Das Meer voll von Sternen

Kategorien Kurzgeschichten

 

KRONE

„Wir haben alle Träume.“ sagt sie und taucht die Bluse in das heiße Wasser. „Du kannst doch nichts für deine Träume.“ sagt sie und reibt an dem Marmeladenfleck am Ärmel. „ Das ist ja lustig.“ sagt sie, als ich ihr von meinem Traum erzähle, in dem ich ein Fisch im Meer war, der bunte Schuppen hatte und in einer Plastiktüte fast erstickt ist. „Ist es nicht.“ sage ich, während meine Fingerkuppe über das Holz des Waschzubers wandert. Schon steckt ein Splitter unter meiner Haut. „ Das ist nicht real. Du bist kein Fisch Frieda.“ Sie hebt die Bluse aus dem Wasser und betrachtet sie von allen Seiten. Nein, da hat sie recht. Ich bin kein Fisch, und da ist keine Plastiktüte und überhaupt – wenn ich auf eine Pusteblume blase, wird mir kein Wunsch erfüllt, es sind nur die Samen, die sich verbreiten wollen. Damit an Orten Blumen wachsen, wo zuvor noch keine waren.

 

WURZEL

August presste die Rolle an seine Brust, als würde er sie nie wieder hergeben. „Nein, versprochen.“ Unter den Sommersprossen wurden seine Wangen rot. „Ja, versprochen.“ sagte ich. Frau Dorno war die Ortsvorsteherin und damit Bestimmerin über uns alle. Sie war eine alte, gebückte Frau, die am Stock gehen musste, aber ihre Haare waren noch nicht grau, und ich hatte oft meine Mutter sagen hören: „Wie macht sie das nur, dass ihre Haare nicht gefärbt sind.“ Überall in ihrem Wohnzimmer waren Fotos. Über dem Sofa hing das chinesische Südgebirge mit den Karstbergen. Neben der Stehlampe, die August einmal Laura getauft hatte, weil sie für ihn wie eine Laura aussah, war Panama City zu sehen, mit einem weiten, weißen Sandstrand. Über der Kommode die bunten Häuser von Whitstable, neben der Türe ein Bild von Frau Dorno auf dem Ätna. Ich fragte mich manchmal, wozu Frau Dorno überhaupt ein Fenster in ihr Wohnzimmer gebaut hatte. Frau Dorno sah uns mit wachen, grünen Augen an und begann zu nicken. „Ich vertraue euch. Kinder können Geheimnisse bewahren, auch wenn sie erst sechs sind, richtig?“ „Sieben.“ Korrigierte ich, während August nur eifrig lächelte. „Versteck sie gut.“ Sagte sie zu ihm. August schob die Karte unter sein Hemd, verschränkte die Arme und lief als Erster durch die Türe.

Unsere Eltern mochten es nicht, wenn wir Frau Dorno besuchten. Ich hatte das nie verstanden, denn schließlich war sie die wichtigste Frau in unserem Dorf und wir sollten alle zu ihr aufsehen. Trotzdem misstrauten die meisten Erwachsenen ihr, und wollten lieber, dass wir im Sandkasten spielten als in ihrem Wohnzimmer. So machten wir einen Umweg und schmierten uns auf dem Spielplatz mit Sand ein. Ein wilder Tag im Sandkasten war das wieder gewesen. „Ich will sie ankucken.“ sagte August, als ich schon nach Hause laufen wollte. „Uns sieht niemand!“ Wir setzten uns unter das Rutschenhäuschen und beugten uns über das aufgerollte Papier. „PERU.“ entzifferte August andächtig. „Und KANADA.“ Im Vorlesen war er immer der Beste. „Wo ist Panama?“ fragte ich ihn. Er lies seine Finger quer über die Karte flitzen, bis er auf einen schmalen Streifen auf dem Meer landete. „PANAMA.“ „Und wo sind wir?“ fragte ich. August suchte erfolglos. „Aber wir sind doch auch auf der  Welt.“ sagte ich. „Auf dieser Karte aber nicht.“ Ich glaubte ihm nicht. „Behalt die blöde Karte doch für dich. Wenn wir uns nicht mal finden, was nützt sie uns dann? Ich kann es auch gleich meinen Eltern sagen.“ Da bekam es August mit der Angst zu tun. „Wir haben es Frau Dorno aber doch versprochen!“  „Na gut.“ sagte ich. „Wenn wir nicht auf der Karte sind, dann müssen wir dahin, wo wir drauf sind.“ „Vergiss es.“ „Du bist blöd.“ „Du auch.“ Dann gingen wir zu August nach Hause und ich nähte die Karte in die Innenseite des Jacketts von seinem toten, großen Bruder, das August viel zu groß war. Stich für Stich, wie meine Mutter es mir gezeigt hatte, und wir hängten es in das hinterste Eck seines Schrankes.

