Out of the comfort zone

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Manchmal glaube ich, die gesamte Menschheit lässt sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Zwischen all diesen komplexen, in einander verworrenen Gegensätzen, Gemeinsamkeiten, Konflikten und Eigenarten gibt es diese zwei große Bereiche, und die Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gruppe definiert ein Mensch mehr, als er es vielleicht glauben will.

Man schreibt uns, den Jugendlichen dieser Generation, gerne zu, zu polarisieren. Extrem- oder Schwarz-Weiß-Denken nennt man das auch. Wir lieben und wir hassen. Da dieser Vorwurf ohnehin über uns schwebt, kann ich nun guten Gewissens sagen dass Gruppe 2 das „krasse Gegenteil“ der ersten Gruppe ist. Es gibt in allem auf der Welt mehr oder weniger starke Ausprägungen, aber im tiefsten Inneren eines jeden Menschens liegt eine Veranlagung, die 1 heißt oder 2; 1,2 oder 2,2 gibt es nicht.

Gruppe 1 der Menschheit schätzt ihr eigenes Leben. Und zwar so sehr, dass sie mit allem in ihrer Macht Stehenden versuchen, es zu bewahren, genauer: es in der von ihnen geplanten Spur zu halten. Alles soll so laufen, dass es perfekt ist, Schule, Ausbildung oder Studium, Job, Karriere, Familie. Ein Dach über dem Kopf, vielleicht ein kleines Häuschen oder die ganz große Luxusvilla.Über allem schwebt unsichtbar und gigantisch groß das magische Wort: SICHERHEIT. Dieses Ziel fordert seine Tribute: nur keine Risiken eingehen, nicht die alltägliche Komfortzone verlassen und in die Gefahr laufen, sie für immer zu verlieren. Einen Schritt vor den anderen, geradeaus. Alles wird durchdacht, geplant, gesichert.Eine Lebensweise, die der Angst und dem Elend keinen Platz räumen will, aber letztendlich doch von beidem geprägt ist. Ich bin mir sicher, dass jeder solche Menschen kennt, aber ich zweifle daran, dass man selbst erkennt, wenn man zu Gruppe 1 gehört.

Gruppe 2, das sind die Abenteurer unter den Menschen. Die, die sich kopfüber ins Leben stürzen und sich, ganz nach dem Sinnbild der Epikur, jeder Lebenslage mit voller Emotion hingeben.
Ich weiß nicht genau, wie viel Plan dahinter steckt. Vielleicht gibt es einen Lebensplan, Da will ich hin oder So möchte ich später leben, was jedoch dazwischen steht und wodurch die festgesteckten Ziele erreicht werden bleibt nicht selten offen.Ich glaube nicht, dass Abenteurer keine Risiken kennen, sondern viel mehr, dass sie die Risiken in Kauf nehmen, sie als Währung sehen, mit der man sich die Freiheit kauft. Freiheit ist, an jeden Ort der Welt oder in jede denkbare Situation zu gehen, im Bewusstsein der Risiken aber mit Sehnsucht nach Abenteuer. Wo Gruppe 1 an ihre Grenzen stößt, beginnt für Gruppe 2 das pure Leben, mit allen Turbulenzen, Flutwellen und Gefahrenstellen, die man sich denken kann. Abenteurer sind nicht furchtlos, aber sie erkennen die Angst vielleicht als etwas zu akzeptierendes, während Gruppe 1 versucht, sie zu vermeiden wo immer es geht.

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Ein Trend, der aktuell aufkommt, nennt sich Staycation. Zuhause bleiben, wenn alle anderen in den Urlaub fahren. Nicht etwa aus Geldsorgen oder Geiz, sondern mit der festen Überzeugung, dass es sich in der alltäglichen Komfortzone besser entspannen lässt als an neuen, fremdem Orten. Von dem gefürchteten First-night-syndrom wird gesprochen, der Alarmbereitschaft einer Gehirnhälfte, die sich wohl erst nach Tagen legt. Travelling is a waste of time lautet ihr Motto, oder besser – das Mantra, mit dem sie sich von den Vorzügen des Zuhause bleibens überzeugen.Die Jugend von heute jubelt auf. Hier lässt es sich wieder einmal vorzüglich polarisieren, oder was denken Sie, zu welcher Gruppe der Menschheit die Staycation- Bewegung gehört?

