May the rain

flow me away

to a place where pain

doesn´t exist

And may the sun

bring me back some

better day

Die Regenrinne war immer noch undicht. Ich setzte mich ins Gras und sah zu, wie die Tropfen aus der breiten Lücke perlten, die die beiden Regenrinnen-Stücke teilte. Tropfen für Tropfen fiel geräuschelos ins Gras, das ebenfalls nass war, wo die Tropfen zu einem großen ganzen Nass wurden. Das Holz des Stalls, die Kronen der Apfelbäume, der Stoff meiner Hose, alles war nass.

Ich wollte alleine sein.

In diesem Moment fühlte es sich an, als würde mich jeder, der sich nicht daran hielt, näher an den Abgrund schubsen, von dem aus ich fallen würde, ins große weite Meer, in dem es noch viel nasser war als auf der Wiese beim Schafstall mit der undichten Regenrinne. Einer hielt sich nicht daran. Johannes stapfte die Wiese entlang auf mich zu, dem Regen trotzend mit kniehohen Gummistiefeln und der knallgelben Regenjacke, die ich mochte, wie alles, was man aus Filmen kannte.

„Da bist du ja!“ sagte Johannes, als er mich erreicht hatte. In seiner Hand trug er den großen Werkzeugkoffer meines Vaters. „Ich muss immer noch die Regenrinne reparieren.“ „Ich weiß.“ entgegnete ich. „Die Tropfen fallen herunter, und dann werden sie zu einem großen Nass und alles ist sinnlos.“ Er warf mir einen schnellen Blick zu. „Du solltest ins Haus gehen, du erkältest dich.“

Ich schüttelte den Kopf und sah ihm zu, wie er an der Regenrinne zu arbeiten begann. Die Ärmel der Jacke rutschten zurück und gaben seine schmalen, muskulösen Arme frei. Wenn er im Sommer tagelang von früh bis spät auf dem Hof gearbeitet hatte, waren sie braungebrannt, aber jetzt hatten wir Mai, und es regnete, und ich vermisste seine braunen Arme, und den Sommer, und die Vergangenheit.

Während er die beiden Teile zusammenzuschrauben versuchte, rumpelte es und im Inneren des Schafstalls begannen die Schafe zu blöcken. „Undankbare Viecher.“ sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Seine blonden Haare wurden dunkler, je mehr Regen auf sie fiel, und die Arme zitterten unter der Belastung.

„Du musst aufhören daran zu denken.“ sagte er.

„Ich muss immer daran denken, wenn es regnet.“

Er war nicht dabei gewesen. Der einzige Tag der Woche, an dem er nicht mit mir mit dem Zug auf den Hof meiner Eltern fuhr, um dort zu arbeiten. Der einzige Tag, an dem er nach der Schule zu seinen Eltern gefahren war, um die vorletzte geschriebene Maturaprüfung zu feiern. Ich war alleine in dem Zug.

Johannes ließ von der Regenrinne ab. Er hatte es geschafft, die beiden Teile waren zusammen. Er kniete sich zu mir ins Gras, achtete nicht auf seine Jeans, die sich augenblicklich vollsog mit Regenwasser. „Es ist vorbei, und niemand kann es rückgängig machen. Es ist nicht gut, sich darüber noch Gedanken zu machen.“

Ich hatte ihn gesehen, den Schatten, der sich von dem Felsen gelöst hatte, wie ein Vogel von den Ästen, um in die Luft zu fliegen, aber der Schatten flog nach unten, in einer Geschwindigkeit die ich nicht berechnen konnte, direkt auf die Steine und Stahlstreifen und Holzbretter einer Gleisstrecke. Ein Engel, der abgestürzt war, bei dem Versuch zu fliegen.

Johannes nahm meine Hand und strich darüber. „Denk an den Sommer. Denk an alles, was wir gemacht haben. Denk an alles, was wir dieses Jahr machen werden.“ „Wird es aufhören, zu regnen?“ fragte ich ihn. Er nickte heftig. „Die Sonne wird jeden Tag scheinen und wir werden auf die Felder gehen und die Lämmer werden größer sein. Es wird ein richtig guter Sommer.“

Ich wusste nicht, wie laut Zugbremsen sein konnten, bis zu diesem Tag. Es hatte trotzdem  nichts genützt. Es war zu spät gewesen, und ich hatte alles gesehen. Wieso hatte ich mir das angetan, aus dem Fenster zu sehen? Ich war Ewigkeiten in dem Zug gesessen, während draußen Polizisten und Katastrophenhelfer herumliefen, und sich die Leute um mich herum umarmten und durcheinander redeten. Ein paar Mal versuchte jemand, mit mir zu reden, mir Fragen zu stellen, aber ich sah immerzu den Schatten vor mir, der sich vom Felsen gelöst hatte, und nicht fliegen konnte. Irgendwann erreichte ich Johannes auf dem Handy, und er fuhr zur Unglücksstelle. Er musste eine halbe Stunde in seinem Auto sitzen, bis wir den Zug verlassen durften. Und ich hattte eineinhalb Stunden in seine Arme geweint.

Der Regen wurde stärker. Johannes zog mich nach oben, bis wir beide standen, und er nahm mein Gesicht in seine Hände. „Alles wird gut.“ Er war nicht dabei. Er konnte nicht wissen, was mit mir geschehen war, seit ich den Schatten gesehen hatte. „Wieso wollen manche Menschen nicht mehr leben?“ fragte ich. Das eintausendste Mal. Es war jetzt drei Wochen her. „Ich weiß es nicht.“ Seine blaue Augen sahen vorbei an meinen. „Lass uns reingehen. Du musst dich unbedingt aufwärmen.“

Wir waren keine drei Schritte gelaufen, da brach die Regenrinne auseinander und die Wassermassen, die sich angesammelt hatten, stürzten als eine Millionen Tropfen zu Boden.

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.