Pandemie der Graustufen

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Eigentlich wollte ich diesen Text nie schreiben. Wir sind dieses Thema alle leid, und wer an dieser Stelle den Browser wieder schließt, dem gilt mein vollstes Verständnis. Es haben bereits genug Menschen mit mehr Reichweite gesagt, was es zu sagen gibt. Und wenn eine gute Fee in mein Germanistik-Seminar spazieren würde, während dem ich diesen Text gerade schreibe (tut mir Leid Maria Stuart, aber die Gegenwart ist ein bisschen akuter als dein dramatischer Tod), hätte ich genau einen Wunsch: dass ich ihn nicht schreiben müsste.

„Das ist mein Sprachrohr“, steht in der Beschreibung meines Blogs. Daran habe ich mich erinnert, als ich überlegt habe, ob die Welt meine Meinung zum Thema Impfen braucht. Vermutlich nicht. Aber ich brauche mein Sprachrohr. Ich muss es loswerden. Und ich denke an etwas, das ich gelernt habe: wir Menschen wurden mit Köpfen, Ohren und Stimmbändern geboren – wir können kommunizieren. Praktisch eigentlich. Ich würde gerne dieses nette, innovative Feature der Evolution nutzen und reden, zumindest im übertragenen Sinn. Und weil wir uns auf meinem Sprachrohr befinden, ist das meine Meinung. So viel vorweg.

Machen wir’s kurz: SARS-Cov-2 wird bald zwei Jahre alt -happy birthday- und hat Stand heute 101 000 Menschen in Deutschland das Leben gekostet. Heute vor einem Jahr hatten wir niedrigere Inzidenzen, aber einen Lockdown, der von der light-Version zur Wellenbrecher-Edition zum Weihnachtsrettungs-Lockdown zum Wir-sind-diesem-Virus-sowasvon-ausgeliefert-Lockdown eine bemerkenswerte Karriere hingelegt hat. Und dann? Kam die Impfung. Die Infektionszahlen sanken, Impfungen schützten vor schweren Verläufen und es starben weniger Menschen. Die Impfung reihte sich in das Regime aus Kontaktbeschränkungen, Abstandsgeboten und Tests gegen das Virus ein und ersetzte sie teilweise. Aber nur für die, die sie wahrnahmen, und das sind bis heute 68,3% der deutschen Bevölkerung. Die aktuellen Entwicklungen der Fall- und Hospitalisierungsinzidenzen zeigen: es reicht nicht.

Die Intensivstationen sind voll, die Ärzte und Pflegekräfte am Anschlag. Das Angstwort Triage steht wieder im Raum. In Psychiatrien ist sie schon an der Tagesordnung, wer nicht akut suizidal ist, muss wieder gehen. Es ist wie letztes Jahr, nur noch ein bisschen schlimmer. Weil die Zahlen noch höher sind. Weil unsere Kapazitäten für den Bereich „Emotionale Bewältigung einer globalen Pandemie“ ungefähr seit April erschöpft sind. Und vor allem, weil diese Situation vermeidbar wäre. Ich zitiere hunderte von Wissenschaftler*innen auf einmal: die Impfung ist der Weg aus der Pandemie.

Die Argumente für die Impfung sind allgemein bekannt: eine Impfung verringert das Risiko einer Infektion und das eines schweren Verlaufs, und sie sorgt auch dafür, dass bei einer Durchbruchsinfektion das Ansteckungsrisiko für andere gesenkt wird. Damit werden Infektionsketten unterbrochen und es wird verhindert, dass die Gesundheitsversorgung an ihre Grenzen kommt. Die Gefahr einer Impfkomplikation liegt weit unter dem Risiko gesundheitlicher Folgen einer Corona-Infektion.

