School’s out forever // Brief an mich selbst

Kategorien Tagebuch

Am 07. Juli 2018 endete mit dem großen Abiball meine Abiturzeit. Ein Jahr später blicke ich mit der Reihe School’s out forever ein letztes Mal zurück – auf meine Schulzeit, auf die große Freiheit und neue Herausforderungen.

Liebe Tabitha Anna Teufel,

Kannst du mich überhaupt hören? Ganz hinten vielleicht, inmitten des Applauses, der in deinen Ohren rauscht?

Wenn nicht, denk nicht weiter drüber nach. Wie kann ich es dir übel nehmen, dass du ihn blind und taub genießen wolltest, diesen langersehnten Tag?
Du wirst nie vergessen, wie sich das angefühlt hat, auf dieser Bühne zu stehen und hinter den Besuchern des Abiballs und den Betonwänden der Turnhalle der Zukunft ins Gesicht zu blicken. Diese Zukunft war ein blankes Blatt, wie du es so gerne hast, wenn du eine neue Geschichte schreibst. Keine Linien und kein Karo, die dir die Form vorgeben.

Als du dir ausgemalt hast, wie dein erstes Jahr nach dem Abitur aussieht, wolltest du genau das. Die Ungewissheit, das Neue, Ungeheure, Ferne. Du hattest keine Angst vor falschen Worten und unerwarteten Wendungen.

Hätte dir beim Verlassen der Bühne jemand das Buch mit dem Titel „Jahr 1 nach deinem Abitur“ in die Hand gedrückt, ich weiß nicht, ob du es gelesen hättest.

Die Schönheit von Geschichten liegt darin, sie selbst zu schreiben. Du weißt nie, was im nächsten Satz kommt. Deshalb ist dieser Brief kein Rückblick, keine Auflistung und erst recht kein Befehl. Im Gegenteil, ich bin heute morgen aufgewacht mit dem Gedanken Ich hätte nichts anders gemacht.

Nur, ich wäre vielen meiner Abenteuern der letzten 12 Monate gerne etwas anders entgegen getreten. Bedachter vielleicht. Oder furchtloser. Denn am Ende stehe ich hier, mit einem ganzen Stapel an Erkenntnissen, und die wichtigste ist: ich habe gelebt!

FREIGERÄUMTE PFADE

Und weil Leben Veränderung bedeutet, wirst du eine ganze Weile nur dastehen, und zusehen, wie sich die Dinge ändern ohne, trotz oder aufgrund deines Zutuns.

Freundschaften werden auseinandergehen. Die von denen du gedacht hast, die halten für immer ein bisschen schmerzhafter als die, die immer schon auf Zeit existiert haben. Du wirst dich fragen, was das soll, dass du alles gibst und nichts zurückbekommst bis auf Stille am anderen Ende der Leitung und übergangene Nachrichten. Im einen Moment wirst du dich im Recht fühlen, im anderen absolut erbärmlich. Du tust mir Leid dafür, aber wenn ich dir an dieser Stelle einen Ratschlag geben darf: versuch, ein bisschen früher loszulassen. Halte nicht so lange fest, wenn du das Ende des Seiles schon kommen siehst. Mach dir klar, dass das, was du in Menschen siehst, nicht unbedingt das sein muss, was sie sind. Dass die die bleiben die wichtigsten sind. Und dass die, die gehen, nur Platz machen, für die, die kommen und deinen Blickwinkel weiter machen werden.

Im Vergleich zur Schulzeit umgibst du dich danach nur noch mit denen, die es dir wirklich wert sind. Das ist am Anfang traurig, danach ungewohnt, und am Ende willst du es nie wieder anders. Ja, die große, homogene Gemeinschaft, in der du gerade auf der viel zu kleinen Bühne stehst, kann und wird es in dieser Form nicht mehr geben. Dafür Momente der absoluten Einigkeit mit einem kleinen Kreis an Menschen, mit denen du auch vier Wochen auf einer einsamen Insel überleben würdest.

Not all storms come to disrupt your life, some come to clear your path. – Author unknown

IN DER GROßEN, WEITEN WELT

Reden wir noch ein wenig über solche Begegnungen- sie sind nicht zu unterschätzen. Außerhalb der Blase deiner Kleinstadt-Schule hat jeder Mensch eine andere Geschichte, die sie zu dem gemacht hat, der sie sind. Manche Geschichten sind so spannend, dass du sie am liebsten selber erlebt hättest, andere so schrecklich, die willst du lieber gar nicht hören. Fakt ist: das ist die Welt, und du kannst dich ohnehin nicht vor ihr verstecken. Besser ist es, du öffnest dich ihr und suchst in allem Schlechten das Gute. Das ist vielleicht der einzige Weg, das Gleichgewicht zu halten.

