Wie sich das Ausziehen anfühlt | Ein Monat Freiburg

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Als ich meine erste Lichterkette kaufe, ist es März. Sie besteht aus sieben Glühbirnen im Miniaturformat, weil ich keine 0815- Lichterkette haben wollte. Normale Umzugskisten natürlich auch nicht, weshalb ich in stundenlanger Kleinarbeit drei Obstkisten von IKEA zusammenbaue. Die halbfertige Bewerbung für sämtliche Freiburger Wohnheime liegt neben mir auf dem Schreibtisch und starrt mich vorwurfsvoll an. (Ich grinse schuldbewusst zurück).

Ausziehen – das fühlt sich in der Theorie ja einfach an. Verlockend und vielversprechend. Deswegen müssen wir es alle im Alter von circa fünf Jahren ausprobieren, mit gepacktem Köfferchen, erhobenem Haupt und salbungsvollen Abschiedsworten an unsere Eltern. Mein Auszug damals dauert immerhin fünf (!) Minuten, und ich werde nie den Moment vergessen, der mich nach ihrem Verstreichen zur Rückkehr bewegt hat. Ich stehe vor der ins Schloss gefallenen Haustür und denke: „Wo soll ich hingehen, wenn ich hier nicht mehr Zuhause bin?“

Jahre später wiederholt sich das Ganze in ähnlich stürmischer Weise. „Ich kanns kaum erwarten, endlich auszuziehen!“ schreie ich durch das Treppenhaus, und vom Wohnzimmer kommt ein gedämpftes „Wir auch nicht!“ meiner Eltern zurück. Mit 16, 17 Jahren kann ich mir nichts besseres vorstellen, als mein eigenes Reich zu besitzen, in dem mir niemand Vorschriften macht, Grenzen setzt und das Aufhängen von Bilderrahmen an der Wand verbietet (letzteres war, vor ich den ersten Mietvertrag eines Wohnheims gelesen habe). Ich fühle mich zu diesem Zeitpunkt sehr bereit für ein eigenständiges Leben, schließlich kann ich Nudeln kochen und habe eine Top-Liste von 50 Artikeln in der IKEA-App gespeichert.

Bis davon die ersten Artikel, Lichterkette und Obstkiste, eintreffen, vergehen weitere zwei Jahre. Anfang Juli diesen Jahres liegt plötzlich die Zusage meines Wunsch-Wohnheims daneben, und ich bin offiziell im Moving Game angekommen. Nur, bin ich überhaupt noch so bereit wie mein rebellisches, scheinbar grenzenlos mutiges 17-jähriges Ich?

Objektiv betrachtet ist ein Auszug nichts anderes als ein zweckmäßiger Ortswechsel. Ich kann nicht jeden Tag zwei Stunden quer durch den Schwarzwald zur Uni fahren, also ziehe ich dort hin. Wenn das Studium vorbei ist, kann ich theoretisch zurückkommen. Genau so kann ich jedes Wochenende in der Heimat sein, wenn ich es möchte. Und schon ist das Feld an Auswirkungen minimiert. Das Leben könnte fast so weitergehen wie davor. Fakt ist aber, für mich steht der Auszug von zuhause für einen gänzlich neuen Lebensabschnitt. Wie früher im Geschichteunterricht, als wir Zeitstrahle malten und das Ende der Renaissance oder der Antike mit einem Strich markierten. Links vom Strich steht die Zeit, die ich zuhause bei meiner Familie verbracht habe, 20 Jahre lang. Rechts – schön wärs, wenn man das jetzt schon wüsste. Fest steht nur, dass mit dem Auszug eine Zeit unweigerlich und unwiderruflich zu Ende geht. Je näher es diesem Strich zugeht, desto gruseliger fühlt es sich an. Ein Rückzieher kommt für mich nicht in Frage. Früher oder später kommt der Strich sowieso, und für mich ist das Studium der richtige Zeitpunkt, ihn zu ziehen. Die Gewissheit, dass das die richtige Entscheidung ist, trägt mich über die Umstände hinweg. Und ein Spoiler: sobald der Strich gezogen ist, wird es eigentlich nur leichter.

