Leben im Highlight-Reel | 2022, Kapitel 10

Kategorien Tagebuch

Monat 10 von 12 dieses Jahres, Woche 6 von fünf Monaten Erasmus in Italien, mein Lieblingsmonat Oktober, tausend neue Dinge jeden Tag. Lässt sich das überhaupt irgendwie zusammenfassen? Nachdem ich gerade eine halbe Stunde meine Tastatur auswendig gelernt habe, ohne einen einzigen Buchstaben zu tippen, beschließe ich hermit, jeden stilistischen und Vollständigkeit betreffenden Anspruch fallen zu lassen. Sonst ist das Jahr vorbei, bis ich sein zehntes Kapitel beschrieben habe. Geschrieben ist es ja ohnehin schon. Leider ohne dass ich dabei viel mitzureden hatte. Das Leben folgte vielen andere Pläne als ich. Aber Spoiler: ein Happy End gibt es trotzdem.

Im Nieselregen

Was ich in den letzten vier Wochen gelernt habe? Vor allem, dass die abgedroschensten Sprüche zwar abgedroschen werden können, ihre Wurzel – die Gültigkeit – aber hartnäckig behalten.
Als kleines Beispiel: „Ein Unglück kommt selten allein“ kann unter Umständen bedeuten, dass man innerhalb von sieben Tagen seinen Ausweis, den Zugang zu seiner Kreditkarte und den gesamten Enthusiasmus für ein Erasmus-Semester verliert. Oder wusstet ihr, dass sich „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“ hervorragend übertragen lässt auf: „Ein negativer Corona-Test heißt leider nicht, dass man kein Corona hat“? Runde Zwei von Corona fand leider jenseits von gemütlichen Brunch-Vormittagen und Spaziergängen an der Dreisam statt, dafür aber mit den schlimmsten Halsschmerzen zehn Tage straight. Fazit: das italienische Update lohnt sich wirklich nicht.

Den ganzen Sommer über war ich so damit beschäftigt, Angst vor dem Abschied von Deutschland zu haben, dass ich den Anfang in Italien kolossal unterschätzt habe. Ungewöhnlich optimistisch dachte ich: wenn ich erst einmal da bin, fügt sich alles von allein. Und dann – war es überhaupt nicht so. Von meinen gesellschaftsfreudigen Mitläufer-Unglücken wie dem verlorenen Ausweis oder meiner nicht ganz so glimpflichen Corona-Infektion abgesehen waren es vor allem die kleinen Herausforderungen, die mich wie ein Nieselregen jeden Tag gestreift haben. Immer dann, wenn sich ein Problem gelöst hat, hat sich das nächste auf seinen großen Auftritt gefreut.

Aller Anfang ist schwer

Erasmus ist neue Länder entdecken und wilde Nächte feiern, aber es ist auch nicht endender Papierkrieg, drei gleichzeitig stattfindende Kurse, ein Stundenplan, der öfter wechselt als das Wetter und das sichere Gefühl, allein auf der Welt zu sein, egal wie viele Menschen um dich herum Richtung Getränkeausschank drängeln. Nichts von dem hier fühlt sich nach Heimat an, und ich? Ich bin mir selber nicht mehr genug zuhause. Kostenlos dazu: der Druck, sich besser fühlen und alles gut und richtig machen zu müssen, weil doch offenbar alle anderen ihr bestes Erasmus-Leben leben. Weil doch alle Freunde zuhause gesagt haben: „Das wird die Zeit deines Lebens.“

Wenn ich an die ersten Wochen zurückdenke, war das höchstens eine der schwierigsten Zeiten meines Lebens. Auch schön! Dabei sieht mein eigenes BeReal und Instagram ja auch aus, als wäre mein Erasmus-Semester ein einziges Highlight-Reel. Als würde der von Hesse versprochene Zauber jedes Anfangs in Leuchtbuchstaben am Himmel pranken. Wie verloren und einsam ich mich zwischen Aperol, golden hour am Strand und den Blumen vom Gardasee fühle, habe ich den wenigsten Menschen erzählt. Meistens nicht mal mir selbst.

