Wenn die Menschen schweigen werden die Steine schreien

Kategorien Weltgeschehen

Alles beginnt mit einem Grund.

Es ist der Grund, wieso wir Donald Trump verachten, oder die AFD. Der Grund, wieso über die Neuveröffentlichung eines 1926 erschienenen Buchs diskutiert wird, und der Grund, wieso unsere gesamte Geschichte überschattet ist, von etwas, das sich nie, nie wieder wegmachen lässt: der Nationalsozialismus. Was in Deutschland zwischen 1939 und 1945, und vermutlich auch noch viel früher und später geschehen ist, lässt sich mit einem Wort eigentlich gar nicht beschreiben. Viel zu vielfältig, komplex und grausam sind all die Dinge, bei denen wir uns heute fragen: wie konnte das passieren?

Unter dem Meer an Begriffen, die uns durch den Kopf schießen, wenn wir das Wort Nationalsozialismus hören, sticht eines aufgrund seines Klanges und der irrsinnigen Bedeutung hervor:

EUTHANASIE.

Der schöne Tod. Es ist so lachhaft, dass man schon wieder weinen muss. Ein schöner Tod in der Gaskammer. Was ist passiert mit unserer Welt?

Etwa eine dreiviertel Stunde Autofahrt von uns weg befindet sich das Anwesen Grafeneck, das im Nationalsozialismus die erste Tötungsanstalt Deutschlands war. Systematisch wurden hier zwischen 1940 und 1941 bis zu 11 000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen ermordet.

Nachdem unsere bisherigen Schulausflüge immer unter einem schlechten Stern standen und wir letztes Jahr nicht im ehemaligen Konzentrationslager Dachau angekommen sind, wagten wir dieses Mal einen neuen Versuch, um die Euthanasie, die wir im Religions- und Geschichtsunterricht so oft besprochen haben, noch einmal auf eine ganz andere Art zu erleben.

Unseren ersten Stopp machten wir im Kloster Mariaberg, wo ich letztes Jahr mein Sozialpraktikum gemacht habe. Hier leben seit sehr vielen Jahren behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen, sie arbeiten, lernen und haben gemeinsam Spaß. Mariaberg als Heim für geistig Kranke und Behinderte gab es aber auch schon, als die Euthanasie-Aktion, die sogenannte Aktion T4 begann. Von zahlreichen Heilanstalten und Wohnheimen Deutschlands wurden Bewohner abgeholt, vermeintlich um sie in ein anderes Lager zu verlegen.

Unter diesen Heilanstalten war auch Mariaberg.

mariaber

Die Gedenkstätte neben der Klosterkirche erinnert an die 61 Menschen, die aus Mariaberg abgeholt und nach Grafeneck gebracht wurden. Auf den Steinen sind die Namen der Opfer nachzulesen. Auch uns kamen viele Nachnamen bekannt vor, aber das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Viel eindrucksvoller für uns alle war es, als wir in verteilten Rollen das Interview einer Journalistin mit zwei Zeitzeugen der Euthanasie lasen. Beide Zeitzeugen waren Bewohner in Mariaberg, als der graue Bus kam und 61 ihrer Mitbewohner mitnahm, vermeintlich auf einen Ausflug, auf den die anderen sogar neidisch waren. Live miterlebt haben sie die Ankunft und Abfahrt der Busse nicht, erfahren, was wirklich passiert ist, haben sie erst viel später. Trotzdem waren ihre Erinnerungen an diese Zeit so nahe, deutlich und greifbar, als wären sie in diesen Minuten neben uns gesessen und hätten es uns erzählt. Es war windig auf dem Berg, trotz der Schwüle in der Luft, und ich hatte das Gefühl, erdrückt zu werden von den Namen, Schicksalen und gesichterlosen Menschen, die den ach so schönen Tod gestorben sind. Ich war wütend. Und so verwirrt, dass ich mir gar nicht ausmalen wollte, wie das erst in Grafeneck sein würde.

stein

Wenn die Menschen schweigen so werden die Steine schreien.

Dieser Satz hat meinen ganzen Tag, den Name dieses Blogposts und den Titel des Videos geprägt. Und glaubt mir, wenn ihr da steht, egal ob in Mariaberg oder in Grafeneck, ihr beginnt, die Steine schreien zu hören.

