Überall in der Fußgängerzone waren Menschen. Kleine Menschen, große Menschen, schwarze Menschen, weiße Menschen. Sie trugen Einkaufstüten oder Handtaschen in ihren Händen, hatten Kopfhörer in den Ohren oder Kleinkinder auf dem Arm. Sie redeten oder schwiegen, lachten oder starrten. Aber keiner starrte mich an, schrie mich an oder drehte sich nach mir um. Ich nahm die Geräuschkulisse in mir auf, Gespräche, Gelächter und Geschrei, das Geräusch von Skateboard-Rollen über dem Pflaster der Fußgängerzone und, wenn ich ganz genau hinhörte, sogar das Rascheln der Tüten. Rechts von mir entdecke ich eine kleine Kleiderboutique. Das Metall des Türknaufes fühlte sich kalt an unter meiner Hand, aber im Inneren schlug mir Wärme entgegen. Es war nicht viel los. Ich lief durch die Gänge, fasste alles an, spürte Seide, Filz, Baumwolle und Cord. Die Verkäuferin, die hinter ihrem Tresen stand und Kleiderbügel sortierte, warf mir skeptische Blicke zu. Ich machte einige Schritte auf sie zu. Auf dem Tresen stand eine große Schale, in der sich kleine Tütchen mit Schmuck befanden. Ohrringe, Kettchen und Anhänger, Gold, Silber, glänzend Schwarz. Ich fand ein Kettchen mit einem silbernen Vogel-Anhänger. Seine Oberfläche glänzte, wenn man ihn kippte. „Das ist das Symbol für Freiheit.“ erklärte mit die Verkäuferin freundlich. „Eine sehr schöne Kette.“ Als ich nicht sofort antwortete, wandte sie sich ab und beschäftigte sich wieder mit ihren Kleiderbügeln. Einen Augenblick lang schloss ich meine Finger um das Tütchen und ließ den Arm sinken. Meine Jackentasche war Millimeter entfernt. Doch dann tastete ich mit meiner freien Hand nach meinem Geldbeutel in der anderen Jackentasche, und zog ihn hervor. „Wie viel kostet die Kette?“ „Elf Euro fünfundneunzig.“
Ich zahlte die 12 Euro und warf die 5 Cent Rückgeld in die kleine Kasse neben der Schale, deren Inhalt einem Bildungsprojekt in Ecuador zu Gute kam.

Draußen stieg mir ein so intensiver Duft von Punsch und heißen Waffeln in die Nase, dass ich mich völlig machtlos treiben ließ, bis ich auf den großen Platz gelangte, wo wie jeden Winter eine große Eisbahn aufgebaut war, umringt von kleinen Holzständen, in denen Menschen Glühwein, Punsch, Waffeln, Pizza und vieles mehr verkauften. Ein DJ legte Musik auf, und es war, als würden sich die vielen Kinder und Erwachsene auf der Eisbahn im Takt dazu bewegen.

Jeder Winkel meines Blickfeldes schien voll von Menschen zu sein, und trotzdem brauchte ich keine drei Sekunden, bis ich sie gefunden hatte. Sie lehnte ganz alleine an der brusthohen Abgrenzung zur Eisfläche. Sie sah verloren aus. Ich musste mehrere Menschen bei Seite schieben, um zu ihr zu gelangen. Bei jedem einzelnen entschuldigte ich mich. Sie sah mich nicht sofort, weil ihr Blick an mir vorbei ging, irgendwo ins Nichts, aber dann berührte ich sie leicht an der Schulter und sie drehte sich zu mir. Ihre Augen weiteten sich. „Du…du bist hier?“ „Ja.“ Sie sah so schön aus, immer noch. Mit ihren dicken braunen Haaren, und den Augen, von denen keiner so richtig wussten, welche Farbe sie hatten, Vielleicht wirkte ihr Gesicht eingefallener, aber vielleicht war es auch nur meine schmal gewordene Wahrnehmung. Sie schlang die Arme um mich, nur ganz leicht. „Ich hab dich vermisst.“ „Und ich habe etwas für dich.“ Ich zog das Tütchen aus der Jackentasche und gab es ihr. „Der Vogel steht für Freiheit.“ „Freiheit.“ murmelte sie. Und in meinem Kopf begann das Wort, Purzelbäume zu schlagen. Freiheit, Freiheit, Freiheit. Vor meinen Augen wurden ihre Lippen immer größer, und immerzu formten sie das Wort.

Freiheit. Freiheit. Freiheit.  Kirschrot. Wie eine satte, reife Kirsche im Sommer. Freiheit. Freiheit. Freiheit.

 

„Guten Morgen Insasse 124.“ sagte der Gefängniswärter, während Licht in meine Zelle drang. „Noch 324 Tage.“ „Guten Morgen.“ sagte ich, und schlug die Augen auf.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.