Grundriss der alten Synagoge | Kurzgeschichte

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Drinnen war es erst warm und nach kurzer Zeit zu heiß. Die rot gepolsterten Sitzplätze dieser antiken Variante der Straßenbahn waren alle besetzt, und an den Stangen hielten sich Schüler, Eltern und Kinder fest. Ich ließ meinen Rucksack auf den grauen Plastikboden sinken, ungeachtet der Tatsache, dass dort bereits kleine Pfützen von Regenwasser hin und her rutschten. Obwohl so viele Menschen nah beieinanderstanden, oder wahrscheinlich gerade deswegen, herrschte in der ganzen Bahn Stille. Die so laut war, dass sie das Klingen und Quietschen der Räder auf den nassen Schienen überdeckte.  Keiner sprach, ich ja auch nicht. Weil ich niemanden hatte, oder weil ich niemanden haben wollte?

Neben mir an der Haltestange stand ein Mann mit gerötetem Gesicht und gesplitterten Fingernägeln. Über seiner Daunenjacke trug er ein großes Akkordeon, von dem die Regentropfen abperlten. Mit einem Mal wünschte ich mir, er würde es von seinem Rücken nehmen und anfangen, zu spielen.

Ich ließ meinen Blick verschwimmen und versuchte, mir die ersten Töne vorzustellen. Tief und dunkel, wie die Wolken. Fließend, wie der Regen, der aus ihnen fiel. Ich sah seine schroffen Finger über die Tasten wandern, obwohl sie sich direkt vor mir um die Stangen schlossen. Ich hatte sein Lied noch nie gehört. Je mehr Töne aufeinanderfolgten, desto wacher wurden die Menschen. Als es noch still gewesen war, hatte jeder einen Punkt in der Luft gesucht, auf dem er seinen Blick ruhen lassen konnte, ohne dass ihm ein anderer begegnete. Jetzt hatten alle Augen einen gemeinsamen Fluchtpunkt.

Und ich floh. Floh von den Stimmen in meinem Kopf, wobei meine schrill und erstickt klangen und seine nur rau. Unser Streit erinnerte mich an einen im Licht flatternden Nachtfalter: so klein war der Auslöser gewesen, und so schnell hatte er uns in Rage gebracht.  Gestern um diese Uhrzeit war er mir so nah gewesen, wie heute der Mann mit dem Akkordeon. Ich konnte es plötzlich gar nicht mehr ertragen. Dass hier so viele Menschen standen und niemand um die Existenzen wusste, die uns jeweils um den Verstand brachten. Ich hätte ihnen gerne erzählt von ihm, welches Privileg es für jeden einzelnen von uns war, gleichzeitig mit ihm auf der Welt zu sein, und wie weh es tat, dass wir uns jetzt uneinig waren. Es würde keiner verstehen.

Als das Bild vor meinen Augen wieder scharf wurde, und das Lied in meinem Ohr verstummte, nahm ich mir vor, die Welt als das zu sehen, was sie höchstwahrscheinlich war: eine Ansammlung an Geschichten, die bedeutungslos waren außer für die, die darin lebten. Wohin der Mann mit dem Akkordeon wohl ging? Würde er sich in die Fußgängerzone stellen? War er mit diesem Plan heute morgen aufgewacht? Es machte für mich keinen Unterschied, wie die Antworten lauteten. Das war die logische Erklärung für die Stille in der Straßenbahn.

Nach dem Aussteigen trieb mir eine Böe Wind feine Regentropfen ins Gesicht, und das Geschrei eines Kindes erfüllte den Platz vor dem Theater. Tauben landeten auf den Schienen und flatterten wieder davon, sobald sich Menschen ihren Weg durchbahnten. Auf halber Höhe auf dem Weg zur Universität blieb ich stehen. Am Rande des Gedenkbrunnens hatte sich eine Gruppe an Menschen versammelt. Sie umringten einen Aufsteller aus schwarzem Holz. An seinem Fuße stand ein mit Rosen gefüllter Kübel. Eigentlich wollte ich den Regen und die Kälte hinter mir lassen, so schnell es ging, aber ich spähte ihnen über die Schultern und las, was auf dem Aussteller stand.

Legen Sie als Zeichen der Verbundeheit und Ihrer Wertschätzung für die am 22. Oktober 1940 in das Lager Gurs deponierten Jüdinnen und Juden eine Rose auf den Rand des Gedenkbrunnens.

Auf dem Grundriss der Alten Synagoge machten die Regentropfen aus der gespannten Wasseroberfläche ein raues Gewässer. Wie Wellen trieb der Wind das Wasser an den Rand des Brunnens, wo immer mehr Menschen Rosen aus dem Kübel ablegten.

Verweilen Sie eine kurze Zeit in Stille.

Stand auf der Rückseite des Aufstellers.

Langsam reihte ich mich in den Kreis der Menschen ein und kniete mich vor dem Kübel nieder. Meine Finger fuhren die kühlen Blätter der Rosen entlang, bis sie an einer von ihnen hängen blieben und ihren Stiel umfassten.

Vor 80 Jahren hatte der Mann mit dem Akkordeon noch nicht gelebt. Keiner von uns hatte gelebt und die Menschen von damals hatten ihre eigenen Geschichten. Wenn sie sie überlebt hätten, hätten sie gerne davon erzählt?

Ich stellte mir ihre Angst vor. Ihr Leben war zwei Mal in Flammen aufgegangen, obwohl es aus Stein und aus Fleisch war. Ihre Geschichten waren abrupt, und auf eine so falsche Weise beendet worden, dass sie wohlmöglich für immer andauerten. Das hier war ein neues Kapitel: Menschen, die so verstrickt in ihre eigenen Geschichten waren, dass es sie in den Straßenbahnen schweigen ließ, standen 79 Jahre später am Rande des Brunnens und gedachten an sie. Es wäre schön, wenn sie davon wüssten.

Am Aufgang zur philologischen Fakultät lehnte er an einer Wand und ließ die anderen vorbeiziehen, Tür auf, Tür zu, bis er mich in der Menge entdeckte. Wir machten gleichzeitig einen Schritt aufeinander zu. Wobei wir jeweils einen Studenten in die Mitte drängten. Sie stießen gegeneinander und entschuldigten sich mit einem Lachen.

„Hallo.“ Sagte ich über die Stimmen hinweg.

„Hallo.“ Sagte er, rau.

„Lass uns reden.“ Sagte ich.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.