 

„Wir haben alle Träume.“ sagte meine Mutter beim Kartoffelschneiden. „Du bist erst sieben, aber als ich so alt war wie du, da hatte ich auch schon einen Traum.“ „Wirklich?“ fragte ich. „Und wolltest du auch das Meer erforschen?“ Sie lachte auf. „Hier gibt es doch kein Meer Frida!“ „ Aber irgendwo gibt es Meer.“ „ Ich wollte immer schon Ortsvorsteherin sein.“ sagte sie, und sah nicht  mich an, sondern aus dem Küchenfenster, auf das Rathaus. „Stell dir das vor, du hast eine Idee für das Dorf, und du kannst sagen: Das will ich.  Und dann passiert das. Ist das nicht toll?“ „Nein.“ sagte ich. „Wenn du was entscheidest, dann finden das andere Leute blöd, und dann mögen sie dich nicht mehr.“ Da sah sie traurig aus. „Du kannst es nie jedem Recht machen.“ „ Wieso bist du keine Ortsvorsteherin geworden?“ wollte ich wissen, und sie erklärte mir, dass das Frauen damals noch nicht gestattet war, und dann sagte sie mir mit einem Strahlen, dass sich das heute aber geändert hatte. „Und weißt du was? Du und August, ihr habt die besten Chancen, die nächsten Ortsvorsteher zu werden“ Weil ihr die letzten Kinder des Dorfes seid.“ „Was ist mit Katie?“ fragte ich. Katie war meine beste Freundin. Meine Mutter zog die Schultern hoch. „Das geht nicht, weil die Katie doch nicht richtig laufen kann.“ Ich verstand nicht, was der Rollstuhl für Unterschiede machen sollte. In unserer Klasse, wo uns Herr Dr. Meier-Süterlin alles Wichtige für die Abschlussprüfung beibrachte, war Katie immer die Beste. Ich passte immer nur auf, wenn es um Tiere ging, vor allem um Fische, aber das war leider nur ziemlich selten der Fall.

STAMM

Mit fünfzehn Jahren waren wir nicht mehr bei Frau Dorno beim Spielen sondern bei Piet, weil es auf dem großen Hof so viel zu bauen und entdecken gab. Ganz hinten gab es eine große Scheune, zu der die Leute des Dorfes ihre Geräte und Gegenstände bringen konnten, wenn sie nicht mehr funktionierten. „Ihr Kinder habt da nichts verloren.“ sagte Piets Vater immer, aber einmal war er nicht da, und ich fand eine Kiste mit Büchern, die der Schule gehört haben musste, denn es waren Biologie, Chemie und Mathe Formelsammlungen. „Wie uninteressant.“ sagte August. „Das da ist viel toller.“ Er hielt ein großes, kegelförmiges Rohr in der Hand und rieb mit den Fingern auf der staubigen Oberfläche herum. „Da kann man durchgucken und die Sterne in groß sehen.“ „Wozu denn“ sagte ich, um ihn zu ärgern. „Die kann man doch sowieso nicht erreichen.“ Piet lehnte gelangweilt an der Scheunentüre und kaute auf einem Grashalm herum. „Suchst du nichts?“ fragte August. Piet spuckte den Grashalm aus. „Nein. Lasst uns Verstecken spielen.“ Piet wollte mit seinen fünfzehn Jahren immer noch am liebsten Verstecken spielen. Und meistens sollte August suchen. „ Ich will nicht.“ Sagte August, aber da war Piet schon losgerannt und rief über seine Schulter: „Los Frieda, versteck dich!“ August sah mich an und drehte sich um, um seine Stirn an die Scheunenwand zu pressen und langsam von eins bis fünfzig zu zählen. Ich rannte gedankenlos über den Hof und versteckte mich hinter dem nächstbesten Busch. Ehe ich mich versah saß Piet schon – aus dem Nichts aufgetaucht- neben mir. „Du“, flüsterte er, „Ich habe ein Geheimnis.“ „Wir sollten nicht reden, sonst findet er uns.“ „ Es ist aber etwas, das dir gefallen könnte.“ „Und was.“ Fragte ich genervt. „Es ist rot.“ Offenbarte er mir. „Und es kann fahren.“ Ich riss die Augen auf. „Das ist…“ Mein Vater hat es noch in der Scheune. Ganz hinten. Weil  es ja nicht mehr gebraucht wird.“ Seit einigen Monaten gab es bei uns ein ausgeklügeltes Wasserleitsystem, sodass das einzige Auto des Dorfes, ein kleines rotes Feuerwehrauto, nicht mehr gebraucht wurde. Man sah es einmal im Jahr beim Feuerwehrfest. „Funktioniert es noch?“ Ich wurde aufgeregt. „Mein Vater sagt Nein. Aber.“ Er sah mich verschwörerisch an. „Ich habe es probiert. Ich weiß  wie man so was fährt.“  „Gefunden, ich hab euch!“ rief August. Er stand grinsend vor uns, aber seine Augen lachten nicht mit. Piet rappelte sich auf und sah mich an. „Das Geheimnis nützt euch sowieso nichts. Als Ortsvorsteher hat man mit anderen Dingen genug zu tun.“

