Der männliche Einfluss

Kategorien Kurzgeschichten

Meine Freunde hören nicht auf, zu fragen. Selbst nachdem sie mich ungefähr zwei Jahre lang tagtäglich bearbeitet haben, scheinen sie noch nicht eingesehen zu haben, dass mein Leben auch ohne den Einfluss eines männlichen Geschöpfes perfekt funktioniert. Und überhaupt- mein Leben ist voll von männlichen Geschöpfen. Sie tragen die schönsten, außergewöhnlichsten Namen der Welt. Sie heißen Harry und Macius, Eduard und Gideon, Augustus und Zac, und sie haben mir alles beigebracht, was ich über Jungs wissen muss. Sie sind mutig und geheimnisvoll, falsch und berechnend, sarkastisch und stark.

Wenn ich mit ihnen Dinge erlebe, können das die größten Abenteuer sein, die herzzerbrechensten Tragödien oder die langweiligsten Stunden des Jahres. Manchmal nervt mich ihre Sturköpfigkeit, ich kann sie anschreien, so lange ich will, und sie tun trotzdem das, was ich ihnen am wenigsten geraten hätte. Es ist leicht, die Geduld mit ihnen zu verlieren, weil sie sich so selten rechtfertigen. Aber dann wieder zeigen sie sich reumütig und ehrlich, machen mit einer einzigen Tat alles wieder gut und schaffen es jedes Mal, mich zu überzeugen. Und prompt bin ich nicht mehr sauer, und rette mit ihnen die Welt, bewerfe Autos mit Eier oder sowas. Ihr seht also- männlichere Einflüsse könnte ich eigentlich gar nicht haben, und ich sehe kein Problem mit meiner Art, zu leben. Meine Freunde aber leider schon. Das Problem, das sie sehen, hat vier Buchstaben, vier Kantenlängen und vier Ecken: B- U- C- H. Weil Harry, Macius, Eduard, Gideon, Augustus und Zac da nämlich zuhause sind. Für mich ist das nicht weiter schlimm, schließlich kann ich sie dort besuchen, wann und wo immer ich will, aber meine Freunde finden, es wird Zeit für einen materiellen Einfluss von Männlichkeit, einen zum Anfassen und Küssen. Naja, und zum reden. Aber eher zum Küssen.

Seitdem finde ich mich Samstagabends immer häufiger in einer Disco wieder, wo ich etwas unbeholfen neben meinen Freundinnen stehe, die mir immer mal wieder einen neuen Kandidat vorbeischicken, der sich eine Weile neben mich stellt, und schließlich dezent in der Menge verschwindet, weil er bemerkt, dass man mit mir nicht viel reden kann, außer vielleicht darüber, dass es bis zum Erscheinungstermin des dritten Teils meiner Lieblingstrilogie noch viel zu lange dauert.

Aber heute bin es ich, die verschwindet. Nicht, dass der neuste Kandidat meiner Freundinnen für mich so ätzend wäre, nein wirklich nicht, aber ich weiß, dass es in der Nähe eine Buchhandlung gibt, die bis Mitternacht geöffnet hat. Die Vorstellung, um kurz vor zwölf noch zwischen vollen Bücherregalen zu stehen, verursacht ein prickelndes Gefühl in mir.

Offensichtlich bin ich eine von wenigen, die dieses Gefühl hat, in der Buchhandlung ist es ganz ruhig. Spärliches Licht fällt auf die Regalreihen und lässt die Buchrücken glänzen. Hier fühle ich mich wohl, hier ist der richtige Ort für mich. Ganz anders als in der lauten, bunten Disco scheint hier alles an seinem Platz zu sein.

Zumindest denke ich das, bis mich plötzlich von hinten jemand antippt. Ich fahre herum und sehe, dass es der Junge aus der Disco ist, den meine Freundinnen mir vorgestellt haben. „Was machst du denn hier?“ „Ich bin dir gefolgt.“ sagt er, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Ein Mädchen das freiwillig aus der Disco abhaut um in einen Buchladen zu gehen, das finde ich interessant.“ „Ein Junge, der freiwillig einem Mädchen aus der Disco in einen Buchladen folgt, das finde ich interessant.“ antworte ich. „Heißt dass du willst mich kennnenlernen?“ fragt er.

„Ich weiß nicht.“ Mein Blick fällt auf den Bücherstapel, den ich bereits in meiner Hand habe. „Ich glaube, ich würde dich lieber lesen. Wenn du in einem Buch wärst.“ „Über mich ist aber noch kein Buch geschrieben worden.“ Der Junge fährt sich durch die Haare. Sie sind dicht und blond. „Aber wenn du mich kennenlernst, dann könntest du ein Buch über mich schreiben, und mich lesen.“ „Du bist ganz schön schlau.“ Ich nicke anerkennend. Und habe plötzlich den Verdacht, dass ich in meinem Leben vielleicht ja doch noch einen klitzekleinen Platz für einen männlichen Einfluss habe.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.