Petitionen und Proteste – über das Englisch-Abitur 2018

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Seit dem 18. April herrscht in Baden-Württembergs Gymnasien Hochspannung: für tausende von Schülern beginnen die Abiturprüfungen. Erst Deutsch, dann Englisch. Die Hälfte ist bereits geschafft, und als eine dieser Schüler kann ich sagen, dass dieses Gefühl äußerst erleichternd ist.

Zwischen den mitunter nervtötenden Vorbereitungen auf die nächste Prüfung – die Leistungskurse – beschäftigt die Schüler in Baden-Württemberg momentan etwas ganz anderes: die am vergangenen Freitag geschriebene Englisch-Klausur habe, so viele, nicht dem einer Abiturprüfung angemessenen Niveau entsprochen, sie war deutlich schwerer.

Aus diesem Frust, mit dem viele Schüler um 11:30 Uhr aus dem Prüfungsraum gekommen sind, hat sich binnen Stunden eine Art Widerstandsbewegung entwickelt, ein Wunsch, den eigenen Standpunkt vor dem Kultusministerium Baden-Württemberg vorzubringen. Deshalb gibt es jetzt eine Petition, die eine Anpassung des Erwartungshorizontes fordert. Diese Petition auf change.org  haben stand jetzt (22.04.2018,08:04 Uhr) bereits 23 300 Schüler unterschrieben.

Ein Phänomen unserer heutigen Gesellschaft ist wohl, dass es im Internet keine Aktion ohne Reaktion mehr geben kann. Nachdem die Petition, ausgelöst von einem einzelnen Schüler, ins Rollen gekommen ist, haben auch Internetseiten, Radiosender und Zeitungen davon berichtet. Über die Kommentar von Facebook haben sich viele Menschen zu der Petition geäußert. Einige zeigten sich solidarisch mit den Jugendlichen, aber ich hatte den Eindruck, dass er allgemeine Grundtonus – oder viel mehr die genaue Wortwahl – war: Petitionen- so etwas kann auch nur die Jugend von heute anfangen, das ist eine Ausrede dafür, dass nicht gut genug gelernt wurde, eine Ausrede für Faulheit! Schuld sind die Helikopter-Eltern und in ein paar Jahren wird diese „verweichlichte“ Generation unser Land regieren! Ich beschwere mich jetzt auch, weil mein Abschluss 1991 zu schwer war!

Als ich mir die Kommentare durchgelesen habe, hat mich zunächst nicht der Inhalt gestört. Viel mehr war es die Tatsache, dass die meisten dieser Kommentare von Menschen kamen, die – ausgehend von ihrem Alter- nicht selbst in dieser Prüfung saßen. Damit verlieren Sätze wie Stellt euch nicht so an! bereits gewaltig an Aussagekraft. Eine ganz andere Situation wäre es gewesen, wenn einer, der selbst in unserem Jahrgang ist, gesagt hätte: Ich weiß nicht was ihr habt, die Prüfung war nicht übertrieben schwer. Doch diesen Kommentar fand ich nicht.

Die Prüfung war schwer.

Grundsätzlich sind Englisch-Abiturprüfungen immer gleich aufgebaut. Aufgabe 1 beinhaltet einen Sach- oder Literaturtext und Fragen zum Leseverstehen. Aufgabe 2 verknüpft den Inhalt des Textes unter einer thematisch passenden Fragestellung mit den Sternchenthemen, in unserem Fall dem Film CRASH und dem Roman Half Broke Horses (Alternativ ist auch eine Sprachmittlungsaufgabe möglich). In Aufgabe 3 gibt es eine Wahlmöglichkeit – meist zwischen einem der Sternchenthema und einer Landeskunde-bzw. Politik-Aufgabe.

Wir kannten diese Struktur. Ganz abgesehen davon, dass wir bestenfalls den Roman gelesen und den Film angesehen haben, haben wir vor allem die erste Aufgabe intensiv geübt – mit Übungsaufgaben, aber vor allem auch mit Abiturklausuren aus den letzten Jahren. Wie also hätten wir uns besser vorbereiten können? Der Haken lag nicht an der mangelnden Vorbereitung, sondern an der Tatsache, dass in den letzten Jahren nahezu ausschließlich Sachtexte Bestandteil des Abiturs waren. Wir dagegen interpretierten einen Literarischen Text aus Henry Roths Call It Sleep aus dem Jahr 1934. Wenn ich sage interpretieren, dann meine ich das auch so. Die Fragen waren zum Teil reinste Interpretationssache, wie etwa ob er männliche Protagonist nun ignorant oder bossy mit seiner Ehefrau umgeht. Es gibt noch viele weitere Argumente, die die unangemessene Schwierigkeit des Textes rechtfertigen, allesamt nachlesbar im Beschreibungstext der Petition, aber was ich damit sagen will: mit Faulheit hatte der Unmut der Schüler gegenüber Aufgabe 1 grundsätzlich nichts zu tun.

