Sommersonnenwende

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Am 21. Juni steht die Sonne still.

An keinem anderen Tag des Jahres befindet sie sich mittäglich so hoch über unseren Breitengraden, keine Nacht ist kürzer, heller, sommerlicher.
Danach fängt sie an, früher wieder zu verschwinden, und das ist ganz und gar nicht geographisch präzise, aber es bedeutet, dass die Tage wieder kürzer werden, obwohl wir uns noch nicht fühlen, als müsste es so sein.

Ich hätte es wissen müssen, damals, als die Sonne für ganz kurz still stand, und dann, sechs Tage später, dein Leben. Dazwischen wurden die Tage plötzlich kürzer, und dunkler, und ich wünschte, es wäre nur die Rotation eines Planeten gewesen. Ich hätte wissen müssen, wie schnell Zeit vergeht, wenn man einmal nicht hinsieht und denkt, einem würde ein unbestimmtes „Für beinahe immer“ bleiben.

Es hätte ja gar nicht für immer sein müssen. Ich hätte mich auf Verhandlungen eingelassen, wir alle hätten das, wenn uns das Schicksal welche angeboten hätte.
Was hätte ich mir dann gewünscht? Bis ich Kinder gehabt hätte vielleicht. Damit ich ihnen nicht von dir erzählen muss. Und wenn das nicht drin gewesen wäre? Dann zumindest, bis ich nicht mehr ganz so verloren und verwirrt bin in der Welt (wann auch immer das sein mag, weiß da jemand zufällig mehr?)

Da ist so viel, was ich dir hätte erzählen wollen. Wohin ich zum Studieren gezogen bin. Dass ich mein ursprüngliches Studium nach zwei Wochen für beendet erklärt habe, weil ich völlig überraschender Weise die Vorzüge eines Germanistik-Studiums für mich entdeckt habe.
Dass mich diese neue Stadt und das neue Zuhause quasi um 180 Grad gedreht und so, so sehr verändert haben. Und immer immer freier gemacht haben.

Dass mich das Leben an die dunkelsten Orte katapultiert hat, aber danach auch wieder hoch. Dass man Angst ja tatsächlich überwinden kann.

Ich würde dich gerne fragen, wie man es aushält, dass sich mit Anfang 20 ungefähr alles ständig dreht, und ob der Schwindel, mit dem man dann durch die Welt tanzt, quasi zur Show gehört.

Man sagt, die Stimme vergiss man als erstes, und ich bin froh, dass „man sagt“ keine hundertprozentige Korrektheitsquote hat, denn ich höre deine Stimme immer noch in meinem Ohr.

Nach dem letzten Tag im Krankenhaus saß ich in meinem Auto, und es war dunkel, und das war der einzige Moment für lange, in dem ich es wirklich verstanden habe. Dass die Schnittmenge von deinem und meinem Leben mit diesem Tag vollkommen ist, und unwiderruflich zu Ende. Aus dem Autoradio kam in schlechter weil rauschender Qualität ein Lied von a-ha. We could make us a white picket fence, build a home by the foot of the mountain, we could stay there and see how it ends. Genau, dachte ich, wir würden einfach dort bleiben, wo uns der Rest der Welt nicht findet. Und der Krebs schon gar nicht.

Es war lange das Lied, das ich anhörte, um weinen zu können.

Kurz danach kamen die Heißluftballons. Der erste an der Beerdigung, danach immer dann, wenn im Leben gerade mal wieder das Chaos herrschte. Und grundsätzlich am 27. Juni jeden einzelnen Jahres. Ich sehe sie dann an und denke an den einen Nachmittag vor sicher fünfzehn Jahren, als wir einem Heißluftballon im Dorf beim Starten zugesehen haben. Und dann tut es weh, und es ist schön, und du bist da.

Seit vier Jahren bist du trotz allem irgendwie da. Lässt Heißluftballone am Himmel auftauchen und Menschen in mein Leben marschieren, lässt deine eigene Liebe zur Poesie durch meine Adern fließen und deine Worte in meinem Kopf Pirouetten drehen. Und du bist da. Hoffentlich nicht nur in meiner Vorstellung, sondern auch in deiner Realität.

Trauer wird nicht besser mit der Zeit. Dazu müssten sich erstmal die Fakten ändern. Aber wir werden besser, und die Tage ein bisschen heller, und eine Sache habe ich schon besiegt: die Angst, ich könnte dich vergessen. Das werde ich niemals tun.

Am 21. Juni steht die Sonne still.

Aber das Leben

geht tatsächlich

irgendwie weiter.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.