„Eigentlich ist er nur neidisch, weil er selber Ortsvorsteher werden will und es nicht kann, weil er schon Feuerwehroberkommandant wird.“ Sagte August auf dem Nachhauseweg. Ich sah ihn zweifelnd an. „Kann man darauf so neidisch sein?“ „Jeder will Ortsvorsteher werden. Kaum einer versteht, dass es am Besten ist die jüngsten Erwachsenen dazu auszuwählen.“ „Ich verstehe es auch nicht. Zum Glück sind wir noch nicht achtzehn.“ Ich blieb stehen. „Und bitte versprich mir, dass das mit dem Feuerwehrauto unter uns bleibt. Piet würde mich umbringen wenn er wüsste, dass ich es dir gesagt habe.“ „Es bleibt unter uns.“ Versprach er.

***

„Hast du ein Tipp?“ fragte August. „Gegen nervige Träume. Mädchen kennen sich doch mit sowas aus.“ „Was für nervige Träume denn?“ Das Gras piekte mir in den Nacken und ich fragte mich bereits, wieso ich mich darauf eingelassen hatte, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Er seufzte. „Dieses verdammte Feuerwehrauto. Ich träume jede Nacht, wie ich damit aus dem Dorf fahre. Ich bin noch nie damit gefahren, aber ich schwöre dir, jetzt könnte ich es perfekt. Sozusagen im Schlaf.“ „Stell dir das mal vor.“ Was für ein irrsinniger Gedanke, und gleichzeitig so atemberaubend schön. „Einfach in diesem Auto zu sitzen und das Dorf verlassen. Ans Meer fahren.“ „Den Mond von der anderen Seite sehen.“ Sagte August. „Frei sein.“ Flüsterte ich. Da setzte er sich ruckartig auf. „Hör auf. Wir dürfen nicht mehr darüber reden. Wir sind siebzehn. Wir sollten viel lieber über unsere Abschlussprüfung nachdenken. In einem Jahr sind wir Ortsvorsteher.“ Ich versuchte einzuschlafen, aber es fiel mir schwer. Das Letzte was ich sah, war sein blasses Gesicht, und seine großen braunen Augen, die am wolkenlosen Nachthimmel entlang wanderten, und nicht im geringsten daran dachten, sich zu schließen.

Dann war ich dieser Fisch, der sich in einer Plastiktüte wandte, Freiheit, Freiheit, und als ich wieder aufwachte und August friedlich schlafend neben mir fand, war mein Gedanke immer noch der Selbe. Freiheit. Was, wenn wir einfach sagten, dass wir kein Ortsvorsteher werden wollten? Das Dorf hatte noch ein ganzes Jahr Zeit, bis Frau Dornos Amtszeit abgelaufen war. Sie konnten ganz in Ruhe jemanden suchen. Der Gedanke wuchs in mir wie ein Baum.

„Frieda!“ Das war die Stimme meiner Mutter. „Hier seid ihr!“ Sie löste sich aus dem Morgengrauen. Ihre Augen waren gerötet. „Frau Dorno ist gestorben. Heute Nacht!“ „Wann ist die Beerdigung?“ fragte ich benommen. „Morgen Mittag. Du weißt, was das für euch bedeutet.“

Und das. Ist die Gegenwart. In der die Träume Vergangenheit sind.