Ich habe oft damit zu kämpfen, wie unsere Generation von oben betrachtet wird. Wir müssen häufig die Kritik erfahren, wir seien verweichlicht und nur noch auf Karriere und Geld aus. Wir hätten verlernt, uns durchzubeißen. Und, und das ist mit Abstand das, das mich am meisten beschäftigt: wir seien nicht mehr rebellisch. Über die gesamte Aussagekraft dieser Vorwürfe würde es sich vermutlich Stunden und Tage diskutieren lassen und ein Buch wäre auch locker gefüllt, aber an dieser Stelle, in diesem einzelnen Problemfall frage ich mich: was wollt ihr denn? Ihr werft uns vor, nicht rebellisch zu sein. Dann starten wir eine Petition der über 20 000 Leute zustimmen, mit dem Ziel, uns gegen die von vielen empfundene Ungerechtigkeit zu wehren, und dann kommt von eurer Seite: Schwachsinn, so eine Petition hätten wir niemals gestartet! Bitte versteht dies nicht als Angriff, aber ich verstehe es einfach nicht. Vielleicht bin ich voreingenommen, weil ich von dem beeindruckenden, sonderbaren Gefühl geblendet bin, plötzlich mit so vielen Menschen meiner eigenen Generation aufzustehen – weil wir das ansonsten wohl wirklich nicht mehr tun. Aber vielleicht ist es auch einfach so, dass die Menschen, die sich jetzt so sehr darüber ärgern, dass wir eine Petition starten, an unserer Stelle genau das Selbe getan hätten, wenn es die internet-technischen Bedingungen zu diesem Zeitpunkt schon gegeben hätte.

Viele bringen der Petition auch ihr Missverständnis entgegen, indem sie sagen, dass der Aufwand nicht gerechtfertigt sei, dafür dass später ohnehin niemand mehr nach der Englisch-Abiturnote fragen würde. Ich persönlich sehe die eine Note an sich auch nicht unbedingt als Problem (ansonsten könnte ich jetzt bereits eine Online-Petition für das Mathe-Abi in 10 Tagen entwerfen ), aber es gibt nun mal Schüler, denen es auf einzelne Punkte ankommt und die sich diszipliniert auf die Englisch-Abitur vorbereitet haben und sich jetzt fragen: was war das denn?
Und ich denke auch, dass uns dieser Leistungsdruck gewissermaßen eingeimpft wurde, ob von Helikopter-Eltern oder von der Gesellschaft allgemein. Im Moment sind es nicht wir, die vorleben, wie wichtig eine gute Arbeitsstelle ist, wie schnell man zum Verlierer werden kann. Viele Schüler schreiben ihre Noten nicht für die Schule, sondern fürs Leben, und zwar für das Karriere- das Akademikerleben. Dass es bei dem Zitat, das einst in meiner Grundschule auf dem hölzernen Deckenbalken geschrieben stand, eigentlich viel mehr um fundiertes Wissen und Erfahrung als um den Notenschlüssel zum Erfolg geht, wird immer undurchsichtiger.

Was auch dazu kommt – und worüber ich ebenfalls Seiten schreiben könnte, weil es mich wirklich ärgert – ist der gravierende Unterschied zwischen einzelnen Bundesländern. Meiner Meinung nach braucht man überhaupt nicht darüber streiten dass Schüler in Bayern und Baden-Württemberg das anspruchsvollste Abitur schreiben, wenn man die Tatsache betrachtet, dass wir fünf Prüfungsfächer haben, dass Mathe und Deutsch verpflichtend sind und eine Fremdsprache ebenso, während in Bundesländern wie Hessen oder Nordrhein-Westfalen Fächer wie Mathe kein Bestandteil der Abiturprüfung sein müssen. Trotzdem bewerben wir uns am Ende alle mit dem selben Recht auf einen Studienplatz – mit Notendurchschnitte, die zum Teil durch hartes Arbeiten erlangt wurden – und zum Teil nicht. Ich kann mir vorstellen, dass diese Ungerechtigkeit dazu führt, dass Petitionen wie diese ins Leben gerufen werden. Wenn wir schon mehr leisten müssen, um den selben Schnitt wie Schüler in anderen Bundesländern zu erreichen, denken sich vielleicht viele, dann wollen wir auch ein gerechtes, machbares Abitur!

Es sind also viele Faktoren, die uns dazu bringen, zu tun was wir tun.

Es ist auch wichtig zu betonen, das die Petition keinen Boykott der Klausur darstellt, keine Neuklausuren fordert. Es geht lediglich um eine Anpassung des Erwartungshorizontes, eine Verständigung zwischen Schüler und Lehrer.

Niemand, der das Problem nicht nachvollziehen kann, muss diese Petition unterschreiben. Es muss überhaupt niemand irgendetwas. Aber ich bin einfach der Meinung, dass wir das Recht haben, solche Dinge durchzuführen, ohne sofort mit Kritik und Spott von oben bombardiert zu werden, mit voreiligen Schlüssen über eine Klausur und eine Vorbereitung, die sie gar nicht selbst erlebt und gesehen haben. In diesem Jahr werden wir alle 18, und wir verlassen die Schule. Unsere Generation ist bereit, eigene Entscheidungen zu treffen und Aktionen auf die Beine zu stellen, und was wir von euch brauchen ist euer Rat- denn ihr habt definitiv mehr Erfahrungen mit dieser Welt- aber nicht euer Urteil.

Und eigentlich, wenn wir alle ehrlich sind, haben wir auch noch ganz andere Probleme an diesem Sonntagmorgen, denn in weniger als 24 Stunden beginnt unsere nächste (und vorletzte!) Klausur.


Stimmen über das Englisch-Abitur 2018:

https://www.youtube.com/watch?v=vYv6urCkKSw

YouTube / Bildungsbucht

Meine persönliche Meinung:

Nach dem Englisch-Abitur war ich ganz kurz der glücklichste Mensch der Welt. Ich hatte den Eindruck, ganz gut durchgekommen zu sein, auch bei den tricky Leseverstehensaufgaben. Die Argumentation, dass das Englisch-Abitur schwieriger als in den vorherigen Jahren war, finde ich aber trotzdem richtig! Ich hatte einfach nie Probleme mit Englisch und hatte mich vielleicht unbewusst auf diese Aufgabe vorbereitet, als ich The first forty-nine stories von Ernest Hemingway gelesen habe. So geht es aber nicht jedem! Deshalb habe ich für die Petition abgestimmt.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.