Kopfüber | Kurzgeschichte

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Es kann nicht jeder das tun was er will, aber keiner sollte das tun müssen, was er nicht will!

Der Tag fühlt sich wie ein Mittwoch an. Ich habe gerade die Augen aufgeschlagen und weiß schon, dass es wieder ein Mittwoch ist, der mich fast umbringen wird.

Ich hasse Mittwoch.

Trotzdem packe ich die Tasche. Turnschuhe, Jogginhose, T-shirt. Ich habe Angst. Der Ort des Grauens ist groß und hell, aber in der Luft liegt eine Mischung aus Schweißgeruch und Turnhallen-Bodenbelag, von  der mir schlecht wird. Die Streber aus der Parallelklasse melden sich freiwillig, um das Reck aufzubauen. Meine Sportlehrerin gibt Anweisungen, die niemand hört, weil der Geräuschpegel eines 25köpfigen, weiblichen Sportkurs zu hoch ist, um überhaupt irgendetwas zu hören.

Ich denke nicht nach, während wir uns aufwärmen. Ich versuche, keine Angst zu haben, was irgendwie doch wieder nachdenken ist.

Als ich ein Kleinkind war, konnte ich keine Rollkragenpullover oder Schals tragen. Im Kindergarten traute ich mich nicht, Purzelbäume zu schlagen. Ich brauchte vier Jahre, um Schwimmen und Untertauchen zu lernen, ein weiteres für genug Mut, um vom Beckenrand ins Wasser zu springen. In jedem Sommer auf dem Spielplatz saß ich auf der alten Schaukel, während sich meine Freundinnen vom Klettergerüst baumeln ließen, mit den Füßen an der Stange. „Komm auch!“ riefen sie. „Das macht Spaß!“ „Ich kann nicht.“ antwortete ich. „Ich habe Angst!“ „Macht nichts. Du musst ja nicht.“

„Du musst!“ Meine Sportlehrerin funkelt mich an. „Ich diskutier da jetzt nicht mit dir!“ Dieses Mal habe ich es fünfzehn Minuten lang geschafft, mich zu drücken. Ich habe Bodenturnen gemacht. Rolle Rückwärts, Rolle Vorwärts, bis mir schwindelig geworden ist. Die Rolle Rückwärts schaffe ich erst seit einem Jahr. Damals habe ich die Angst überwunden, was nicht heißt, dass ich es jetzt gerne machen. Ich kann jetzt nur damit leben, dass meine Welt einen klitzekleinen Moment kopfüber steht. Jetzt stehe ich vor dem Reck, weil meine Sportlehrerin gemerkt hat, dass ich bisher nicht dran war.

Meine vom Magnesia weißen Hände haben sich um die kühle Stange gelegt. Ich bin 13 Jahre alt, und so klein wie selten.

„Stütz dich auf die Stange, auf Höhe deiner Hüfte, und dann kipp nach vorne!“ Ich hole Luft und stütze mich auf. Die Welt wird klein und ein bisschen verschwommen. „Kippen!“

Keiner weiß, wieso ich mich davor fürchte, mich nach vorne zu kippen, ich am allerwenigsten. Ich wusste nie, wieso mir diese Dinge schwer gefallen sind. Rollkragenpulli. Schwimmen, Tauchen, Springen, Rolle Rückwärts. Reck. Mein Alptraum. Wenn ich nur daran denke, mich jetzt nach vorne zu kippen, wenn ich mich selbst mit dem Kopf nach unten hängen sehe, passiert in mir etwas, das ich nicht beschreiben kann. Es ist dann eine wahnsinnige Angst in mir, gepaart mit dem Wunsch, zu schreien.

„Ich kann nicht.“ Meine Angst war noch nie so groß. Die Lehrerin seufzt und beordert zwei Schülerinnen, die ungeduldig in der Schlange stehen, mir Hilfestellung zu geben. „Jetzt kannst du sicher nicht herunterfallen, ja?“ Sie sagt es, als wäre ich vier, und auch wenn ich mich wirklich so fühle, tut es weh. „Ich habe keine Angst, herunter zu fallen.“ „Dann ist ja alles gut.“ Und sie legt ihre Hand auf meinen Rücken, will mich nach vorne kippen. Ich schreie auf, und ehe sie sich versieht, bin ich abgesprungen. „Es geht nicht!“

Der ganze Sportkurs steht jetzt um mich herum und starrt. Ich höre Tuscheln. Meine Hände, meine Schenkel, alles zittert. Ich wollte keine Angst mehr haben, und jetzt ist sie so groß wie noch nie. Meine Sportlehrerin ist wütend geworden, regelrecht hysterisch schreit sie. „Du machst das jetzt!“ Und sie packt mich hart am Arm, will mich zum Reck zerren. Ich zappele und schreie wie ein kleines Kind. Ich bin 13. Vier. Hilflos. „Wenn du das nicht machst, muss ich dir eine sechs geben. Wegen Arbeitsverweigerung.“ „Dann geben sie mir die sechs.“ flehe ich. „Bitte!“ Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, eine sechs für Arbeitsverweigerung zu bekommen. Aber sie schüttelt den Kopf und deutet auf die anderen Mädchen, die noch immer um uns herumstehen, als wäre das hier großes Kino. „Die alle schaffen es auch.“ „Aber ich habe Angst.“ wiederhole ich. Meine Stimme ist ganz leise geworden. Ich kann nicht mehr, und ich will mich nicht mehr rechtfertigen, dafür dass ich bin, wie ich bin. „Übertreib es nicht.“ Die Lehrerin lacht, höhnisch. „Du steigerst dich da in etwas rein.“ Meine Freundinnen stehen stocksteif da, keine sagt etwas, keine hilft mir. „Wie stellst du dir das jetzt vor?“ fragt meine Lehrerin jetzt spitz.

„So jedenfalls nicht.“

Da beginnt sie zu schreien. Sie schreit, was ich nur für eine Zicke bin, und dass keiner so ein Angsthase ist wie ich. Ein Hase hat Angst davor, vom Jäger erschossen zu werden. Der Vergleich passt.

Sie wagt einen letzten Versuch. „Rauf jetzt! Hopp!“ Ich bin ich. Ich habe mich nie dafür gehasst. Mein Fuß macht einen Schritt. Noch einen. Weg vom Reck. Richtung Türe. Ihre Stimme gellt durch die Halle, als sie versucht, mich zurückzuhalten. Bis die Tür ins Schloss fällt, höre ich sie schreien und toben. Ich lehne mich gegen die kalte Mauerwand und atme auf. Mein Herzschlag verlangsamt sich.

Die da drinnen sind geblieben. Schweigen, Tuscheln, Lachen, Schreien. Ich stelle mir vor, wie sie auf dem höchsten Dach der Welt stehen und gezwungen werden, zu springen. Ich sehe meine Sportlehrerin schreien und toben. „Wieso,“ bekommt sie zur Antwort, „Davor muss man nun wirklich keine Angst haben.“

Ich muss lächeln bei dem Gedanken. Die Welt ist wieder groß geworden.

 

EPILOG

Diese Geschichte ist nicht ohne Grund entstanden. Als ich dreizehn Jahre alt war, habe ich den ersten Entwurf dazu verfasst, aus aktuellem Anlass. Heute bin ich dankbar, dass ich durch die schlimmsten Sportstunden meines Lebens gleichzeitig auch eine der wichtigsten Erfahrungen überhaupt sammeln durfte: man muss immer zu sich selbst stehen.

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.