Wenn wir an einem Ort aufwachsen und leben, wird er Stück für Stück zu unserer Realität. Und viel zu schnell auch zu der einzig wahren. Wenn wir dann, egal ob auf Reisen oder in Konfrontation mit anderen Menschen auf andere, uns fremde Realitäten stoßen, haben wir Schwierigkeiten, damit fertig zu werden. Dabei ist genau das der Punkt, an dem du aufmerksam werden musst. Du wirst dieses Jahr erfahren, dass deine Realität bei weitem nicht die einzige und schon gar nicht die einzig richtige ist. Das kann weh tun – in Form von aussichtslosen Konflikten, Kulturschock und Heimweh, von Sehnsucht nach Einigkeit und Altbekannten. Es ist aber auch die größte Chance, deinen Horizont zu erweitern, dich zu öffnen, und neues zu lernen- über dich und die Welt da draußen. Vergesse nie, dass du immer zu 100 Prozent an dem Ort sein musst, an dem du bist, dass du akzeptierst, was ihn ausmacht, und wie die Menschen dort leben.

Ich freue mich so, dass du diese Erfahrung machen wirst! Es ist ein unglaublich bereicherndes Gefühl, andere Realitäten verstehen zu lernen. Manche von ihnen gefallen dir so gut, dass du sie selbst annehmen und mit deiner eigenen vermischen wirst. Das ist der Prozess des Wachsens und der Selbsterkenntnis – genieße ihn, egal wo du bist.

VON DER KUNST, SICH SELBST ZU KENNEN

Die wichtigste Person, die du in diesem Jahr kennenlernen wirst, bist du selbst. Wie in jeder Beziehung geht es auf und ab. Manchmal findest du dich ziemlich scheiße. Das werden keine schönen Tage. Den Spiegel umgehst du dann, so gut es geht, in deiner Vorstellung wachsen die Pickel auf deiner Stirn ins Unendliche, und in dir besteht nur noch ein einziger Wunsch: dich endlich einfach selbst zu mögen.

Good news: das wirst du. Weil alles immer wieder besser werden kann. Irgendwann, um nur einen kleinen Ausblick zu geben, stehst du zum Beispiel in der Küche deiner „ersten eigenen“ Wohnung auf der italienischen Insel Lipari und lachst über dich selbst, weil du das ganze Salz auf der Arbeitsfläche verteilt hast.

In diesem Moment hast du dich gerne, weil du daran geglaubt hast, und für dich selbst eintrittst. Denn langsam aber sicher bist du selbst verantwortlich für das, was in deinem Leben Bedeutung haben soll und was nicht. Dann hören die tausend Möglichkeiten, die du hast, auf, beängstigend zu wirken. Wir leben in einem Land, dessen Bürger verdammt privilegiert sind.

Hör auf dich selbst, und wenn du Angst vor Entscheidungen hast (du wirst dieses Jahr auch deine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, entdecken), ruf dir immer wieder vor Augen, dass es besser ist, einen falschen Weg zu gehen, als stehenzubleiben, solange du den Mut hast, jederzeit umzudrehen.

ZEITLUPEN – TAGE

Verlass dich drauf, dieses Jahr ist der Inbegriff von Veränderung. Aber nicht immer nimmst du sie auch wahr. Manche Tage vergehen wie in Zeitlupe. Das wird sich schwer vermeiden lassen, vor allem in Anbetracht der Tatsachen, dass du über zehn Monate des Jahres in einem Büro verbringst. Zwischen vier weißen Wänden und einem Computer scheint die Zeit ab und zu einfach stehenzubleiben und es schleicht sich die Befürchtung ein, das Leben zu verpassen.

Die Wahrheit ist: diese Zeit ist vielleicht sogar die wichtigste von allen. Hier zeigt sich, ob du bereit bist, durchzuhalten und aus allen Situationen Erfahrungen zu ziehen. Denn das wird dich richtig stolz machen.

VERGÄNGLICHKEIT

Dass alles vergänglich ist, brauche ich dir nicht zu erzählen, das weißt du sehr wohl, schließlich ist schon die Schulzeit regelrecht an dir vorbeigeflogen.

Fakt ist, das wird nicht besser dieses Jahr, das an sich ja schon nur so an dir vorbei rasen wird. Ich fasse es ja gerade gar nicht, dass wir wirklich schon den 07. 07. 2019 haben.

Nichts und niemand kann das aufhalten, deswegen rate ich dir, immer dankbar zu sein für das, was ist. So hast du gar keine Zeit mehr, traurig zu sein, dass etwas anderes gerade vorbei gegangen ist.

Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber es wird auch Tage und Ereignisse geben, die sind einfach schrecklich. Die sind so schrecklich, dass sie sich nicht schönreden lassen. Du wirst vielleicht auch niemals etwas Gutes darin sehen. Manche Verluste werden immer Verluste sein.

Du wirst eine Person verlieren, die du über alles liebst. Es kommt viel zu schnell, und viel zu unerwartet, und du kannst nichts dagegen tun.

Am Ende bleibt die Gewissheit, dass die Zeit mit ihr immer gut war, und keiner sie euch nehmen kann. Das muss reichen, und vielleicht tut es das irgendwann auch.

Das waren ziemlich viele Worte mit ziemlich wenig Inhalt. Am Ende kommt es ja doch, wie es kommt. Ich verspreche dir: du bist bereit. Für alles!

Und jetzt hör auf, über die Zukunft zu sinnieren und imaginäre Briefe zu lesen. Das hier ist die Nacht deines Lebens, sie bleibt auch noch eine ganze Weile ungeschlagen auf Platz 1 der coolsten Nächte.

Und dann kommen neue, und glaub mir, du kannst es kaum erwarten.

Deine Tabitha Anna Teufel

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Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.