 

landscape

 

Die Landschaft um Grafeneck ist wunderschön, und ich kannte den Weg dahin schon, aber heute habe ich ihn anders wahrgenommen als sonst, denn es ist genau die Route, die auch die grauen Busse damals genommen haben. Der selbe Weg, die selbe Kilometeranzahl, vielleicht sogar die selben alten Bäume am Straßenrand, in einer Zeit, in der die Realität von damals undenkbar ist. Wenn man die sich windende Straße nach oben fährt, bis man schließlich den Gipfel des Berges erreicht, versteht man schnell, wieso Grafeneck damals zur Tötungsanstalt ausgewählt wurde. Es liegt wirklich so abgeschottet von der Welt, eingebettet in einem großen Tal, still und ruhig, falsche Idylle.

Auch in Grafeneck haben bereits vor dem Nationalsozialismus Behinderte und psychisch Kranke zusammengelebt. Sie wurden jedoch zur Eröffnung der Tötungsanstalt in andere Heime verlegt. Die Gründe sind- in der Denkweise der Nationalsozialisten oder einfach kurz Täter– offensichtlich: in Grafeneck untergebrachte Menschen bekommen zu oft Besuch als dass es nicht auffallen würde, wenn plötzlich Menschen sterben wie die Fliegen. Gott klingt das grausam, aber ich habe diese Denk- und Argumentationsweise heute so oft gehört, dass es schwer fällt, ihrem Ton zu entgehen. Die 11 000 Menschen, die in Grafeneck getötet wurden, kamen also größtenteils aus anderen Anstalten – wir haben eine Liste an Herkunfsorten gesehen, die praktisch gar nicht enden wollte.

blumr

Der erste Eindruck von Grafeneck war aber so überhaupt nicht düster: eine große Landwirtschaft, zu unserer Freude mit Lamas und Schafen die frei herum liefen, und moderne Wohnpavillons mit verschiedenen Namen. Ich muss zugeben, vor dem Ausflug heute habe ich mich so überhaupt gar nicht über Grafeneck informiert, und den anderen ging es gleich, wir hatten also keine Ahnung, zu was Grafeneck mittler Weile fungiert. Es sollte nicht lange dauern, bis wir es erfahren durften, aber dazu später mehr.

 

schild

wall

Zu allererst besuchten wir das Dokumentationszentrum der Gedenkstätte, ein relativ neu erbautes Gebäude, in dem die Geschichte der Euthanasie mit verschiedenen Schautafeln, Bildern und Hörelementen erzählt wurde. Fragt mich nicht wieso, aber die Atmosphäre war schlagartig anders, als wir den Raum betreten haben. Die Bilder von den Opfern, ein Gästebuch dass seit Anfang 2016 ausliegt und schon halb voll ist- alles war so würdevoll und respektvoll, dass ich beinahe eine Gänsehaut bekam.

treppe

Was auf diesem Bild im Hintergrund bereits erkennbar ist, weckte unsere Aufmerksamkeit sofort: eine Art Regal, das voll war von fein geformten Tonfiguren. Mädchen, Jungen, Frauen, Männer – 11 000 Opfer der Aktion T4 in Grafeneck. Ein Künstler hat es sich zur Aufgabe gemacht, jedem der Menschen wieder ein Gesicht zu geben, als Erinnerung und aus dem Drang, das Verdrängte unvergesslich zu machen. Ich bin so begeistert von dieser Idee, und auch wenn noch längst nicht alle Tonfiguren fertig sind, hat das Regal für mich jetzt schon eine große Bedeutung und Beeindruckung für mich.

tonfiguren

Nachdem wir uns umgesehen und etwas gegessen haben, hat uns eine ehrenamtliche Helferin abgeholt, und uns zum Schloss Grafeneck , ganz am Ende der Hochebene, geführt. Was sie erzählt hat, hat mich sehr überrascht: die zur Euthanasie bestimmten Menschen haben das Schloss an sich nie zu Gesicht zu bekommen. Vom Tötungsort ist es ein ganzes Stück entfernt, und es diente eigentlich nur den Tätern – egal ob Ärzten, Brennern oder Köchen- zur Residenz. Mir ist fast schlecht geworden bei dem Gedanken, wie diese – sorry- Scheißverbrecher seelenruhig jeden Morgen ihr Frühstück in dem Schloss eingenommen haben, um dann zum Schuppen zu marschieren und die nächste Tötung vorzunehmen.