Von Geburt an prasseln auf uns täglich Eindrücke ein, weise Stimmen die uns die Zukunft voraussagen wollen, Ratschläge, Normen bis zu Vorschriften. Das Gruppengen in uns ist wohl nicht nur Veranlagungs- sondern auch Erziehungs- und ganz sicher Erfahrungssache.

Zu welcher Gruppe ich wohl gehöre, ist mir spätestens im Alter von 15 Jahren klar geworden, an einem sonnigen Julitag, an dem ich zum ersten Mal alleine verreist bin. An diesem Tag hängt meine Ewigkeit. Ein knappes Jahr später winkte ich meinen Eltern zu und stieg ohne sie in ein großes Flugzeug, das mich über Istanbul nach Shanghai brachte.In zwei Jahren mache ich meinen Schulabschluss, und bereits jetzt ist die am meisten an mich gestellte Frage: „Und was machst du danach?“

„Ich werde auf jeden Fall erst einmal ins Ausland gehen!“

Polarisierend, wie wir laut den Erwachsenen zu sein habe, ist es mir eine Freude ihre Reaktionen einzusammeln und sie in den Tiefen meines Kopfes zuzuordnen. Da ist die, die die Augenbrauen hochzieht und mich fragt, ob ich jetzt auch unter die Aupair-Mädchen gehen will, und nachhakt ob ich von den zahlreichen sexuellen Missbrauch-Fällen dieser Art weiß.Und widerum der, der mit leuchtenden Augen und einem Zwinkern fragt, in welches der, zugebenermaßen nicht wenige, „Auslände“ es denn gehen würde. Polarisierend würde ich mal ganz einfach sagen: Gruppe 1, Gruppe 2.

Meiner Erfahrung nach überwiegt Gruppe 1 heute vielmals. Alle wollen sie uns weismachen, wie perfekt ihr Leben in der Komfortzone ist, wie einfach es laufen kann, wenn man sich nur direkt nach dem Schulabschluss für eine Ausbildung beim heimischen Holzverarbeiter entscheidet. Wie gefährlich es ist, in der großen weiten Welt, wie rückschrittlich manche Länder sind. Kriminal-Indexe werden genannt, Mordziffern aufgeführt, unwillkürlich auswendiggelernt vom zahllosen Aufsagen .Von Krankheiten ist die Rede, genauso wie von Flugzeugabstürzen, Überfällen, Fremdenhass.

Als ich einmal irgendwo erwähnt habe, dass ich gerne in Salzburg studieren würde, gab ein Mädchen hastig zu bedenken, dass die Österreicher aber sehr fremdenfeindlich und sensibel auf die Deutschen reagieren würden, selbstverständlich zurückzuführen auf die ja noch nicht all zu lange zurückliegenden Zeiten des Nationalsozialismus.Ihre Bedenken konnten mich nicht länger beunruhigen, allerdings bin ich bin mir jetzt nicht mehr ganz schlüssig über ihr Geburtsjahr. Ob sie vielleicht ein eingeschleuster Spion aus einer anderen Generation ist, der sich ein bisschen verzettelt hat? Wir sind doch die mit dem Polarisieren, nicht mit dem Pauschalisieren oder?

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Wenn ich länger darüber nachdenke, will ich eigentlich nicht weiter mehr oder weniger sachliche Statements dazu abgeben, sondern die Menschen anschreien. Habt ihr denn nie begriffen, was es heißt, zu leben? Habt ihr nie den Wind in euren Haaren gefühlt als die Achterbahn in den freien Fall raste? Was ist mit dem Kribbeln im Magen wenn das Flugzeug abhebt, und mit der verfluchten, unvermeidbaren Unruhe bei den freundlichen, außerplanmäßigen Durchsagen? We´re having a few turbulences. Please remain sitting and fasten your seatbelts. Thank you.

Seid ihr nie bei Sonnenuntergang im Meer gewesen, als ein winziger Punkt eines großen Ganzen, mit dem Rücken auf der Wasseroberfläche und einem klopfenden Herzen?

