Ein Foto mit der Analogkamera | 2022, Kapitel 8

Kategorien Tagebuch

Wie schnell kann ein Monat vergehen? Der August so: ja. 

Was habe ich in den letzten 31 Tagen so gemacht? Viel kann es nicht sein, denn dieser Monat hat um die 2,4 Sekunden gebraucht, um vorbeizuziehen. Anderseits liegen auf meinem Desktop zwei fertige Hausarbeiten und eine Vertragsvereinbarung mit einer Literaturagentur, mein sechstes Semester ist beendet und fünf meiner Freunde haben das Land verlassen, um ihr Auslandssemester zu beginnen.

In den 2,4 Sekunden August hat sich mein Leben vielleicht nicht verändert, aber mir schon mal Bescheid gesagt, dass es das bald tun wird. Im Stil einer 180-Grad-Kehrtwende.

Gewissermaßen war dieser Monat ein Foto mit Langzeitbelichtung, ein letztes Mal alles-wie-immer, aber auch nur so halb, weil die Veränderungen wie ein Presslufthammer gegen die Tür geklopft haben. Was man Fotos bekanntermaßen zum Glück nicht ansieht. 

Wettersysteme der Universitätsbibliothek

In der körnigen, lichtfleckigen Qualität einer Analogkamera liegt also ein Monat hinter mir, den ich hauptsächlich in der Universitätsbibliothek verbracht habe. Auch nach sechs Semestern Studium habe ich noch nicht verstanden, wie man etwas gleichzeitig hassen und lieben kann, aber das beschreibt am besten mit welchem Gefühl ich in der Regel die Uni morgens betrete und abends wieder verlasse. 

In den letzten Wochen und Monaten ist die UB auf beängstigende Weise zu einer Art zweitem Zuhause mutiert, einer zeit- und wetterlosen Zone, die ihre eigenen Abläufe und Gesetzmäßigkeiten hat. Ich weiß inzwischen, welches Gedicht und welche Hassparole auf welcher Klokabinenwand steht (die schönsten Texte gibt es klischeehaft im 3. Stock, der Philologie-Abteilung), welcher UB-Dauergänger in der Regel auf welchem Platz sitzt und wann im Café unten am wenigsten los ist, um der aufkommenden Müdigkeit mit Kaffee entgegenzuwirken. Wenn man die UB für ein Mittagessen in der Mensa verlässt, dauert es meistens so fünf Minuten, bis man sich helligkeits- und wärmetechnisch an die Bedingungen jenseits des UB-Kosmos gewöhnt hat, und wenn ich abends an der Dreisam entlang nach Hause radle, brauche ich die halbe Strecke, bis ich meine Gedanken erfolgreich von den Übersetzungsprinzipien Heinrich Steinhöwels oder dem konversationellen Code-Switching zurück auf mein Leben gelenkt habe. So viel zur Hass-Liebe. 

Im Wohnheim steht alles still, ich stelle fest, dass Orte vor allem dann einsam werden, wenn sie normaler Weise das Gegenteil sind; aber ich habe mich bewusst entschieden, diesen Sommer nicht wegzufahren. Nicht bevor ich wirklich wegfahre und erstmal nicht wiederkomme. 

Anstatt in die Ferne hat mich dieser August  – oder viel mehr das 9-Euro-Ticket- an einen anderen Ort gebracht: meine Heimat. Zwischen meinen UB-Tagen war ich so oft zuhause, wie davor Jahre nicht mehr. Das Gute an dieser langen Abstinenz: mein schwäbisches Heimatdorf fühlt sich fast an wie Urlaub, mit seiner Weite, der Stille und dem wild wachsenden, nicht vertrockneten Gras. Jenseits von intakten Wiesen waren es vor allem die Abende und Nächte mit meinen Freunden, die mich vergessen haben lassen, dass seit meinem Auszug drei Jahre vergangen sind. 

Es ist nicht alles wie immer. Aber es ist so schön wie immer. 

In dunklen Lockdown-Zeiten ebenso wie in den Freiburg-Hochzeiten hat mich nicht selten der Gedanke beschlichen: das wars, du hast deine Heimat verloren, du brauchst gar nicht erst versuchen, zurückzukommen, nachdem du so lange weg warst. Und ja, ich glaube daran, dass man, wo immer man ist, mit seinem vollen Herzen sein sollte, und das funktioniert nicht besonders gut, wenn man dem Herz dabei einen Spagat zwischen 180 Kilometern zumutet. Aber diesen Sommer habe ich gelernt, wie man ein Herz sorgfältig einpackt und dahin mitnimmt, wo man hingeht. Und eventuell ist das pathetisch, aber eventuell ist das auch egal, weil ich einfach unsagbar dankbar bin. Euch allen zuhause! 

