Das Jahr ist zur Hälfte vorbei

Kategorien Weltgeschehen

Siebeneinhalb Monate, das sind 195 Tage, 27 Wochen und ungefähr 16761600 Sekunden. In siebeneinhalb Monaten können drei Jahreszeiten nacheinander ablaufen, 90 Milliarden Bäume ihre Blätter zurückbekommen und dutzende Geschichten anfangen und enden. In siebeneinhalb Monaten kann die Welt sich ändern. Es kann alles passieren. Oder nichts.

An den meisten Tagen macht es mir Angst, wie schnell die Zeit vergeht, und wie viel ihr Strom dabei mitreißt. Der irische Schriftsteller C.S. Lewis schreibt: Isn´t it funny how day by day nothing changes, but when you look back, everything is different. Das mag oft beschreiben, wie wir uns nach der Hälfte eines Jahres fühlen, das scheinbar gerade erst ereignislos und gleichtönig begonnen hat. Dann wachen wir plötzlich am längsten Tag des Jahres auf und fragen uns, wie so schnell die Zeit vergehen konnte.

2020 erlaubt sich, diese Gewohnheit bis auf Weiteres auszuhebeln. In diesem Jahr zeigen sich die Veränderungen vorzugsweise als Kometen, die lokal einschlagen. Der Staub, der dabei aufgewirbelt wird, weht um die ganze Welt, wir beklagen ihn, wir beseitigen ihn, und dann ist er weg, während es an den Einschlagsstellen weiter brennt. Siebeneinhalb Monate, und wir sind völlig geschafft. Endlich, denken wir, als es Juni und Juli wird und wir realisieren, dass das Jahr zur Hälfte vorbei ist. Als wäre der 31. Dezember das Ablaufdatum aller innerhalb der letzten zwölf Monate entstandenen Probleme, als wäre die Einteilung der Zeit in Jahre naturgegeben, sehne ich mich an das Ende einer Ära, die uns vor allem eines gezeigt hat: nichts ist planbar, wenig ist kontrollierbar, und alles kann passieren. Oder ist schon längt passiert.

Weil, letztendlich ist 2020 gar nicht das Jahr, in dem die schrecklichsten Dinge der Welt passieren. Es ist nur der Volume Booster, der die Missstände eines ganzen Jahrzehnts auf Laut dreht. Angestaute Konflikte, unterdrückte Aggression, ignorierte Negativtendenzen, verschwiegene Schwachstellen. Wenn in Sizilien der Ätna ausbricht, steigt 106 Kilometer weiter die vulkanische Aktivität des Stromboli sofort an. Daran erinnert mich dieses Jahr: an angespannte Litosphäre. Früher oder später müssen Konflikte wohl ausbrechen, um überhaupt eine Chance auf Lösung zu haben. Die Umstände in den Fleischproduktionen in Deutschland waren vor dem Massenausbruch bei Tönnies nicht halb so vielen Menschne bewusst wie jetzt. Für die Mitarbeiter der Firma, die seit Jahren unter diesen Bedingungen leiden, ist die Krise zu einer Chance geworden. Weil der Bund hinschaut, und da ist es erstmal zweitrangig, dass es eigentlich nur darum geht, die weitere Verbreitung des Corona-Virus zu verhindern. Aber wieso muss es erst zum Ausbruch einer potentiell tödlichen Krankheit kommen, damit ein Missstand die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient?

Anderes Beispiel: Rassismus. Für viele Gruppen der Gesellschaft, inklusive mir, war diese Problematik zwar bekannt, aber wenig relevant. In meinem Leben gab es keine konkreten Berührungspunkte mit herkunftsbasierter Diskriminierung – dachte ich zumindest, bis im Rahmen von Black lives matter Betroffene von den vielen kleinen Alltagssituationen berichteten, in denen das Gegenteil von Gleichheit herrschte. Dass diese Welle aufgekommen ist, dass das globale Bewusstsein für den andauernden Rassismus in unserer modernen Gesellschaft kurzzeitig so sprunghaft gestiegen ist, ist nicht einmal konkret auf den Tod von George Floyd zurückzuführen. Er ist nicht der erste Mensch mit dieser Todesursache. Es war vielmehr Zufall, dass in diesem Moment jemand das Geschehen gefilmt und dieses Video anschließend an die Öffentlichkeit geraten ist. Das ist schockierend, oder? Dass es oft so viele Tote braucht, und so viel Starthilfe, bis ein Problem als solches erkannt wird.

Und dann sind wir wieder bei diesen Wellen, die sich in diesem Jahr meterhoch türmen und uns jede Energie dafür rauben, die Probleme als einzelne zu betrachten. Nur die höchsten Wellen, die mit der meisten Grausamkeit und den meisten Fallzahlen, schaffen das überhaupt noch. In einem Jahr, in dem Todeszahlen, zumindest für mich, etwas abstraktes geworden sind. Manchmal denke ich an 2014 und 2015 zurück, als die Flüchtlingskrise sich immer weiter verschärft hat und wir, vor allem zu Beginn, ein ähnliches Gefühl von Katastrophe hatten. Ich war damals in der neunten Klasse, wusste deutlich weniger über die Welt als jetzt, aber ich hatte unglaublich viel Tatendrang, etwas zu bewirken. Mit dieser Energie war ich beim Europakonzil in Konstanz und Straßburg und habe in der Stadt meiner Schule die Flüchtlingsunterkunft unterstützt. Das Thema hat mich beschäftigt, auch auf diesem Blog. Und jetzt? Mein letzter Eintrag war im März 2020, dazwischen gab es eine Millionen wichtige, bewegende Themen, und ich habe kein einziges davon verschriftlicht. Es frustriert mich sehr , dass dieser Tatendrang verlorengegangen ist in dem Meer aus gesellschaftlichen Problemen. Man weiß nicht, worauf man sich als nächstes konzentrieren soll. Weil alles so temporär, so kurzlebig geworden ist. „Es braucht ein langfristiges Umdenken!“ heißt es jedes Mal, beim Klimawandel, in der Rassismus-Debatte, in der Diskussion über Frieden und Krieg – und drei Wochen später spricht niemand mehr davon.

