Eigentlich fing alles damit an dass Nelly eine Idee hatte.

Nelly hatte ständig irgendwelche Ideen, die meistens eine Katastrophe der Sonderklasse mit sich zogem. So wie damals, als wir als Sechsjährige mitten in der Nacht von Zuhause ausgebüchst waren und auf den großen Hügel beim Spielplatz am anderen Ende der Stadt rannten, weil Nelly dachte, von dort aus könne man vielleicht die Sternschnuppen auffangen, die zu dieser Zeit öfter zu beobachten waren. Ich hatte meinen gelben Sandeleimer dabei und Nelly hatte aus dem Schrank ihrer Großmutter ein riesengroßes Goldfischglas gemopst. Aber irgendwie hatten die Sternschnuppen wohl keine gute Nacht und nach drei Stunden hielt ein Polizeiauto am Spielplatz.

Unnötig zu sagen dass unsere Eltern nach der anfänglichen Erleichterung ihre sternschnuppensammelnden Töchter wohlbehalten wieder zu haben stinksauer wurden und uns drei Wcchen Hausarrest aufbrummten, aber das war nur eine von vielen Ideen die Nelly so ausheckte.

Nur, mittler Weile waren wir beide fünfzehn, und Nellys neuste Idee war jenseits von irgendwelchen nächtlichen Spielplatztouren. Denn Nelly wollte, dass ich, Ronja Rabenstein (schrecklicher Name ich weiß!) endlich einen Freund hatte. Seit Wochen lag sie mir damit in den Ohren, und würde ich mit einer Verwandlung zur Amokläuferin nicht meine komplette schulische Karriere zerstören, hätte ich dem Spuk wahrscheinlich längst ein Ende gesetzt.

Äh naja, nicht wirklich natürlich aber es nervte wirklich extrem.

An einem warmen Samstag im Juni, als wir uns auf ein Eis trafen, war es mal wieder soweit.

Ronja Räubertochter, du brauchst einen Freund!“ Also erstens Mal hasste ich es schon immer, wenn sie mich Ronja Räubertochter nannte, und zweitens, jetzt fing das schon wieder an. „Nelly Noname,“ konterte ich mit so viel Fassung wie möglich, „wieso um Himmels Willen soll ich jetzt auf einmal einen Freund brauchen?“

Da wir im beliebtesten Café unserer Stadt saßen und ziemlich viel los war, wie so oft im Sommer, versuchte ich krampfhaft, mich zusammenzureißen, aber ich konnte nicht verhindern dass in meiner Stimme ein etwas hysterischer Ton mitschwang. Diese Frage hatte ich ihr schon oft gestellt, aber die Antwort war nie besonders einleuchtend.

Auch dieses Mal zuckte meine Freundin nur mit den Schultern. „Ich bin jetzt schon so lange mit Linus zusammen, und ich will nicht dass du dich alleine fühlst. Und außerdem bist du fünfzehn, jedes Mädchen in unserem Alter ist irgendwie verliebt.“ Stimmte leider. Wo immer ich auch hinkam, immer waren da rumknutschende Pärchen oder seufzende Teenagerinnen. Nelly bildete da keine Ausnahme, auch wenn ich fairer Weise sagen musste, dass sie Linus im

Hintergrund hielt so gut es ging. „Ich bin aber nicht verliebt!“ erwiderte ich trotzig.

Es war ja nicht so, dass ich mich von vornerein dagegen wehrte oder so, aber bisher war mir einfach nie der hundertprozentig Richtige über den Weg gelaufen.

Schon klar.“ Sie zuckte umbekümmert mit den Schultern. „Deswegen müssen wir dir ja jemanden suchen.“

Bevor ich protestieren konnte, hatte sie schon ihr Smartphone in der Hand und zeigte mir ungefähr fünftausend ihrer Facebookfreunde, die sie für „geeignet“ für mich hielt. „Aber am besten wär immer noch Leo Stern aus der Neunten.“ Schloss sie. „Der hat nur leider kein Facebook.“ „Mhhm.“ Murmelte ich. Ich hatte ein paar Tische weiter einen alten Mann entdeckt, der ganz allein am Tisch saß und gedankenverloren ins Leere starrte. Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl dass er uns zuhörte.

Ronja jetzt sag doch auch mal was.“ Quengelte Nelly. „Welchen findest du am besten? Such dir einen aus!“

Such dir einen aus? Man konnte sich ein Kleid aussuchen, oder einen Schulrucksack oder meinetwegen einen Hund im Tierheim, aber nicht die große Liebe. „Ich will keinen von denen.“ Sagte ich knapp und im nächsten Moment wurde mir klar dass ich mich gerade zum ersten Mal im Leben gegen eine von Nellys Ideen stemmte. „Gut, dann such hier.“ Meinte sie. Und nachher auf dem Heimweg. Oder in der Schule! Irgendwo wird es doch wohl jemanden geben den du lieben kannst!“ Ich schwieg. Nelly verstand mein Problem nicht.