 

KRONE

Die Bluse ist so blütenweiß wie vor dem Marmeladenfleck. Mein Fischtraum ist nur bunte Fantasie und ich sitze neben dem Waschzuber und versuche, nicht mehr am ganzen Körper zu zittern. Frau Dorno ist einfach so gestorben, sie war nicht krank. Trotzdem haben sie auf ihrem Nachttisch einen Brief gefunden, in dem sie sich wünscht, dass alle in weißer Kleidung zur Beerdigung kommen. Der letzte Satz lautet: Meinen Nachfolgern wünsche ich ein erfolgreiches, aufregendes Leben in dem sie all ihre Träume verwirklichen können. Ich fühle mich so verraten. Ich rufe Katie an. „Treffen wir uns heute Abend am Feuer.“ Sagt sie. „Die anderen kommen auch.“

Die Wärme des Feuers brennt auf meinen Wangen, aber ich kann nicht aufhören, hinein zu starren. Dort drinnen sieht es aus wie die Landschaft eines fremden Planeten, die von Bränden und Aschebergen zerworfen ist, und die Holzscheiten wölben sich darüber wie ein schützendes Dach. Durch die Flammen hindurch sehe ich Augusts hell erleuchtetes Gesicht, das lacht. Ihm tut nichts weh. Wieso sieht er so friedlich aus, während in mir alles durcheinanderwirbelt? Katie sitzt regungslos neben mir und scheint das Feuer zu beobachten, aber als eine Scheite mit einem Krachen vom Stapel abrutscht, zuckt sie nicht einmal zusammen. „ Ist das Iris?“ fragt sie schließlich und nickt mit dem Kopf nach drüben zu den Jungs. You bleed just to know you´re alive. „Ja.“ sage ich und sehe zu August. Ich sehe seine Hände zittern und keiner hört die falschen Töne, außer mir. Oder sie glauben es war Piet. August hat sich nie verspielt. In mir wächst das Bedürfnis wegzugehen, bevor das Feuer mein Gesicht, bevor die Glut mir meine Zuversicht verbrennt. „Ich weiß nicht, ob ich bleiben möchte.“ „Geh.“ sagt Katie. „Wenn du dich hier fragst, ob bleiben oder gehen, musst du gehen.“ Ich frage mich, seit wann Katie so was sagt. Ich nehme meine Wolldecke und lege sie auf ihre kalten Knie. „Ich bin bald zurück.“