Am Ende des Monats war es dann eine einfache Weisheit, die mich keuchend eingeholt hat, als ich meinen Problem nicht mehr davonrennen konnte. Vier Worte haben gereicht, um meine Perspektive zu verändern. Aller Anfang ist schwer. So einfach, so immer gültig, und trotzdem war ich mir bisher so sicher gewesen, mein Anfang müsse federleicht und magisch sein. Aber wie soll er auch? Ich habe mein Zuhause zurückgelassen, die Dreisam, meine Bücher, all die Menschen, die ich brauche.

Neu anfangen heißt, dasselbe abenteuerliche, komplizierte Leben weiterzuleben, nur ohne alles, was normalerweise dabei hilft. Wenn Hesse vom Zauber dieses Anfangs spricht, dann meint er vielleicht genau das: einen freigewordenen Raum und die Magie, ihn neu zu füllen. Mit Orten, Menschen und Erkenntnissen. Dass das aber eventuell nicht in den ersten zehn Tagen passiert, und auch nicht nach drei Wochen vollbracht ist, musste ich lernen. Aber immerhin weiß ich es jetzt.

Das Highlight-Reel

Das hat mir der Oktober geschenkt: mehr Verständnis für mich selbst und dafür, was ich fühle: Traurigkeit, wenn ich an das Leben zuhause denke, das einfach weitergeht. Erleichterung, weil ich hoffentlich die schwierigste Zeit dieses Abenteuers hinter mir habe (erinnert ihr euch, wie ich dasselbe Ende August für Ende September prognostiziert habe? Es bleibt spannend). Stolz, weil ich hingegen meiner eigenen Erwartungen alles überstanden habe, was an Nieselregen vom Himmel fiel. Zum Beispiel verstehe ich in den Vorlesungen mittlerweile schon solide 50 Prozent statt den anfänglichen 0,1 Prozent. Es kann nur aufwärts gehen!

Aber vor allem fühle ich Dankbarkeit. Für so vieles. Dass ich diese Zeit überhaupt erleben darf, zum Beispiel. Für den sonnigsten und wärmsten Oktober überhaupt (25 Grad in der Sonne, gut dass ich nur ungefähr drei T-Shirts eingepackt habe), für neue Freundschaften, die sich wie alte anfühlen, für die vielen vielen lieben Nachrichten von meinen Freunden zuhause, 23 werden am Strand, magische Sonnenaufgänge auf dem Weg zur Uni, durchtanzte Nächte im Industriegebiet, Pizza in Verona, Bootsfahrten über den Gardasee, Zartbitterschokolade in Vicenza und Kaffee in Trieste. Mein Herz hat sich längst restlos verliebt in dieses Land. Kein Mitspracherecht meinerseits. Wobei ich ihm auch nur zugestimmt hätte.

Und so habe ich sie im Oktober doch noch gefunden: die Momente, in denen sich mein ganzes Leben anfühlt wie ein einziges Highlight-Reel. Und das Beste daran: es gibt noch eine Weisheit, die ganz vielversprechend klingt. Glauben wir also einfach alle felsenfest daran:

Das Beste liegt immer vor uns.


An euch:

Dass ich diesen Oktober gelernt habe, mir selbst Verständnis entgegenzubringen, liegt vor allem an den vielen Menschen, die mir gesagt haben, dass ich das darf. Auch wenn wir niemals eine Erlaubnis brauchen sollten, für uns einzustehen: hier ist sie. Aller Anfang ist schwer, aber auch manchmal jeder Mittelteil, und ein Ende sowieso. Jeder von uns kämpft mit seinen eigenen Geistern, und wir leben in keiner einfachen Zeit. Es ist schwer. Und alles, was es ein bisschen leichter macht, dürft ihr euch erlauben. Das wünsche ich euch.


Postkarten aus…

… PADUA:

VERONA:

LAGO DI GARDA:

TRIESTE:

LJUBLJANA:

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.