täter

Wir sehen euch in euer steifes, verhärtetes Gesicht und versuchem, euch zu verstehen. Wir versuchem es wirklich. Tatsächlich wagen wir den Versuch, in eurer irrsinnigen, verdrehten Gedankenwelt etwas Wahres zu finden. Nicht, um euch am Ende zuzustimmen, sondern nur, um den Hass auf euch kleiner werden zu lassen. Aber die Wahrheit ist, dass es nie eine Erklärung geben wird. Ja, ihr wart verwickelt in ein Konstrukt, dass sich über Jahre aufgebaut hat, ein Kosntrukt, für das ihr nichts könnt, eine Situation, die so oder so verloren war. Ja, die Anweisungen kamen von ganz ganz oben und ihr hattet Angst um euer Leben, so wie wir alle es gehabt hätten. Und doch, die Frage bleibt, und sie wird bleiben.  

Wieso?

schloss

Heute wird das Schloss zur Verwaltung genutzt, außerdem befinden sich dort Therapieräume, eine Pflegestation und mehrere Vortragsräume für Besuchergruppen. In einem davon nahmen wir Platz, um mittels PowerPoint erste Infos über Grafeneck zu bekommen. Die Ehrenamtliche hat alles sehr genau geschildert, ist auf unsere Fragen eingegangen und hat so gut es geht versucht, uns in den Vortrag miteinzubinden. Dabei war auch immer wieder unser geschichtliches Wissen gefragt, das wir leider- bis auf Ausnahmen- nicht hatten, weil die letzten zwei Jahre Geschichte in einem Meer aus Fächern leider schnell mal untergegangen sind. Geschichte 4stündig ich komme! Wann war der Hitler Putsch? Aber so ach so lustig wie ich gerade tue war diese Stunde nicht, denn die Fakten sind hart, da lässt sich einfach überhaupt nichts verschönigen. Angefangen bei den Bedingungen, die man aufweisen musste, um für „schwachsinnig“ und „unnütz“ gehalten zu werden, über die von Lügen nur so strotzende Todesmitteilung an die Angehörige. Ich habe mich mehr als einmal dabei erwischt, wie ich verächtlich geschnaubt habe, bei Briefen in denen Dinge standen wie: „Es tut uns Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn XX an einer Lungenturbukulose verstorben ist.“ Und dann die Unterschrift eines Decknamens, den die Ärzte benutzt haben. Wie viele Lügen konnte ein Mensch ertragen, bis sein eigenes Leben zur Illusion wurde?

Das allerallerschlimmste was ich von heute in Erinnerung habe, ist folgendes: Bei der Verbrennung bei der vergasten Leichen stieg immer wieder Rauch auf, und es machte sich ein markanter Geruch breit – Dinge, die sich nicht vermeiden ließen. Darauf wurden natürlich auch die Kinder aufmerksam, die rund um Grafeneck mit ihren Eltern gelebt haben. Meist wussten die Eltern zu diesem Zeitpunkt schon ungefähr, was dort oben wirklich passierte und wen die grauen Busse brachten. Wenn aber die kleinen Kinder fragten: „Mama, Papa, was machen die da oben?“, wurde ihnen zur Antwort gegeben:

„Da oben werden Engel gemacht!“

Und ich denke, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

engel

 

Als der Vortrag vorbei war, war es gerade halb elf, und ich war einfach richtig fertig. Ich hätte sogar mit den Elftklässlern getauscht, die heute Langzeitklausur in Deutsch hatten und einen wunderbaren Gedichtsvergleich aufstellen durften. Alles besser, als diese schrecklichen Dinge hören zu müssen. Ich weiß auch nicht, wieso ich manche Dinge so nahe an mich ranlasse, obwohl ich genau weiß, dass sie mir nicht guttun, und dass ich danach wieder wach liege oder überdramatische Dinge in meinem Blog fabriziere. Ich war so froh, dass ich mit meinen Freundinnen zusammen war in den Momenten, in  denen gefühlt die ganze Last unserer schwarzen Nazi-Geschichte auf mir lag. Hate it!!!