Ich bin zwei Meter weit gekommen, da spielt nur noch eine Gitarre, und nach fünf Metern rennt August hinter mir. „Warte auf mich.“ Wortlos verlangsame ich meinen Schritt. „Was ist los?“ fragt er.  „Am Feuer war es mir zu heiß. Und hier ist es kalt und ich-“ Ich breche ab, weil meine Stimme jämmerlicher klingt als ich es erwartet hätte. „Komm.“ sagt August und nimmt meine Hand. Ohne es beschlossen zu haben, folgen wir dem Kiesweg der zum Hochberg führt. Nach einigen Minuten taucht die erste Kreuzstation auf. Vor unserer ersten heiligen Kommunion mussten wir hier mit dem Pastor stehen und uns anhören, welche Station was zu bedeuten hatte. Katie mussten sie mit dem Rollstuhl nach oben schieben und ich war neidisch auf sie, weil sie sitzen durfte. An Station vier schlägt er vor, uns hinzusetzen. Ich sehe ihn an, seine Lippen, seine Augen, das vertraute Gesicht das ich kenne, das alle paar Minuten von den Lichtstrahlen des Leuchtturms erleuchtet wird. „ Ich verstehe nicht“, sage ich, „wieso dieses dumme Ding immer leuchtet. Warum denn? Wer soll uns sehen, wer soll uns denn suchen und sehen wollen, wenn wir noch nicht mal auf einer Karte sind?“ „Das Licht stört den Himmel.“ Sagt er nur.  Er legt den Kopf in den Nacken und als ich es ihm nachtue sagt er: „Jetzt ist es dunkel, und die siehst die Sterne, aber warte, jetzt kommt der Lichtkegel  und du kommst durcheinander.“ „Man braucht die Lichtsignale für die vielen Schiffe, die auf unseren Hafen zusteuern.“ Entgegne ich bitter, und richte mich wieder auf. „Aber hier doch nicht.“ Sagt er, ohne seine Position zu verändern. „Da hinten, schau von der Spitze des Kirchendaches gerade aus, ja? Da siehst du die Leier.“ „Ich sehe es.“ Er lehnt sich zurück. „Der griechischen Mythologie zufolge ist das die Leier des Musikers Orpheus, der unsterblich in die Nymphe Euderike verliebt war. Als sie starb, wollte er sie aus der Unterwelt befreien, aber er hätte sich nicht zu ihr umdrehen dürfen, bis sie oben angekommen wären. Er hat es nicht geschafft, und Euderike musste zurückkehren in die Unterwelt. Von da an spielte er nur noch traurige Lieder und wollte von der Liebe nichts mehr wissen. Und seine Leier hängt jetzt als Andenken im Himmel.“ „ Eine schöne Geschichte.“ Sage ich und muss gegen einen Schwall an Tränen ankämpfen, weil die Welt mit ihrer Fülle an traurigen Geschichten plötzlich bedrohlich näherkommen zu scheint. August bemerkt es nicht. „Aber ich wüsste gerne, wie es in Wirklichkeit entstanden ist. Du nicht? Man sieht die Leier immer, außer im Winter, am Besten im Sommer, also wird sie in ein paar Monaten noch markanter sein.  Es ist egal, wo auf der Welt du dich befindest, du siehst sie immer. Und dieser besonders helle Stern, das ist Vega, der Stern Alpha des Bildes.“ Er erzählt und erzählt und kann nicht mehr aufhören. „ August.“ Sage ich leise. „Woher weißt du das alles?“ Das Leuchtturmlicht spiegelt sich in seinen Augen. „Aus den Büchern aus der Scheune. Aus den Aufschrieben von Meier-Stüterlin, die ich heimlich abgeschrieben habe. Aus den Nächten, die ich hier oben war.“ „Ich war seit den Kommunionsstunden nicht mehr hier. Wieso eigentlich?“ Ich zerbreche mir den Kopf über das Nebensächliche, um das Hauptsächliche zu verdrängen, die Tatsache dass August gar nicht mehr der ist, den ich glaube zu kennen. Obwohl wir stets am selben Ort geblieben sind, mit derselben Menge an unnützen, endlos langen Tagen. „ Vielleicht hat es dir gereicht, den Berg zu sehen.“ Murmelt er. „Aber man muss schon hinaufgehen, um den Himmel so zu sehen.“ „Du könntest Astrologe sein.“ Sage ich. „In einem Planetarium arbeiten, Sternkarten malen, Leute durch die Wüste führen.“ „Ich weiß nicht genug.“ „Du kannst es lernen. Wenn das jemand kann, dann du.“ „Ich habe alle Bücher gelesen, die es hier gibt und…“ Er hört auf, vermutlich weil er selbst begriffen hat, was er macht. Was ich mache. Ich will ihm Zeit geben, obwohl ich das Gefühl habe dass uns mit jedem Moment weniger davon bleibt. „Wir können nicht weg, Frieda.“ Er kaut auf seiner Lippe herum, bis sie beginnt zu bluten. Er knackst mit den Fingern und sieht sich nach allen Seiten um. Zu den Sternen sieht er nicht mehr. „Wenn gerade nicht das ganze kinderlose Dorf im Dunkeln vor uns liegt, sagst du dann immer noch das Selbe?“ „ Es ist doch nicht das Dorf. Es sind unsere Familien und sie zählen auf uns-„ „-wegen dem Dorf“- „und sie lieben uns, und, meine Güte selbst wenn es wegen dem Dorf ist. Dieses Dorf hat uns alles gegeben, was wir brauchten, warst du in deiner Kindheit jemals unglücklich. Das hier ist Sicherheit, nicht wie da draußen, hier haben wir Menschen die uns schätzen und unterstützen wollen. Willst du sie einfach so enttäuschen?“ „ Aber wenn sie uns lieben, dann wollen sie unser Bestes.“ Flüstere ich. „Ja und?“ August sieht mich an, als wüsste er nicht was er sagen soll, aber dann fügt er hinzu: „Das hier ist unser Bestes. Glaub mir.“ „GLAUB MIR?“ Ich werde wieder wütend. „Ich kann das nicht mehr hören. Mein ganzes Leben, glaub mir. Wir haben es gut, glaub mir, Ortsvorsteher ist ein ganz toller Beruf, glaub mir dass du glücklich bist, aber was wenn ich das nicht mehr bin?“ Ich bin jetzt so in Rage, dass ich aufgesprungen bin, und Augusts Körperwärme weicht sofort von meiner Mitte. „Dann eröffne doch ein Planetarium auf diesem Berg. Glaub ruhig, dass das möglich ist, die ganze Welt auf einem Fleck zu haben, das ganze Leben zu erfahren, ohne sich auch nur mal umzudrehen.“