Sars-Cov-2 hat darauf offensichtlich auch wenig Lust. Deswegen klammert es sich hartnäckig an der Bevölkerung fest, hält seine eigenen Gesetzmäßigkeiten nicht ein und überrascht uns regelmäßig mit neuen Nachfolgen und Langzeitschäden. Damit wir immer schön etwas zu diskutieren haben (was wir auch mit Vorliebe tun, wie haben wir eigentlich vor Corona Gespräche gefüllt?). Vor allem bringt die weltweite Pandemie eine unterschätzte Nebenwirkung zum Vorschein: die schockierende Erkenntnis, wie unfassbar egoistisch und weltfremd Menschen sein können. Wenn Menschen ohne erkennbaren Grund im Zug auf die Maskenpflicht pfeifen und dabei fröhlich husten, wenn auf dem Platz der Alten Synagoge 300 Menschen eng an eng tanzen, weil sie sich „von dem Virus den Spaß nicht verderben lassen wollen“, und wenn Staatsoberhäupter diesen Virus, der in exakt diesem Moment große Teile ihrer Gesellschaft dahinrafft, leugnen oder verteidigen, dann weiß ich nicht mehr weiter. Dann frage ich mich wirklich, wo hier der Schlot des Vulkans steckt, und wie um alles in der Welt er entstehen konnte. Es ist für mich unverständlich, wie ein Mensch so sehr in seiner eigenen Realität leben kann, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne nach links und rechts zu schauen. Das Schlimmste, was ich in dieser Zeit gehört habe, stammt aus einem Video von einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen in München, veröffentlicht von jetzt.de.

Man kann sich ruhig das ganze Video ansehen, oder man springt direkt zu Minute 1:30 und hört, wie ein junger Mann sagt: „Wenn ich Vorerkrankungen hätte und über 80 bin, – sorry, also gar nicht böse gemeint-, aber ich wäre froh und dankbar, wenn ich dann irgendwo hin könnte.“

Was ich diesem jungen Mann gerne sagen würde? Vieles. Aber vor allem zwei Dinge: eine chronische Krankheit zu haben bedeutet nicht automatisch, kein lebenswertes Leben zu führen. Und zweitens: ob ein Mensch sterben soll oder nicht, sollte niemals im Ermessen eines anderen, fremden Menschens liegen. Mein Vater hat dazu ein Bild auf Facebook gepostet, das ich für diese Argumentation sehr treffend fand (keine Sorge, ab und zu kommunizieren wir auch in live 🙂 ).

Dieses Bild trifft meiner Meinung nach sehr gut, wie wir mit diesen Menschen und Meinungen momentan umgehen müssen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wenn ich wieder im Zug sitze und sich die Leute gegenüber die Maske vom Gesicht reißen. Es ist nur sehr frustrierend, dass ein großer Teil unserer Energie dafür eingesetzt werden muss, den Esel vom Minenfeld zu tragen und die Schäden der Corona-Leugner zu beseitigen, anstatt uns gänzlich auf das eigentliche Problem konzentrieren zu können.

In siebeneinhalb Monaten ist die Welt eine andere geworden. Definitiv. Wir vermissen die, die sie vor einem Jahr mal war. Aber wenn wir zurückdenken, war es immer so. Die Welt dreht sich und bewegt sich, verändert sich, seit wir denken können. Nichts bleibt wie es ist. Und das ist eine Chance. „Der einzige Weg da raus ist da durch!“, habe ich mir jedes Mal gesagt, wenn es schwierig wurde. Vielleicht müssen wir dieses Jahr und diese Krise erleben, um daran zu wachsen. Weil, das tun wir. Vielleicht machen uns diese Probleme wachsamer für Probleme, damit wir sie lösen, bevor sie sich anstauen. Vielleicht genießen wir alles, was danach kommt, noch viel mehr.

In einer Zeit, in der alles passieren kann, passiert zwangsläufig auch viel Gutes. Unabhängig von den globalen und lokalen Geschehnissen kann ich sagen, dass mein Leben noch nie so schön war wie es im Moment ist. Ich bin unbeschreiblich dankbar dafür, dass ich so ein Leben führen darf, dass mir die Krise bisher keine Menschen, keinen Job, keine Perspektive genommen hat.

Heute vor einem Jahr habe ich die Zusage für meinen Platz im Studentenwohnheim bekommen, und damit das Go für einen neuen Lebensabschnitt. Ich hatte ja keine Ahnung, was kommen wird. Und jetzt wache ich jeden Morgen neben meinen besten Freunden auf, um den Tag mit ihnen zu verbringen. Wir reden über alles. Wir machen aus allem das Beste. Wir planen unsere Zukunft mit demselben Enthusiamus wie den nächsten Ausflug zum Seepark. Mein Studium erfüllt mich unfassbar, auch wenn ich den Hörsaal und die zu laute UB und den überteuerten frischgepressten Orangensaft schmerzlichst vermisse. (Ich werde mich nie wieder über zu lange Tage in der Uni beschweren, I swear). Mein Vertrauen in das Leben, und in sein Versprechen, dass alles seinen Sinn hat und es immer aufwärts geht, ist hoch.

Das Jahr ist zur Hälfte vorbei.


If you only knew what the future holds, after a hurricane comes the rainbow. // Katy Perry


Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.