Auf zu neuen Ufern steht in dem Brief, den mir mein Mitbewohner zum Abschied ins Auslandssemester geschenkt hat. Zugegeben- dieses Ufer ist weder neu noch ist es ein Ufer. Venetien war jahrelang der Schauplatz meiner Sommer und zwischen Padua und der Adriatischen Küste liegen gut 40 Kilometer. Aber abgesehen von meinem temporären Umzug in ein anderes Land ist es diesen Monat Herbst geworden, und die Welt verändert sich, und jeden Tag werden wir ein bisschen an neue Ufer geschwemmt.
Kurze geographische Erinnerung: Freiburg und die schwäbische Alb liegen auch nicht am Meer. Trotzdem haben sich die letzten Wochen in meiner Heimat angefühlt wie ein ein Küstenspaziergang – mit jedem Blick zur Seite weiß man, wie begrenzt der Moment ist. Am Horizont des Meeres lag mein Abschied, der erste so lange und so große Abstecher aus meinem süddeutschen Radius heraus. Sechs Monate klingen nicht viel, und manchmal musste ich mir wortwörtlich vor Augen halten, dass ich ja definitiv zurückkehren werde, aber trotzdem ist es ein Ende. Nächsten April wird sehr viel anders sein in Freiburg. Dass die Welt sich weiterdreht, auch an den Orten, an den wir nicht sind, ist manchmal ein gruseliges physikalisches Gesetz.
Aber 21 Tage dieses Monats war ich noch da, und ich habe es sehr genossen. Alles. Meine Heimat mit den weiten Feldern, unserer neuen Katze, einer Abschiedsparty mit meinen Freunden und ein paar letzte Tage mit meiner Familie. In Freiburg: lange Spaziergänge an der Dreisam, abendliche Roadtrips zu Burgerking und ein Wohnheim, das sich mit den Filmabenden im Tischtennisraum und den spontanen Kochaktionen mal wieder nach einer nie endenden Klassenfahrt angefühlt hat. Mit jedem dieser Tage, jedem Regenbogen über dem Einserbau und jedem gemeinsamen Moment mit meinen MitbewohnerInnen wurde das Ausziehen ein bisschen unvorstellbarer. Aber das ist der Preis, den ich zahle – für drei unglaubliche Jahre und eine Gemeinschaft, die nicht mehr auf eine gleiche Adresse angewiesen ist. Weil wir im Herzen immer Alban sein werden. Und nein, ich schwöre, wir sind keine Sekte.
Abschied von den alten Ufern
Nach Wochen und Monaten, in denen ich ihn mir ausgemalt, mich gefürchtet und mich gefreut habe, war er plötzlich da: der Tag meiner Abreise nach Italien. Die Tage davor bin ich fast übergesprudelt vor Vorfreude, aber als es nur noch 24, und dann 23, und dann zwei Stunden in Freiburg waren, war ich nur noch eines: traurig. Unendlich traurig, mein kostbares Zuhause zu verlassen.
Aber so nervenaufreibend und schmerzhaft die Zeit des Abschiednehmens war: ich habe sie auch sehr geschätzt. So viele besondere Momente, Worte und Erinnerungen haben sich aneinandergereiht, als ich allen Menschen, die ich lieb habe, noch einmal ins Gesicht gesehen habe.
Zu realisieren, was ich alles vermissen werde, lässt mich erst verstehen, wie viel ich habe. Wie glücklich ich mich schätzen kann, etwas zu besitzen, das mir das Gehen so schwer macht. Dieser Gedanke, das Austauschen von Traurigkeit mit dankbar sein, haben mir auf der Treppe in den Flixbus, der letzten Schwelle, an der ich hätte umdrehen können, am meisten geholfen.
An gemeinsamen Ufern
Das zu schreiben ist etwas ironisch, weil das sicher nicht erst im September so war, aber: die weltpolitische Lage ist gerade eher etwas ausufernd. Die einzige Reaktion, die ich auf Schlagzeilen wie Scheinreferenden, Gaslecks und Teilmobilisierungen noch habe ist: bitte was? Man weiß nicht mehr, worüber man sich am meisten Sorgen machen soll, und wenn ich ehrlich bin, erwische ich mich immer mehr dabei, wie ich ignorant werde. Ignorant gegenüber ungefähr allem, was passiert. Ich höre es mir an, ich denke bitte was, und dann tut mein Kopf so, als würde das in einer anderen, sehr weit entfernten Welt passieren, oder in einer Dystopie, die ich allerhöchstens in der Uni auf ihre Metaphorik interpretieren muss. Ich würde nicht sagen, dass ich das gut finde. Aber ich verstehe, dass alles andere zu viel wäre. Zwischen dem ignoranten Abstumpfen und dem Versinken in Weltschmerz ist es ein ewiger Balance-Akt.
Zwei Momente haben sich dieser Machtlosigkeit hinsichtlich der antidemokratische, kriegerische Willkür im September gegenübergestellt.