Erst als ich mich schon – voll Wut und Enttäuschung – zum Gehen wende, höre ich ihn sagen: „Dann geh doch und verletze alle die dich geliebt haben, mehr als du es da draußen jemals erfahren könntest.“

***

Ich habe August angeschrien. Das ist mir jetzt erst bewusst, dass ich ihn noch nie angeschrien habe, nicht im schlimmsten Kinderstreit, dass ich zwar nie Angst vor einer möglichen, ebenso bösen Antwort hatte, aber immer davor, ihn zu verletzen. Jetzt habe ich es getan. Vielleicht hat August recht und das einzige, was ich mit meinem Tun bewirke ist, alle um mich herum zu verletzen. Ich spüre noch die wärmende Umarmung meiner Mutter, nachdem ich in die Küche gestolpert bin. „Es geht ihr jetzt besser.“ Hat meine Mutter gesagt und mir die Haare aus der Stirn gestrichen. Ich habe geschwiegen und mich an sie gelehnt und mir gewünscht, der ganze Abend wäre nur ein Traum gewesen. Wir sollten viel dankbarer sein für die schlechten Träume die uns schweißgebadet aufwachen lassen, dafür, dass sie wenigstens nicht Wirklichkeit sind.

***

Die Kirche ist brechend voll. „Alle haben ihr misstraut.“ Sagt Katie kopfschüttelnd, als ich sie den Gang entlang schiebe. „Wieso sind die dann jetzt alle da?“ Meine Augen suchen in den vielen Gesichtern nach dem von August. „Sie war ja trotzdem unser Oberhaupt und wurde von allen geschätzt.“ „Sicher hat sie sich auch ihr ganzes Leben lang so gefühlt.“ Katie klingt so wütend, dass ich beinahe stehen bleibe vor Überraschung. Dr. Meier-Süterlin drückt sich an uns vorbei und sagt dabei: „Entschuldigung, darf ich mal.“ Ich schaffe es, Katie an ihren extra freigehaltenen Platz zu rangieren, helfe ihr und setze mich daneben. Ich drehe mich nach links, nach rechts, keine Chance ihn zu sehen. Der Pfarrer zieht ein, dahinter ein Sarg aus dunklem Holz, der von Piets Vater geschoben wird. Obwohl Frau Dorno alleine gelebt hatte, hat den Sarg jemand für sie ausgesucht und von der Gemeinde wurde er bezahlt, inklusive Lieferung aus der nächstgrößeren Stadt.  Der Gottesdienst dauert lange, weil viele Leute vorne stehen und darüber sprechen, wie Frau Dorno mit ihrer Tätigkeit eine Bereicherung für das Dorf war. „Für viele, wie auch für mich war eine Diskussion mit unserer Ortsvorsteherin etwas ganz Intensives.“ Sagt Herr Dr.Meier-Süterlin mit einem Lächeln im Gesicht. „Und es war mir jedes Mal eine Freude.“ Nach diesen Worten geht die Kirchentüre mit einem lauten Knacksen auf. Wie sich August wohl gefühlt haben muss, als ihn 432 Augenpaare auf einmal ansahen? Das enge, schwere Gefühl in meiner Brust lässt ein bisschen nach. Meine Entscheidung ist getroffen. Ich weiß, dass ich es ohne ihn schaffen könnte, aber ich will nicht. Was ich gelernt habe: eine Person ist mehr zuhause als ein Ort, und der Ort an dem die Person ist, ist das, was wir zuhause nennen. Ich bleibe zuhause, aber nicht in meinem Dorf, sondern bei August. Ich weiß nur nicht, wie ich ihm das sagen soll.

