Info: Hierbei handelt es sich um eine von mir verfasste Kurzgeschichte! 🙂
Was ist Heimat für dich?
Ich sehe über meine Schulter, bis Ilias in mein Blickfeld rutscht. Er starrt unbewegt an die Tafel, auf der Frau Hofer diese Frage notiert hat. Was ist Heimat für dich?
Vor mir schnipst eine Schülerin mit dem Finger. „Heimat ist für mich da, wo meine Familie herkommt!
„Heimat ist, wo man die meiste Zeit seines Lebens verbringt.“ schlägt jemand anderes vor. Mein Blick liegt immer noch auf Ilias, und er bemerkt es nicht einmal. Er ist in Gedanken versunken- wie so oft, seit er bei uns ist.
Meine beste Freundin Hazal hebt den Arm. „Heimat ist da, wo man sich zuhause fühlt, egal wie viel Zeit man dort verbringt.“ Sie lächelt und berührt mit einem Finger den goldenen Halbmond an ihrer Kette. Hazal war vor zwei Jahren das letzte Mal bei ihren Verwandten in der Türkei.
„Würdet ihr sagen, dass euer Zuhause hier auch automatisch eure Heimat ist?“ fragt Frau Hofer.Da schüttelt Ilias kaum merklich den Kopf. Hazal dagegen protestiert laut. „Heimat ist da, wo das Herz ist!“Daraufhin fängt sie sich Gekicher von den Mädchen und ein paar abwertende Kommentare der Jungs ein und wird rot. Frau Hofer bittet um Ruhe. „Was Hazal sagt, ist ganz bestimmt nicht falsch.“
Noch immer strecken viele Schüler, aber sie achtet nicht auf sie. Sie weiß, wessen Meinung sie hören möchte. „Ilias.“ sagt sie gedehnt. „Was ist Heimat für dich?“
Ilias ist seit fünf Monaten hier. Er kommt aus Syrien und konnte bei seiner Ankunft überhaupt kein Deutsch. Doch seit dem hat er viel gelernt. Er kommt im Unterricht gut mit, und versteht uns, wenn wir mit ihm reden. Ich mag es nicht, dass die Lehrer immer noch mit ihm sprechen, als hätten sie es mit einem Schwerhörigen zu tun. Wer will das schon?
Weil jetzt alle zu Ilias sehen, sieht er verlegen auf den Tisch. „Ich weiß nicht, was Heimat ist für mich.“ Ich frage mich, ob er damit meint, dass er das Gefühl von Heimat nicht in Worte fassen kann, oder ob er es einfach nicht kennt. Wäre Ilias nicht nach Deutschland gekommen, wäre er jetzt tot. Sein Zuhause ist zwei Tage nach seiner Flucht zerstört worden.
Kann man noch von Heimat sprechen, wenn sie nicht mehr existiert?
„Gut Ilias, das macht nichts.“ Frau Hofer nimmt die Kreide in die Hand und schreibt feinsäuberlich an die Tafel: Aufsatz: Das ist Heimat für mich.
„Bitte schreibt bis zur nächsten Politikstunde mindestens eine Seite dazu. Vielleicht fällt das manchen leichter, als es hier vor der ganzen Klasse zu besprechen.“ Ilias schreibt die Hausaufgabe ab, sieht aber unsicher aus. Für einen einseitigen Aufsatz über ein so komplexes Thema wie die Heimat reichen seine Deutschkenntnisse nicht aus, und das weiß er.
Neben mir schimpft Hazal leise vor sich hin, weil sie heute Mittag keine Zeit zum Aufsatz schreiben hat. Langsam lasse ich mein Mäppchen, den Ordner und mein Hausaufgabenheft in den Rucksack gleiten. Keine zwei Minuten später klingelt es. „Endlich aus.“ stöhnt Hazal. „Ciao Marla, wir sehen uns morgen.“ Und schon entwischt sie durch die Klassenzimmertüre.
Ich lasse mir etwas mehr Zeit.
Mein Schulbus kommt so spät, dass es mir reicht, noch kurz auf die Toilette zu gehen und meine Pfandflasche zurück zu bringen. Als ich die Schule verlassen will, entdecke ich im Gewimmel Ilias, der von einigen Schülern aus der Zwölften umringt wird. Sie sind nicht nur zwei Jahre älter als er, sondern auch gefühlt drei Köpfe größer. Zu viert drücken sie ihn gegen die Wand. Es ist laut in der Eingangshalle, aber ich höre trotzdem, was sie rufen. „Geh dort hin, wo du herkommst!“, „Drecksausländer!“ und „Dieses Pack gehört verdroschen!“ Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas vorfällt, aber das erste Mal, dass ich es sehe. Davor habe ich es immer nur von sensationslustigen Mitschülern gehört.
Ich sehe mich um. Nirgendwo ist jemand, den ich kenne, und der mir helfen könnte. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich wäre Ilias trotzdem zu Hilfe geeilt. Dass ich mich zwischen ihn und die Zwölfer gestellt hätte, oder zumindest jemanden geholt hätte.Aber ich bin genau so feige, wie alle anderen, die in der Eingangshalle stehen und lieber schnell nach Hause verschwinden, anstatt Ilias in seiner Not zu helfen.
Ich verlasse die Schule, und lasse ihn stehen, und fühle mich schuldig und schwer.
Heute habe ich viel über Heimat gehört. Heimat, die dort ist, wo man lebt, wo das Herz ist, wo die Familie herkommt, wo man die meiste Zeit verbringt, und wo man sich zuhause fühlt.
Nichts davon hat mich überzeugt.
Ich glaube, ich habe heute nur eins gelernt, durch Ilias: nämlich das, was Heimat nicht bedeutet.