Nach einem weiteren Stopp im Dokumentationszentrum, bei dem aber eigentlich nichts Neues mehr kam, machten wir uns auf den Weg zu der Stelle, an der einst der Schuppen gestanden ist, den die Nazis zur Gaskammer umfunktioniert haben. Ich erinnere mich dunkel an ein Bild in unserem Geschichtsbuch letztes Jahr, auf dem der Schuppen zu sehen war- in einer Bildqualität, die sogar mein LG-Handy noch locker toppt. Heute ist davon nichts mehr zu sehen, abgesehen von vier Backsteinen, die den Standort des Schuppens symbolisieren. Aber insgesamt ist dieser Fleck Erde so unscheinbar, dass man ihn fast übersehen könnte. Was seltsam ist, aber irgendwie auch gut. In Grafeneck steht heute das Leben im Mittelpunkt, und nicht der Tod, so viel steht fest.

stelle

Zum Schluss waren wir dann noch bei der eigentlichen Gedenkstätte, die erbaut wurde, um an die Opfer zu erinnern. Es gibt dort ein Buch, mit allen Namen, ein Altar mit Kerzen und einen „Alphabet-Garten“, symbolisch dafür, dass man mit den 26 Buchstaben die Namen sämtlicher Euthanasie-Toten formen kann. Das Dach der Gedenkstätte steht auf 5 Säulen, eine Erinnerung an das 5 . Gebot: Du sollst nicht töten.

grablichter

 

gedenkstein

riss

 

kreuz

An der Gedenkstätte haben wir dann auch noch etwas diskutiert, was ganz aktuell ist. Denn Grafeneck ist mittler Weile wieder ein Lebensraum für Behinderte und psychisch Kranke geworden. Als wir das beim Reinlaufen festgestellt haben, waren wir erst mal total entsetzt. „Das kann man doch nicht machen!“ haben wir gesagt und: „Ich würde meinen Behinderten Verwandten da nicht hinbringen!“ Denn trotz all den Änderungen dieser Zeit bleibt die Angst. Grafeneck ist immer noch abgeschottet und von der Vergangenheit beschattet, was, wenn alles wieder anders kommt? Man sieht es ja jetzt wieder, dass die Politik sich in eine Richtung bewegt, die scheinbar keiner will, aber irgendwoher müssen die rechten Wähler ja auch kommen. Das Leben ist so unberechenbar, wie lebt man mit der Angst, das Schlimme könnte zurückkehren?

Doch je länger wir darüber nachgedacht haben, desto mehr fanden wir es auch gut, dass Grafeneck heute wieder das ist, was es auch vor der Euthanasie war. Jetzt erst recht! könnte man sagen. Und Grafeneck tut viel, um die Vergangenheit a) nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und b) zu trennen von der Gegenwart.

Denn jetzt, das kann ich nach dem heutigen Tag sicher sagen, ist Grafeneck kein Ort des Todes, sondern ein Ort des Lebens.

Auf der Busfahrt nach Hause war es komisch. Die Jungs hatten die Box an, wir sangen  „Those were the best days of my life“ weil die Jungs fanden dass „Summer of sixty nine“ ein Kulthit war, und diskutierten über den Schärfegrad von Shawn Mendes, aber etwas war anders. Vielleicht meine Sichtweise.

Ich sitze hier mit meinen Freunden und Freundinnen, ich bin gesund, ich darf zur Schule gehen, in zwei Tagen beginnen die Pfingstferien und mir steht die Welt offen. Ich lebe in einem Land, in dem man anders sein kann und trotzdem leben darf.

Jetzt gerade geht es mir gar nicht gut. Natürlich war es der Fehler des Jahrhunderts, diesen Blogpost abends zu schreiben, weil ich genau weiß wie das meinen Schlaf beeinflussen wird. Ich habe um halb sieben angefangen mit Video schneiden, Bilder bearbeiten und schneiden, und jetzt ist es 21:43 und ich bin endlich fertig. Aber es war mir so wichtig! Denn wir alle sind GEGEN DAS VERGESSEN!!!!

Sorry für diesen Depri-Eintragen, aber das Leben hat helle und dunkle Seiten, und beide muss man sehen.

Falls ihr mich übrigens in den nächsten paar Tagen sucht, ich bin im besten Zeltlager der Welt, um mir die helle Seite noch mal genauer anzusehen 😉

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.