Die Haustüre fiel viel zu laut ins Schloss.

Einen Moment lang lauschte ich angestrengt, dann verfluchte ich im Stillen, dass ich nicht doch noch geblieben war. Wenn meine Eltern jetzt wach wurden, dann musste ich ihnen erklären, wieso ich um halb eins in der Nacht von meinem eigenen Abiball zurückkehrte. Im Flur war alles dunkel. Lautlos tastete ich mich bis zur Treppe vor und schlich nach oben. Vor der Tür des Elternschlafzimmers hielt ich kurz inne und lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Aufatmend öffnete ich meine eigene Zimmertüre und machte das Licht an. Überall lagen Schminkutensilien, Bürsten und Schmuck verstreut. Vor wenigen Stunden hatte ich mich hier hergerichtet, voller Aufregung und Vorfreude auf den letzten Abend mit meiner Stufe. Als Lucas unten an der Türe geläutet hatte, war ich so nervös aufgesprungen, dass ich dabei das teure Parfüm vom Tisch gestoßen hatte, das meine Tante mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Jetzt lag es zerschellt auf dem Holzboden, die klare Flüssigkeit zwischen den Scherben verströmte einen penetrant süßlichen Geruch, der sich mit der klaren Nachtluft vermischte, die durch mein halb geöffnetes Fenster ins Zimmer drang. Mit langsamen Bewegungen begann ich, mein Kleid auszuziehen, der enge Satinstoff ließ sich nur schwer abstreifen, wie als wolle er mir sagen, dass halb eins noch nicht die Zeit dafür war.

Dabei hatte der Abend so gut angefangen. Nachdem der offizielle Teil des Abiballs zu Ende war, begannen wir zu tanzen. Jeder genoss es, noch einmal zusammen zu feiern, bevor wir alle getrennte Wege gingen. Ich tanzte erst mit meinem Zwillingsbruder Finn , dann mit Joel, der erst in der zwölften Klasse hergezogen und in meinen Kurs gekommen war. „Ach weißt,“ sagte er irgendwann in seinem bayrischen Akzent, „ich würd ja noch ewig mit dir tanzen, aber meine Freundin aus München ist extra hergekommen, ich kann sie jetzt nicht allzu lange im Eck´ steh´n lassen.“ „Schon gut.“ Ich lachte, aber als Joel weg war, stand ich ganz alleine in der Mitte der Tanzfläche, und Lucas vergnügte sich ein paar Meter weiter mit Delia aus seinem Sportkurs. Gerade überlegte ich, ob ich mich einfach zu ihnen stellen sollte, schließlich war ich seine Freundin, da tippte mich von hinten Kevin an.

Er hatte die zwölfte Klasse in Lucas´ Kurs wiederholt, und ich mochte ihn nicht. Schon mehrmals hatte er versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, mit Komplimenten, seltsamen Messenger-Nachrichten und einmal sogar mit einem Liebesbrief in meinem Spind. Dabei wusste er genau, dass ich seit über zwei Jahren mit Lucas zusammen war.Leute aus seiner alten Stufe hatten uns von Kevin gewarnt, mit ihm sei nicht zu spaßen, hieß es, vor allem wenn er sich erst einmal auf jemanden konzentrierte. Deswegen ging ich ihm aus dem Weg, so gut es ging, nur, in dieser Situation war ich hilflos. „Lust mit rauszukommen?“ Ich schüttelte heftig den Kopf, aber er hatte mein Handgelenk gepackt und hielt es fest. „Kevin nein.“ Sagte ich noch einmal, aber der Druck ließ nicht nach. Ich wurde panisch, stieß ihn weg und registrierte erleichtert, dass er mein Handgelenk losgelassen hatte. Schnell steuerte ich in eine andere Richtung. Als ich mich noch einmal umdrehte, war Kevin verschwunden- und Lucas auch.

Ich begann, nach meinem Freund zu suchen, aber erst nach einer ganzen Weile landeten wir schließlich nebeneinander, und ausgerechnet in diesem Moment stoppte der DJ die Musik, um Werbung für die nächsten Discoveranstaltungen zu machen, bei denen er auflegte. Lucas und ich verließen die Tanzfläche. Meine Knie zitterten noch immer, so aufgewühlt hatte mich das Zusammentreffen mit Kevin. Es verletzte mich, dass mir Lucas nicht zur Seite gestanden war, also fragte ich ihn, wo er die ganze Zeit über gesteckt hatte. „Ach,“ sagte er, „mal hier mal da.“Da wurde ich wütend, in Wirklichkeit wusste ich schließlich genau, dass er die meiste Zeit mit Delia geredet hatte. In der achten und neunten Klasse waren sie wohl auch miteinander gegangen, aber das wusste ich nur von Freunden. Er selbst hatte noch nie über diese Beziehung gesprochen. „Wieso sagst du mir nicht die Wahrheit?“ warf ich ihm vor, und: „Du hast versprochen, immer ehrlich zu sein!“ Und am Ende: „Ich war alleine wegen dir!“Gut möglich, dass der Schreck in meinen Knochen Schuld war, dass ich so heftig reagierte, und gut möglich, dass Lucas deshalb nicht auf meine Argumente einging, weil er von der Sache mit Kevin nichts mitbekommen hatte.Er erwiderte, dass er gar nicht verstand, was ich hatte, dass er nicht wüsste, wofür er sich entschuldigen müsse und nicht verstehe, wieso ich derart aufgebracht war. „Weil Kevin“-sonst was mit mir tun wollte , wollte ich sagen, aber in diesem Moment stand plötzlich Delia vor uns. Sie war außergewöhnlich blass, was sie aber nur noch hübscher machte, mit ihrem feinen Gesicht und den roten Locken. Sie sah erst zu Lucas dann zu mir, und flüsterte: „Ist alles in Ordnung?“ „Nein!“ Ich war jetzt so in Rage, dass ich mich nicht mehr steuern konnte. „Ich gehe!“ Noch einmal sah ich Lucas an, dann drehte ich mich um und rannte, so schnell es die Absatzschuhe zuließen aus der Halle. Ich konnte nur von Glück sagen, dass ich noch nichts getrunken hatte, dass Finn mit unserem gemeinsamen Auto gekommen war und dass ich meinen Schlüssel dazu noch in der Handtasche hatte. Beim Einsteigen überkam mich kurz das schlechte Gewissen, aber ich redete mir ein, dass Finn auch so irgendwie nach Hause kommen würde, und dass er nicht all zu wütend auf mich sein konnte.