Über „die Ungeimpften“

In meinem direkten Umfeld gibt es niemanden, der sich gegen eine Impfung entschieden hat. Dadurch hat sich in meinem Kopf völlig automatisiert das Bild eines Ungeimpften als gleichgültigen, unsolidarischen Menschen entwickelt der sich über die Erkenntnisse der Wissenschaft hinwegsetzt und bewusst eine Gefährdung seiner Mitmenschen in Kauf nimmt. Wie immer im Leben sind die Dinge aber nicht schwarz weiß. Wir leben in Graustufen, und in denen bekommen diese Menschen Gesichter. Durch Ausflüge in die Kommentarbereiche von Facebook und Instagram und einige sehr intensive Gespräche konnte ich zumindest ansatzweise erfahren, welche Gefühle Menschen dazu bewegen, sich nicht impfen zu lassen: Misstrauen, Angst, Überzeugung, Stolz und Trotz. Misstrauen und Angst, von der „bösen Regierung“ oder der „falschen Pharmaindustrie“ hintergangen zu werden, Überzeugung, eine Covid-Infektion sei grundsätzlich nicht gravierend, und ein Stolz, der über den gesamten Zeitraum der Pandemie so lange gewachsen ist, bis es sich in die Identität von Menschen eingebrannt hat, Impfgegner zu sein. Und wie könnten sie jetzt davon abweichen, ohne sich selbst zu verraten? Letzteres verstehe ich ansatzweise. Ich hätte auch keine Lust, mir als Impfgegner zusätzlich zur Spritze um die 108234 Sprüche nach dem Motto „Wir haben es dir doch gleich gesagt“ abzuholen. Die Überzeugung der Impfgegner an sich ist für mich dennoch absurd. Besonders schwierig finde ich es, wenn Menschen mit Angst vor der Impfung argumentieren, während gleichzeitig die Faktenlage eine klare Entwarnung ausstellt. Aber Fakt ist: es sind Gefühle. Die lassen sich in aller Regel nicht ausbauen und neu programmieren. Und wenn sie kleingeredet und von Außen revidiert werden, schwellen sie stattdessen ins Unermessliche an.

Davon ausgehend erklärt sich, weshalb die Impfkampagne seit Monaten stockt: je mehr Menschen mit Anti-Haltung unter Druck gesetzt werden, desto mehr sehen sie ihre so starken, für sie logischen Gefühle in Gefahr, und im Endeffekt wächst die Anti-Haltung weiter. Die einzig entscheidende Frage bleibt aber: wie bekommen wir so viele Menschen wie möglich geimpft, wenn wir gegen derartige Windmühlen kämpfen? Die Windmühlen sind nämlich nicht die Gefühle an sich, sondern die Prägungen und Traumata und Erfahrungen, die sie ausgelöst haben, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen, und sich offenbar nicht ohne Weiteres mit medialer und ärztlicher Aufklärung beseitigen lassen. Erst langsam verstehe ich, wie vertrackt Graustufen in einer Pandemie wirklich sind: es gibt eben nicht “ den Ungeimpften“, den ich mir selbst lange vorgestellt habe. Im Umkehrschluss gibt es auch nicht „Die Lösung für den Ungeimpften“. Lange lag die Hoffnung von Regierung und Gesellschaft darin, die Menschen von der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen, sodass die Impfung freiwillig erfolgt. Das hat aber lediglich bei 68,3 % funktioniert – unter Berücksichtigung, dass es viele Menschen gibt, die sich gerne impfen lassen würden, es aber aus gesundheitlichen Gründen, oder weil sie zufällig Kinder sind, nicht tun können.

Spaltung der Gesellschaft

Ein Modell, das in vielen Bundesländern mittlerweile umgesetzt ist, ist ein konsequentes 2G / 2G-Plus-System, in welchem Ungeimpfte von weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen werden. Hieraus entstehen seit Monaten Vorwürfe einer „2-Klassen-Gesellschaft“ und einer „Diskriminierung“. Ersterem stimme ich zu. Wenn man so will, gibt es mittlerweile zwei Klassen, getrennt durch einen vorhandenen oder nicht vorhandenen Status winziger Antikörper im Blut. Zu all den anderen Faktoren, die die Gesellschaft auch schon in prä-pandemischen Zeiten gespalten haben, gesellt sich eine sichtbare Unterteilung in „Geimpft“ / „Ungeimpft“ hinzu. Gewissermaßen ist diese Spaltung in zweifacher Ausführung vorhanden: auf einer moralischen Ebene, und der physisch- faktischen Ebene.