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Überhaupt, dieses Herz. Es klopft zu jeder Zeit. Der Atem geht ein und aus, aber doch eigentlich nur in der Hoffnung, euch geraubt zu werden weil ihr etwas ganz und gar unglaubliches seht, hört, erlebt. Aber ist euch aufgefallen, dass ihr niemals in eurem Alltag an das Atmen denkt? Das geschieht von ganz allein, das macht der Körper selbstständig. Man muss sich also nicht hinsetzen und ihn überwachen, und ihn möglichst nicht überanstrengen. Alles, was der menschliche Körper Tag und Nacht aufbringt, schreit es nahezu heraus: Wir funktionieren tadellos, damit du da rausgehen und alles mit uns machen kannst! ( Womit ich keine Alkoholeskapaden meine, oder vielleicht auch doch, aber die Hauptsache ist eigentlich, keinen Fehler zwei Mal im Leben zu machen).

Wozu soll der Körper denn sonst alles geben? Wozu gibt es die Bergwacht, wenn niemand mehr bereit ist, auf einen Berg zu steigen? Und noch viel, viel wichtiger: wozu gibt es das Gipfelkreuz? Wozu ist das Leben da, wenn nicht um komplett ausgenutzt zu werden?

Auch Papst Franziskus scheint diese Entwicklung, die stetig zunehmende Bewegung zu Gruppe 1, zu spüren. Auf dem Weltjugendtag 2016 in Krakau rüttelt er die Jugendlichen auf. Die Zeiten in denen wir leben fordern keine jungen couch potatoes, sagt er, seid ein Protagonist der Geschichte. Es gibt keinen Platz für Bankwärmer.

Wir sitzen auf einem gigantisch großen Feld, hunderte bis tausende Kilometer entfernt von unserem Zuhause. Es regnet und wir alle tragen bunte Regencapes in den Farben des Weltjugendtags. Unsere Haare sind nass, und es ist uns egal. Das ist es. Ich denke es in dieser Woche mehrmals und jedes Mal mit klopfendem Herzen. Das ist das wilde, pulsierende Leben, das ich immer wollte. Und ich bin gerade einmal 16 Jahre alt.

Deswegen habe ich meine Entscheidungen getroffen. Auf Leben oder Tod, ich bin es Leid die Risiken abzuwägen. Das Leben ist ein Risiko.

Deswegen lächele ich die Dame, die so besorgt über mein etwaiges Aupair-Jahr ist, verbindlich an. „Ach wirklich? Ist ja schrecklich. Vielleicht sollte ich lieber zuhaus bleiben und bei Nachbarskinder babysitten. Weil, bei uns zulande sind sexuelle Übergriffe ja glücklicherweise ein Fremdwort.“ Den interessierten Mann grinse ich etwas planlos an. „Keine Ahnung. Frankreich? Kanada? Neuseeland? Ich weiß es noch nicht.“ Was zur Zeit leider noch der Wahrheit entspricht. Ach, es gibt so viele schöne Orte auf der Welt, wie soll man sich da auch auf die Schnelle für einen entscheiden?

Ich HASSE Entscheidungen, aber ich LIEBE den Grund aus dem ich sie treffen muss: Freiheit. Meine Freiheit.

Ganz und gar polarisierend, und sehr selbstsicher würde ich sagen: das war ein perfektes Statement über meine Abenteuersucht. Es gibt da nur eine winzig kleine Sache die ich verbessern möchte, ein Detail das am Anfang einen falschen Eindruck vermittelt hat: auch Gruppe 2 hat eine Furcht, die sie vermeiden möchte, die sie wirklich fertig macht.

Ich will wirklich alles, was diese Welt mir zu bieten hat, ich will alles sehen, riechen, fühlen, ich will weinen und lachen und Schmerzen erleiden, aber vor etwas fürchte ich mich – ganz FURCHTbar:

davor, am Ende meines Lebens zurückzublicken, auf eine gerade Kurve ohne Ausschlag, auf eine Lebzeit ohne Turbulenzen, um dann voller Traurigkeit zu sagen: „Wenn ich noch mal leben dürfte, ich hätte alles anders gemacht.“

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Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.