Einem Horrortrip auf dem Freiburger Wohnungsmarkt bin ich dank meiner frühen Wohnheimzusage entgangen. Mir reicht auch, was ich von anderen über Gartenhäuschen, Schimmel-WGs und schlagende Verbindungen gehört habe. Stattdessen lebe ich jetzt im St. Alban-Haus, einem katholischen Wohnheim der Erzdiözese. Ich habe 18 Mitbewohner, die sich faszinierender Weise selten bis nie über Duschen, Klos oder Herdplatten streiten müssen. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wieso, aber es funktioniert. Auf drei Häuser verteilt wohnen hier insgesamt 300 Menschen, und die meiste Zeit fühlt es sich an wie ein Dorf, in dem jeder jeden kennt und Gerüchte nicht ausbleiben. (Dorfversammlung ist dann immer abends in der Bar).

Ein Moment der letzten vier Wochen hat sich besonders eingeprägt: Abend Nummer Eins in Freiburg, ich gehe die spärlich beleuchtete Straße entlang Richtung Supermarkt. Von einem Moment auf den anderen überkommt mich mit voller Wucht die Tatsache, dass das hier das erste von unzähligen Malen sein wird, dass das hier jetzt mein Zuhause ist. Es fühlte sich nicht nach Angst oder Traurigkeit an, aber so aufregend, dass ich es am liebsten schnell wieder loswerden will. Wie es sich für eine Studentin gehört, kaufe ich mir eine Packung Nudeln und ein Glas Basilikumpesto, und steuere den Rückweg an. Aus den Fenstern der drei Wohnheim-Gebäuden scheint warmes Licht, und ich bin so nicht alleine, dass das seltsame Gefühl in mir sekündlich abflacht. Kurz darauf klopft eine Abordnung meines Stockes an meiner Zimmertüre. „Spielst du mit Bierpong?“ Weitere drei Stunden später stehe ich inmitten der gerammelt vollen Alban-Bar, irgendjemand von meinem Stock gibt einen Shot aus und wir stoßen an. Herzlich Willkommen, das ist dein neues Leben.

Dieser erste Abend ist das beste Beispiel dafür, wie die letzten vier Wochen verlaufen sind. Nicht auf den Alkoholkonsum bezogen natürlich (wobei ich mir gestern tatsächlich Beer with me installiert habe, eine besorgniserregende Entwicklung?), sondern auf die Tatsache, dass sich einfach alles richtig anfühlt. Ich genieße es, ständig neue Leute kennenzulernen, mich nie alleine fühlen zu müssen, mich aber immer auf mein eigenes kleines Zimmer zurückziehen zu können. Nach einem Monat ist es schon nicht mehr seltsam, vom „nach Hause kommen“ zu reden.

Ja, es ist ein großer Schritt, von zuhause auszuziehen. Aber was ich mit dieser Berichterstattung sagen will: das Wehtun und die Überforderung und die Sehnsucht nach dem alten Kinderzimmer und dem kleinen Dorf, in dem nichts passiert was man nicht erwartet hätte, ist nur ein winzig kleiner Teil eines wunderschönen, unvergleichlichen Prozesses. In einem Monat habe ich mehr erlebt, mich weiter entwickelt und mehr über mich selbst herausgefunden als gefühlt im ganzen letzten Jahr. Ein Neuanfang kann, wenn wir ihn auf die richtige Weise nutzen, ein riesengroßes Geschenk sein. Und ganz insgeheim weiß ich das schon, seit ich meine erste Lichterkette bestellt habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch tausende Möglichkeiten. Zuhause bleiben, Konstanz, Innsbruck. Dass es Freiburg ist, hat mir irgendwie mein Gefühl gesagt. Dass es richtig ist, haben die letzten vier Wochen gezeigt. Sie waren erst der Anfang, und ich habe keine Ahnung was noch kommt. Aber die Hauptsache ist, dass es ein Guter war.

Jedem der bis hier hin gelesen hat, obwohl dieser Text außer einer kurze Bestandsaufnahme und vielen Lichterketten und Kunstpflanzen nicht viel Brauchbares enthalten hat, wünsche ich eine genauso schöne, inspirierende Zeit, egal ob ihr euch in der selben Neuanfang-Euphorie befindet wie ich oder nicht. Ich glaube, es gibt immer zwei Varianten. Entweder der Anfang gleicht einer Art honeymoon, obwohl sicher auch nicht alles perfekt ist (hello, it´s me), oder es trifft einen direkt die Realität. Nichts von beidem ist der Garant dafür, wie es weitergeht. Denn das haben wir immer selber in der Hand.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.