Anders als es Sahra Wagenknecht formuliert, ist das Impfen aus meiner Sicht eine moralische Entscheidung. Wer sich gegen das Impfen entscheidet, entscheidet sich für eine erhöhte Gefährdung der Mitmenschen, für eine potentielle Überlastung der Krankenhäuser, für eine gesellschaftliche Belastung durch notwendige Kontaktbeschränkungen. Auch das Auftreten der Variante Omikron zeigt die Bedeutsamkeit der Impfung auf: sie ist in Ländern entstanden, in denen das Virus aufgrund unzureichender Impfversorgung aktiver war. Je mehr Virus, desto mehr Gefahr zur Mutation.

Indirekt leiden so nicht nur das Gesundheitssystem und – im Falle einer Ansteckung – die vulnerablen Gesellschaftsgruppen, sondern auch die Schulen, die Universitäten, die Gastronomie, der Einzelhandel – und jeder einzelne, der keine Kraft mehr für einen weiteren Lockdown hat. An dieser Stelle spüre ich meine eigene emotionale Haltung sehr deutlich. Für eine lange Zeit war ich dankbar dafür, wie wenig mich die Pandemie vergleichsweise belastet. Weder ist jemand in meinem Umfeld schwer erkrankt oder gestorben, noch hat mich die Pandemie in finanzielle Engpässe gebracht. Ich war nicht mal einsam in meinem Wohnheim. Aber erst, seit ich zum ersten Mal wieder reisen war, jeden Tag zur Uni fahre und in echt mit Menschen über Literatur rede und neue Menschen kennenlerne und nicht mehr hundert Prozent meiner Zeit am selben Ort verbringe und mit meinen Freunden ein Wochenende auf einer Hütte verbracht habe, begreife ich, wie viel mir – uns allen – wirklich gefehlt hat, und wie massiv sich das Gefühl von Verzicht und Eingeschränktheit auf unser Wohlbefinden auswirken kann. Am meisten belastet hat mich das quälende Verantwortungsgefühl: ist es in Ordnung, mich jetzt mit drei Freunden zu treffen? Stecke ich auch wirklich niemanden an? Fragen, die wir uns in unserem Alltag nicht stellen sollten. Das ist keine Kritik an den Lockdown-Maßnahmen der Vergangenheit. In Zeiten vor Schnelltests und Impfungen waren sie unsere einzige Chance, dem Virus zu entgehen. Aber jetzt – können wir impfen. Und jeder, der dieses Werkzeug bewusst ablehnt, trägt dazu bei, dass wir früher oder später wieder auf andere Werkzeuge zurückgreifen müssen, die dann alle betreffen: zum Beispiel generelle Lockdowns.

Eine Alternative dazu ist der Lockdown für Ungeimpfte. Hier sind wir auf der physisch-faktischen Ebene angelangt. Denn die Zweiteilung zwischen Geimpften und Ungeimpften beruht in erster Linie auf dem wissenschaftlichen Konzept der Schutzwirkung der Impfung. Würden wir Ungeimpfte und Geimpfte weiterhin zusammenlassen, würden die Ungeimpften sich rasant schnell gegenseitig mit der hochansteckenden Delta-Variante infizieren. Geimpften kann das auch passieren, und sie können sich auch gegenseitig anstecken, aber sie werden in aller Regel keinen schweren Verlauf erleiden, und entsprechend nicht die Gesundheitsversorgung belasten – die Ungeimpften aber schon. Deswegen ist es auch nicht damit getan, Ungeimpfte mit einem Testzertifikat an allem teilnehmen zu lassen, denn die Gefahr, dass sie von Geimpften angesteckt werden und anschließend mit einem schweren Verlauf im Krankenhaus behandelt zu werden, ist damit nicht gebannt. Dass Ungeimpfte beispielsweise keine Restaurants mehr betreten dürfen, ist also in erster Linie nicht auf eine moralische Disziplinierung zurückzuführen, sondern auf den Fakt, dass es für sie – und für die Gesellschaft- gefährlich ist. Die Instagram-Bloggerin @chaarlottchen schreibt hierzu:

Was die anderen zwei Wege aus der Pandemie betrifft: es bestände die Möglichkeit einer Impfpflicht. Nachdem Fälle von Infektionen in Alten- und Pflegeheimen aufgetreten sind, frage ich mich, warum es dies zumindest für einzelne berufliche Bereiche noch nicht gibt, während die indirekte Impfpflicht in Frankreich bereits seit Monaten existiert. Zur Debatte um die Impfpflicht empfehle ich ein Video der Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim, dem ich (als absolute Nicht-Wissenschaftlerin) nichts hinzufügen kann.