Nelly ich…“ Der alte Mann drehte sich ruckartig zu uns um, und seine blauen Augen ruhten auf mir. Es machte mich nervös. „Die große Liebe kann man doch nicht einfach so suchen.“ Ich merkte wie verzweifelt meine Stimme klang und das alles war mir wahnsinnig peinlich. Als wären wir in irgendeiner Soap und ich hätte die Rolle der überemotionalen Dramaqueen.

Dabei war Nelly ja nicht so ein Mädchen dass ihren Freund wechselte wie andere ihre Unterwäsche, nur, ihre Vorstellung wie man an einen Freund kommen konnte waren eben etwas äh.. anders als meine.

Wie auf Bestellung bog eine Minute später der gute Linus um die Ecke, steuerte wie immer ein bisschen trottelhaft auf uns zu und rammte immerhin nur vier Stühle.

Nelly strahlte und sagte: „Oh hei Lini! Du kommst genau richtig, wir suchen gerade einen Freund für Ronja. Was macht eigentlich dein Tennisfreund Sebastian, der ist doch noch Single oder?“ Lini warf mir einen mitleidigen Blick zu, der soviel bedeutete wie: Ach je hat Nelly wieder ihren anstrengenden Tag? Und antwortete anschließend: „Nein, ist er nicht. Ich glaube auch kaum dass Ronja auf Rothaarige steht.“ Nein, Ronja steht in der Tat nicht auf rothaarige Tennisfreunde. Und Ronja steht auch überhaupt nicht darauf, ihren Samstag damit zu verbringen einen imaginären Jungskatalog durchzublättern!

Ich geh dann mal!“ stieß ich hervor. „Wir sehn uns in der Schule!“ Damit stand ich auf, schlängelte mich durch die Tische und war schon fast draußen, als mich plötzlich jemand festhielt. Erschrocken fuhr ich herum. Es war der alte Mann, der uns schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Von nahem waren seine Augen noch viel blauer. Gruselig! „Wwas wollen Sie?“ stammelte ich und schielte beunruhigt zu unserem Tisch. Aber Nelly und Linus achteten gar nicht auf mich, weil sie gerade damit beschäftigt waren, sich gegenseitig mit Eis zu füttern. Kein Kommentar. Der Mann lächelte und tausend Fältchen erschienen in seinem Gesicht. „Du hattest recht.“ Schmunzelte er nur. „Der Liebe zu begegnen ohne sie gesucht zu haben ist der einzige Weg sie zu finden.“ „Wer sagt das?“ antwortete ich verwirrt. „Uraltes Sprichwort. Und jetzt geh nach Hause, Mädchen. War schön dich kennen zu lernen.“ „Äh ja gleichfalls.“ Erwiderte ich irritiert und verließ endlich das Café.

Der Liebe zu begegen ohne sie zu suchen ist der einzige Weg sie zu finden.

Den ganzen Heimweg über dachte ich darüber nach. Der Liebe zu begegnen…war ja nicht so dass die Liebe ein Mensch war, der einen auf der Straße anrempelte und „Oh Sorry“ murmelte. Also, was meinte der Verfasser – wer auch immer- mit begegnen? Und was war seine Vorstellung von Liebe suchen? Vermutlich die Gleiche wie die von Nelly.

Ich seufzte.

Irgendwie waren wir doch alle ständig nur am Suchen.

Wir suchten neue Klamotten, neue Freunde und was weiß ich was noch.

Aber es gab eben Dinge, die konnte man nicht suchen. Das war mir heute mal wieder klar geworden. Vielleicht würde ich Nelly von dem Zitat erzählen, wenn

wir uns das nächste Mal trafen. Genau.

Ich atmete auf und fühlte, wie die ganze Anspannung von mir abfiel.

Die Sonne stand schon tief am Himmel und blendete so sehr, dass ich die Augen zusammen kneifen musste. Und plötzlich passierte es. Rums.

Typisch. Ronja Räubertochter, Meisterin im gegen-andere-Menschen-laufen. Ich blieb stehen und öffnete langsam die Augen. Vor mir stand ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte, einen halben Kopf größer als ich, blond, ähnlich blaue Augen wie der alte Mann im Café. „Oh sorry.“ Murmelte er und löste seine Hand von meinem Arm, die er bei unserem Zusammenprall instinktiv gepackt hatte. Ich atmete schwer und mein Herz raste. Ich hatte keine Ahnung was mit mir los war. Oder vielleicht…

Ich wollte zu meinem Opa ins Café.“ Sagte der Junge, dessen Großvater ich schon kannte. „Wenn du willst zahl ich dir ein Eis auf den Schreck.“

Okei.“ Erwiderte ich. Okei okei okei okei.

Irgendwo in mir drin begann etwas zu jubeln. Erst leise und dann immer lauter.

Leichtfüßig folgte ich ihm den Weg entlang, den ich gerade erst gegangen war, der festen Überzeugung, dass ich irgendwann in ein paar Tagen, Wochen oder Jahren der Liebe begegnen würde.

Falsch. Es waren Sekunden gewesen.

Denn an diesem Sommertag im Juni war ich der Liebe begegnet, ich hatte sie gefunden ohne sie gesucht zu haben.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.