darauf! Rund 70 coole Leute, die einem das Gefühl von Zuhause geben und von denen man sich am Sonntagabend absurder Weise nicht verabschieden muss.
Geh mit deinem ganzen Herzen
Nie geht eine Zeit schneller vorüber, als wenn aus einem neuen Leben langsam ein Alltag entsteht. Das merke ich, während der Herbst zum Winter wird und Woche um Woche vorbeigeht. Meistens, ohne dass ich die Initiative ergreife, übers Wochenende zurück in die Heimat zu fahren. In Freiburg ist einfach viel zu viel los, um es zu verpassen: Partys in der Alban-Bar, IKEA-Touren mit meinen Mitbewohnerinnen, achso ja, und dann ab und zu auch noch Uni-Aufgaben. Es ist diese Phase, in der aus manchen Bekanntschaften Freundschaften werden und aus anderen nicht, was mich abwechselnd anstrengt und glücklich macht.
Einer meiner Mitbewohner hat es mal so gesagt: „Am Anfang kennst du Leute, und weißt noch nicht, was passiert. Und dann sitzst du irgendwann nachts aus Zufall mit ihnen am Küchentisch, oder ihr stellt irgendeine Dummheit an, und bist plötzlich mit ihnen befreundet, und es fühlt sich an, als wäre es nie anders gewesen.“ So gründen Lea, Sophia und ich eines Nachts in der Bar den Breakfast Lovers-Club. Wir haben bis heute nicht gemeinsam gefrühstückt, dafür aber gemeinsam mit Katha, Elsa, Sophia, Theresa und Lea literweise Tee getrunken, Nächte durchgefeiert und Probleme aller Art ausführlich erörtert. Gefühlt kennen wir uns schon Jahre – anders kann ich es nicht beschreiben (Ich hab euch lieb).
Zwischen November und Dezember bin ich fünf Wochen am Stück in Freiburg, und habe keinen einzigen Tag Heimweh. Stattdessen ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Heimat so vernachlässige. Das ist ein Punkt, mit dem ich mein ganzes erstes Semester zu kämpfen habe: ist es ok, dem Ort, der 20 Jahre mein Zuhause war, einfach so den Rücken zuzudrehen? Muss ich mich schlecht fühlen, wenn Partys in der Alban-Bar wichtiger werden als die Dorffeste, die ich immer genossen habe? Wherever you go, go with all of your heart – im Dezember wird mir die Tragweite eines Spruches klar, den ich im November mal so beiläufig unter ein Instagram-Bild gepostet habe. Wie schwierig es manchmal sein kann, sein Herz auf einen einzigen Ort zu beschränken, aber ah, es ist auch so erfüllend.
Viel zu schnell kommen die Weihnachtsferien und damit der Tag, an dem ich zum ersten Mal nach fünf Wochen wieder nach Hause fahre. Als zeitgleich das Ortsschild und der Kirchturm am Horizont auftauchen, ich die Haustür aufschwinge und mir der Geruch unseres Hauses entgegenschwingt, wie man ihn nur nach einem Urlaub oder einer längeren Zeit woanders wahrnehmen kann, bin ich schlichtweg glücklich, übermahnt von dem Gefühl „Hier gehöre ich hin“, immer noch, egal wo ich mich sonst noch zuhause fühle. Weihnachten, meine Familie, mein Patenkind, meine Freunde, der Heilige Rausch im Nachbardorf – meine Heimat macht es mir nicht schwer, genau dort weiterzumachen, wo ich am 08. Oktober aufgehört habe. Mir fällt vieles auf, was ich vermisst habe: der Alpenblick bei gutem Wetter, die frische Luft auf dem Dorf, meine Familie den ganzen Tag um mich zu haben, und mit Freunden zusammen zu sein, die ich schon seit immer kenne. Fast genau so luxeriös: eine Toilette, die man sich nicht mit 18 Leuten teilt, die stets auf Anhieb lauwarme Regendusche und das unfassbare Phänomen einer Spülmaschine. Und ehe ich mich versehe, ist es, als hätte das Leben in Freiburg gar nie existiert.
Willkommen zurück
Spätestens an der Ausfahrt der Schnellstraße nach Freiburg-Littenweiler wird mir klar: tut es. Es existiert! Mitsamt allen Menschen, Plänen und Prüfungsterminen. Es ist Endspurt, und das merkt man der Stimmung im Januar auch an. Mein Entschluss steht nach drei Monaten MKW, einem Gespräch mit der Studienberatung und langen romantischen Nächten mit diversen Reclam-Büchern fest: ich werde zum Sommersemester nur noch Germanistik-Veranstaltungen über mein Nebenfach belegen und zum nächsten Wintersemester offiziell Germanistik im Hauptfach studieren. Umso motivierter bin ich beim Lernen für meine Mediävistik-Prüfung im Februar. Dazwischen bleibt trotzdem noch genug Zeit für die schönen Dinge im Leben, und so ist der Januar eine diffuse Mischung aus Teekränzle-Abenden, Mario-Kart-Matches Tag und Nacht, Prüfungs-Glücksshots in der Bar, Bib-Sessions (wusstet ihr, dass verzweifeln auf Mittelhochdeutsch virzwîfeln heißt?) und unvergesslichen Momenten beim Wintertanzball des Wohnheims. Innerhalb von einer Woche passieren außerdem zwei Dinge, die mich gleichermaßen Überwindung kosten: ich gehe mit meinen Freundinnen Klara, Svenja, Judith und Melanie zum ersten Mal im Leben Blutspenden, und lasse mich für das Sommersemester als Tutorin im Wohnheim aufstellen. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht, weil das bedeutet, dass ich auch im Sommer viel Zeit hier und nicht in der Heimat verbringen werde. Aber sowohl meine innere Stimme als auch meine Freunde von Zuhause haben mich darin bestärkt, dass das gut und richtig ist, dass ich mich nicht schlecht fühlen muss, wenn ich hier glücklich bin. (Danke! Ihr seid die allerbesten!)
Und – zack – ist es Februar, ich schreibe meine Mediävistik-Klausur, sitze in meiner letzten Vorlesung der Medienkulturwissenschaft und genieße ein letztes (und einziges) Mal das übermahnende Desinteresse, das die mit Fachwörtern überladene Texte von Mc Luhan, Judith Butlers und Co in mir auslösen. (An dieser Stelle: ich möchte NICHT den Studiengang Medienkulturwissenschaft kritisieren. Ich konstatiere hier lediglich, dass ich persönlich nicht ausreichend Interesse für seine Inhalte aufbringen konnte. Für viele viele andere ist das genau der richtige Studiengang!)
Wenn ich aber so darüber nachdenke, würde ich nichts anders machen. Wenn ich nicht MKW studieren hätte wollen, wäre ich nicht nach Freiburg, sondern nach Konstanz oder Innsbruck gezogen. Wer weiß, ob ich dort genauso glücklich geworden wäre wie hier. Die tollsten Menschen hätten ja schon mal gefehlt.
Semester Nummer 1 liegt hinter uns. Es war Aufregung, Veränderung, Pestonudeln und Mario Kart, Freundschaft, Unsicherheit und definitiv zu wenig Schlaf. Vor allem war es Wachsen, über sich hinaus und mit anderen zusammen. Und ganz bestimmt keine Hölle der Überforderung, wie man das manchmal so hört. Was ich damit sagen will: das erste Semester kann alles sein – es kommt ganz darauf an, was man daraus macht.