Und die letzte Möglichkeit? Wir lassen alles so, wie es jetzt ist. „Wahrscheinlich wird am Ende des Winters jeder geimpft, genesen oder gestorben sein“, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gerade gesagt. Eine klare Auflistung. Die Ausmaße dieser Realität will ich mir gar nicht vorstellen. Wie werden die Pflege – und Krankenhauspersonal, die Bestattungsunternehmen, Angehörige der Toten und Risikopatient*innen das verkraften?

An den Grenzen der Empathie

„Die restliche Bevölkerung wird gerade an die Grenzen ihrer Fähigkeit zu Empathie und Solidarität gebracht“, sagt Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Video. Genau dort fühle ich mich gerade: an der Grenze meiner Empathie und Solidarität. Gleichzeitig frage ich mich, ob ich ein schlechter Mensch bin, weil ich es nicht mehr schaffe, Empathie für die Ungeimpften aufzubringen. Ich möchte nicht radikal denken und pauschalisieren. Nie habe ich vor der Veröffentlichung eines Blogposts so lange gezögert. Ich möchte nicht zu der hasserfüllten Debatte beitragen, die ich mir die letzten Wochen über auf Instagram reingezogen habe. Ich weiß, wie viel Uneinigkeit und Spannung all diese Graustufen mittlerweile bergen. Kürzlich bin ich in ein Gespräch mit einer Mitstudierenden gekommen, die nicht an die Wirksamkeit der Impfung glaubt und deswegen ungeimpft bleibt. Ich konnte ihre Argumentation nicht nachvollziehen. Aber weil sich die Kommilitonin ohnehin bereits „diskriminiert“ fühlt und ich ihr in dem Moment nicht zu nahe treten wollte, habe ich nur gesagt, dass die Schutzwirkung der Impfung zur Verhinderung eines schweren Verlaufs bewiesen ist, und bin danach ratlos zurückgeblieben. Schaffe ich es nicht einmal, in einer direkten Konfrontation selbst zu meiner Meinung zu stehen? Oder gehe ich schon davon aus, dass ich in fünf Minuten im Seminarraum sowieso keine Veränderung in ihrem Denken bewirken werde? Mein einziges Fazit: Ich bin ratlos. Und ziemlich fertig mit der Welt.

Ich will keine Wut für eine Gruppe von Menschen in mir tragen. Ich wünsche mir auch, dass es keine Spaltung und keine Unterscheidung zwischen „Geimpft“ und „Ungeimpft“ gäbe, denn natürlich sind wir Menschen mehr als unser Antikörper-Status. Aber dazu müsste es erstmal Covid-19 nicht mehr geben, oder in anderen Worten: Ich sehe keinen anderen Weg aus der Pandemie als mit der Unterscheidung zwischen „bestmöglich vor den Auswirkungen des Virus geschützt“ und „nicht geschützt und gefährlich für sich selbst und die Gesellschaft“.

Wenn in den nächsten Tagen ein Lockdown kommt, werde ich mich an die Maßnahmen halten. Es wird mir aber sehr viel schwerer fallen als die letzten Male. Weil ich daran denke, dass dieser Lockdown hätte verhindert werden können. Weil ich die Freiheit, die wir uns gerade erst zurückerkämpft hatten, schmerzlich vermissen werde. Weil ich mich dann fragen werde, wie viele Lockdowns wir noch erleben werden, weil sich Menschen gegen die Impfung entscheiden.

Ein Zitat von Max Frisch lautet: „Schreiben heißt, sich selbst zu lesen“. Erst jetzt, nach diesem Text, wird mir bewusst, wie sehr meine Wut in den letzten Wochen gewachsen ist. Diese Zeit besteht aus viel zu vielen verschiedenen Graustufen. Vielleicht ist das einzige, was in solchen Momenten noch hilft, sich den Himmel anzusehen. Der ist wenigstens beständig weiß.

Maria Stuart wünscht sich auch, dass ich meine Aufmerksamkeit mal wieder ihr zuwende. Die war schließlich schon 1557 im Lockdown, pardon, in der Gefangenschaft. Und das für ganze 18 Jahre.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.