Ein lautes Geräusch riss mich aus den Gedanken an den Abend, ein Knallen, das ich nicht einordnen konnte, jedoch kam es eindeutig von draußen. Ich stürzte nur in Unterwäsche ans halbgeöffnete Fenster, erwartete einen nachtschwarzen Garten, aber was ich sah, war Feuer, nicht besonders groß, aber wild lodernd. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass es von der großen Kastanie ausging, die am Ende unseres Gartens, am Rande der Hauptstraße stand. Geistenwärtig zog ich mein Kleid wieder über, eine Naht riss, ich kümmerte mich nicht darum. Im Gang klopfte ich laut an die Türe meiner Eltern. „Aufwachen, hilfe!“, rief ich, stürmte die Treppe hinunter und hinaus in den Garten.

Was ich unbewusst schon befürchtete hatte, weil es für mich die einzig logische Erklärung war, erwies sich als die Wahrheit: bei näherem Hinsehen war ein Auto zu erkennen, das frontal gegen die Kastanie gekracht sein musste und Feuer gefangen hatte.Ich raste darauf zu und riss mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, die Fahrertüre auf. Und dann schrie ich los.

Auf dem Fahrersitz saß Lucas.

Noch immer schreiend packte ich ihn an den Oberarmen und zog ihn aus dem Auto. Er selbst hatte noch kein Feuer gefangen, das war das einzige, woran ich denken konnte. Inzwischen waren auch meine Eltern aus dem Haus gestürmt. Ich zeigte atemlos auf Lucas und mein Vater half mir, ihn in Sicherheit zu hieven, während meine Mutter im Haus mit lauter, aufgeregter Stimme einen Krankenwagen anforderte.

Die nächsten Minuten waren eine unbeschreibbare Zeitspanne zwischen rasend und Unendlichkeit. Irgendwann begann Lucas zu stöhnen, ich hörte ihn sagen, dass er Schmerzen in den Beinen hatte. Mein Vater kniete im Gras, kümmerte sich um ihn. Ich war unfähig, mich zu bewegen, stand steif daneben, als wäre ich gar nicht da. Das Martinshorn des Krankenwagens erschien mir unglaublich laut, aber ich war dankbar, dass es Lucas´ Schmerzlaute übertönte.

Als sie ihn einluden, kletterte ich mit in den Wagen. „Kennst du den Verletzten?“ fragte mich einer der Sanitäter. Ich sagte ihm, dass es mein Freund sei. „Und hast du auf den ersten Blick gesehen, dass er es ist, der diesen Unfall verursacht hat?“„Nein.“

Im Krankenhaus sagten sie mir, ich solle vor dem Behandlungsraum warten. Es dauerte nicht lange, da rief mich Delia an, denn auch auf dem Abiball hatte sich die Nachricht bereits herumgesprochen. „Er wollte dir nachfahren.“ Sagte sie schluchzend. „Ich wollte gar nicht lange mit ihm sprechen. Ich wollte ihm nur sagen, dass wir uns nicht mehr wieder sehen werden, weil meine Eltern mich mit nach Chesterfield nehmen. Er hat sich schnell verabschiedet, und dann ist er weg gefahren. Er hatte keinen Tropfen Alkohol! Oh Gott, und jetzt hatte er einen Unfall!“Sie hielt inne. „Hast du es gesehen? Dass er in dem Auto ist?“ „Nein.“

Bereits am übernächsten Tag wusste jeder davon. Ich saß bei Lucas am Krankenbett und las ihm den Zeitungsartikel vor. „18jähriges Mädchen rettet Freund aus brennendem Auto“, lautete der Titel, und darunter stand :“Als hätte sie es geahnt.“

Auch viele Bekannte sprachen mich darauf an, fragten immer und immer wieder das selbe: „Hast du denn gleich gesehen, dass er im Auto saß?“

Ich verneinte und verneinte, jedes Mal.

Ich hatte nicht auf den ersten Blick gesehen, wen ich da rettete.  Aber vielleicht, ja vielleicht, hatte ich es auf den ersten Blick gespürt.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.