Über Nacht ist der Boden wieder zugefroren und die zuvor ausgehobene Grube starr und bröckelig. August steht auf der anderen Seite, nur zwei Schritte entfernt von dem Kreuz aus weißem Holz, das mal geglänzt hat. Seine Eltern sind nicht gekommen. Sie gehen überhaupt nicht mehr auf einer Beerdigungen, seit ihr erster Sohn mit achtzehn Jahren viel zu früh gestorben ist. „ Erde zu Erde, Asche zu Asche.“ Sagt der Pfarrer. Unsere Kindheit haben wir ihr zu verdanken, und als ich das denke, sieht mich August an und lächelt. Obwohl er aussieht, als hätte er tagelang nicht geschlafen, ist er wunderschön. Seine Haare, die zu allen Seiten abstehen, die Augen noch dunkler als sonst, und das schwarze Jackett, dass ihm ein bisschen zu klein ist.  So schön wie alle unsere Erinnerungen. Ich wäre am liebsten sofort zu ihm gelaufen, als sich die Menschenmenge langsam auflöst. Herr Dr. Meier-Süterlin stellt sich mir einmal mehr in den Weg. Er fragt mich, ob ich schon aufgeregt sei, auf das was vor mir liege. „Ja.“ Sage ich. „in gewisser Weise schon.“ Und danach ist August in der Menge untergetaucht.

„Danke.“ Sagt Katie, während ich sie nach Hause schiebt. „Danke wofür?“ „Du bist wirklich meine beste Freundin. Wenn ich mal tot bin und du hier bist, wirst du keine heuchlerische Rede halten die zu neunundneunzig Prozent aus Lügen besteht.“ „Nicht?! Ich dachte Tote stehen darauf, so was zu hören.“ Katie lacht. „Du bist wirklich meine beste Freundin.“ „Und du meine.“ Den Rest des Weges schweigen wir. Leute in weißer Kleidung ziehen an uns vorbei und wir sehen uns an und wieder weg, bis zum Ende der Straße.

Ich lebe in einem Dorf, aus dem nur eine Straße hinausführt, und keiner benutzt sie. Ich lebe in Straßen die schmal sind und laut, wo die Menschen sich die Hände schütteln. Ich lebe in einem Dorf, das einen Leuchtturm hat als läge es am Meer. Ich habe eine Familie die mich liebt, eine beste Freundin mit der ich keine Worte brauche um zu reden, und einen besten Freund, in meinen Träumen bin ich ein Fisch im Ozean. In unserem Dorf haben wir alles, was wir zum Leben brauchen, und trotzdem habe ich bisher nur eines gelernt auf dieser Welt: man kann offensichtlich nicht alles haben.

HIMMEL

Ein Schlag. Zwei Schläge. Ein dritter Schlag und ich sitze aufrecht in meinem Bett. Da ist ein Schatten, wie von einem kleinen Gegenstand im Mondlicht. Innerhalb von zwei Sekunden bin ich am Fenster. Da unten steht August und wirft Kieselsteine. Ich erkenne ihn nur an seiner Silhouette. Ich kann kaum nachdenken, obwohl ich noch nicht einmal überrascht bin. Vielleicht weil ich gerade seit zwei Momenten wach bin, vielleicht weil ich immer wusste, dass das passiert. Ich ziehe Jeans und Pullover an und meine Beine zittern und mein Herz pocht. Der Leuchtwecker zeigt vier Uhr zweiundzwanzig und bei vierzehn Sekunden fällt die Tür ins Schloss.

„Liebe Grüße von Piet.“ Flüstert August zur Begrüßung. „Er sagt, er hatte den Autoschlüssel immer bei sich, Zitat, weil er uns kennt.“ Ich umarme ihn wortlos. Bis ich mich frage, was er Seltsames anhat. „Dein Jackett? Hast du dich gar nicht umgezogen?“ Da zieht er es aus und zeigt mir das Innenfutter. „Das ist…“ „Ich habe mich gerade noch rechtzeitig daran erinnert.“ Er lächelt. „Ein Feuerwehrauto und eine Landkarte, eine Meeresfanatikerin und ein Sternenfreak. Mehr brauchen wir nicht, um wegzugehen oder?“ „Doch“ flüsterte ich. „Die Gewissheit, dass wir zurückkommen können.“

Die Sonne geht gerade auf, als das Feuerwehrauto auf der Straße steht, die nach draußen führt. Zum allerersten Mal in meinem Leben. Ich halte Augusts Hand. Ich fürchte mich, dass er zu traurig ist, um das zu tun, aber er sieht mich an und sagt: „Die Welt wartet auf uns.“ Und er nimmt den Fuß von der Kupplung und das Auto setzt sich mit einem ratternden Geräusch in Bewegung.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.