Apropos Heimat – als es uns letzten verbliebenden Wohnheim-Leuten drohte, langweilig zu werden, haben wir spontan ein Heimat-Hopping veranstaltet, und dabei nicht nur unseren badischen beziehungsweise schwäbischen Stolz überwunden, sondern auch unser Dialekt-Repertoire erweitert. Es war ein Traum! 

Auch auf einer Ecke des August-Fotos: ich, wie ich versuche, zu realisieren, dass ich jetzt von einer Literaturagentur vertreten werde und damit irgendwie Autorin bin. Ich schätze, das dauert noch eine Weile. Das Gute am Nicht-Realisieren: jedes Mal, wenn es mir doch ein bisschen gelingt, freue ich mich aufs Neue. So, so sehr! 

Ein Anflug von Euphancholie


Nachdem ich meine Hausarbeiten irgendwann abgegeben und die UB schweren Herzens verabschiedet habe (Spaß, ich seh mich jetzt schon, wie ich bis zum letzten Tag in Freiburg aus Spaß und Sentimentalität dort sein werde), war es eigentlich mein Plan, doch noch ein bisschen weg zu fahren, das 9-Euro-Ticket auszunutzen und mit meinen Freunden die deutschen Alpen zu besteigen. Genau acht Stunden vor Abfahrt saß ich dann in einer Freiburger Notaufnahme, um den irritierten Ärzten dort mal wieder den Beweis zu liefern: die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Ich weiß auch nicht, wie aus einer aus dem Regal stürzenden Keramikschüssel eine klaffende Wunde am Knöchel entstehen kann, aber ich weiß jetzt, wie e aussieht, wie sowas mit zwei Stichen genäht wird, und eigentlich war es eine ganz nette Erfahrung. Wer meine Nordsommer-Geschichte schon gelesen hat, weiß an dieser Stelle, dass ich das alles nur getan habe, um durch meine Erfahrungen die authentischste Lese-Erfahrung zu bieten. Gern geschehen! Auf die Alpen musste ich aufgrund dieses Zwischenfalls leider verzichten, aber ich habe stattdessen ein letztes Mal den Vorzug Freiburgs genutzt, über Mittag zum Kaffee trinken nach Frankreich zu fahren. Ich habe mich in den kleinen Straßen Colmars verlaufen, Macarons und zu viel Karamell gegessen und mich sehr französisch gefühlt. Au moins pour un instant!

Ansonsten habe ich diesen Monat sehr sehr viele Momente damit verbracht, auf dem Balkon unseres Wohnheims zu sitzen, die Regenbögen und Sterne am Himmel zu betrachten und mir vorzustellen, dass bald mein ganzes Leben hier in zehn Umzugskartons von obi verschwinden und in frühestens sechs Monaten wieder auftauchen wird. Wieder einmal weiß Benedict Wells besser als ich, wie sich dieses Gefühl am besten beschreiben lässt: 

“Es sollte echt ein Wort für dieses Gefühl geben“, sagte sie. „So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird.” 

BENEDICT WELLS

Manchmal ist es so schwierig, die Dinge in ihrer Gleichzeitigkeit zu verstehen. Auszuhalten, dass das Leben kein schwarz-weißes Analogfoto ist. Es ist mein Lebenstraum, in Italien zu wohnen und ich will Freiburg auf gar keinen Fall verlassen. Ich bin so bereit für ein neues, anderes Kapitel und ich will nichts von dem loslassen, was ich gerade besitze und liebe. 

Ich weiß, dass das Erasmus-Semester eine richtige Entscheidung ist, aber das ändert nichts daran, dass es unglaublich hart ist. Möglicherweise bin ich auch hier etwas sehr dramatisch (wir reden von sechs Monaten und was werde ich sagen, wenn ich mein Studium mal endgültig beende? Deabonniert diesen Blog zu eurer eigenen Sicherheit besser vorher), aber ich weiß auch, dass das einfach ich bin. Ich brauche Routine, so sehr. Ich brauche meine Freunde, und meine Wege, die ich jeden Tag gehe, und ich habe immer Angst, etwas zu verpassen. Somit wird das Erasmus-Semester das gewagteste, was ich jemals getan habe. Immer wenn ich daran denke, fällt mir ein, was meine Freundin Magda zu mir gesagt hat, als ich mich für die Erasmus-Bewerbung entschieden habe: Mut wird belohnt, Tabitha. 

Also schließe ich die Augen, und atme durch, und sammle allen meinen Mut zusammen. 
In den nächsten 30 Tagen werde ich ihn brauchen. 

Den nächsten Monatsbeitrag schreibe ich aus Italien. Den schlimmsten, chaotischsten Teil dieses Abenteuers habe ich dann hoffentlich schon hinter mir. Bis dahin halte ich mich fest an meinem körnigen, lichtgefleckten Foto vom August – ich habe diesen Monat gebraucht. Danke. 


Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.