Der erste war ein Wochenende Anfang September, das ich gemeinsam mit anderen StipendiatInnen der Zis-Stiftung für Studienreisen und der französischen Partnerorganisation Zellidja in Straßburg verbracht habe. Wir haben uns dort getroffen, um uns kennenzulernen und gemeinsam über unsere Reisen zu sprechen. Das Gute an solchen Zusammenkünften ist: es kann grundsätzlich nicht schiefgehen, alle sind unvorhergesehene Planänderungen gewohnt und der Gesprächsstoff geht niemals aus. Was den kulturellen Austausch betrifft, haben wir Deutsche gelernt, was für eine Herausforderung vegetarische Ernährung in Frankreich sein kann und – und das war relativ erschreckend- wie militaristisch-kompetitiv unsere Kinderspiele im Vergleich zu denen in Frankreich sind. Oder was verbindet ihr so mit „Kettenfangen“ und „Der Fuchs geht um?“ Ich habe es geliebt, dieses Wochenende zu erleben, mich auszutauschen, wieder einmal zu verstehen, wie wichtig die EU und die internationale Gesprächsführung ist. Und wenn es nur darum geht, nachts um halb eins an der Straßburger Universität alte Kinderspiele auszutauschen. Merci à vous tous!
Der zweite Moment, in dem sich die Welt mal kurz nicht ganz so ausufernd angefühlt hat: ungefähr 250 Erasmus-Studierende in einer viel zu kleinen Karaoke-Bar, Wonderwall im Chor und mindestens 15 verschiedene Nationen. Das kann Europa sein. Natürlich haben wir an diesem Abend nicht über sicherheitsstrategische Politik oder die Bewältigung der Klimakrise gesprochen. Wir waren dort, um zu feiern. Aber das hätten wir auch alle in unseren Heimatländern tun und uns die zehn Stapel Bürokratie, die ein Erasmus-Aufenthalt zwangsläufig mit sich zieht, sparen können. Wir haben uns alle dafür entschieden, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Und so hat mich ein gerammelt volles Irish Pub in Italien ein bisschen beruhigt. Jedenfalls, solange ich das Ergebnis der italienischen Wahl ignoriert habe…
Die erste Woche in Padua
Heute ist es schon fast acht Tage her, dass ich meine drei Gepäckstücke über das Kopfsteinpflaster von Padua geschleift, meine Zimmertür aufgeschlossen und mein neues Leben betreten habe. In diesen acht Tagen ist so viel passiert, dass es mir vorkommt, als wären es zwei Monate gewesen. Es war ein einziges Auf und Ab der Gefühle. Von den ersten Tagen, in denen ich alles gehasst habe, meine ganze Erasmus-Entscheidung hinterfragt habe und gut und gerne über Kleinigkeiten wie einen nicht funktionierenden Staubsauger in Tränen ausgebrochen bin über den aufregenden Beginn der ESN-Welcome Week bis zu dem Punkt an dem ich jetzt bin: ich bin überglücklich, hier zu sein.
Schon an Tag Eins habe ich unglaublich liebe Menschen kennengelernt ( #ErasmusFirstDay) und mit jedem Abend wird die Gruppe größer. Zusammen waren wir in Venedig, haben die italienische Tradition des abendlichen Aperititivo adaptiert und uns in die crowded places der ESN-Events gestürzt. Ich hätte nicht geglaubt, mich nach so kurzer Zeit schon so wohl und sicher fühlen zu können, und ich bin euch so dankbar dafür! Langsam, ganz langsam, schleicht sich auch Padua in mein Herz. Wir hatten keinen leichten Start, so vieles war zu Beginn einfach nur grau und dreckig, und wenn ich wieder mal auf einen der nicht fahrenden Busse angewiesen bin, verfalle ich immer noch in Hasstiraden, aber es wird besser. Ich kann es kaum erwarten, meinen ersten Uni-Tag zu erleben, die ersten Reisen zu planen und das Meer zu sehen. Nach all dem Abschiednehmen und Enden fühlt sich gerade alles nach Anfang an.
Ich kann mir vorstellen, dass sich nicht jede Ankunft an neuen Ufern so sanft gestaltet wie im Falle eines Erasmus-Semesters, bei dem die ersten Tage aus Aperoltrinken und Karaokesingen bestehen. Selbst das hat ja schon seine Zeit gebraucht. Vielleicht hilft es, sich folgendes vor Augen zu halten: wenn man irgendwo ankommt, steht man erstmal nur am Ufer. Dort gibt es mitunter vielleicht feinen Sand und ein paar Muscheln, aber viel mehr auch nicht. Es braucht Zeit. Zeit, um das Innere dieses neuen Landes zu erkunden und Stück für Stück seine Lieblingsorte zu finden. Sich diese Zeit nehmen zu dürfen, ist nicht selbstverständlich, aber wenn ihr die Möglichkeit dazu habt, lasst es zu. Den Abschiedsschmerz und die Freude über jeden kleinen Anflug von Zuhause-Gefühl. So ist das Leben: ein einziges Auf und Ab. Das hat mir der September gezeigt. Danke.