Zeit zu gehen | Abschied von meiner Stufe

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Liebe Stufe.

Ich wusste lange nicht, wie ich das beginnen soll. Wie schreibt man einen Brief an 75 Menschen? Hätten wir das im Deutschunterricht  bloß einmal besser behandelt – wie man Gefühle aufschreibt, die man noch nicht einmal im Kopf zu fassen bekommt.

Es wird mir ohnehin nicht gelingen, an alles zu denken, hier alles aufzuschreiben, was aufgeschrieben gehört. Unsere Geschichte ist so groß, dass sie ein Buch füllen könnte. Und gerade wünsche ich mir, dass dieses Buch existieren würde. Genau jetzt würde ich es wieder aufschlagen und zurückkehren, in die Zeit, in der wir noch unter uns waren.

Die letzten Stunden in denen das der Fall war, liegen schon eine ganze Weile zurück. Es war ein bewölkter Morgen, der zu früh begann. Als ich aufwachte,  weil irgendwo hinter den Wolken die Sonne aufging, war es fünf Uhr morgens und ich saß auf einem Campingstuhl der nicht mir gehörte. Was ich dachte war: Faszinierend wie sich rund 60 Menschen auf einer Waldlichtung befinden können und es trotzdem so ruhig sein kann. Diese Waldlichtung kennt schon ganz anderes von uns.   In den vergangenen Jahren hatte sie das eine oder andere Mal das Vergnügen mit uns und unseren Stufenfesten, sowie unserem nicht allzu ausgeprägtem Verantwortungsbewusstsein bezüglich Müllentsorgung und Lärmbelästigung.

Ich kann mich noch genau an das erste Mal erinnern, als wir dort zusammenkamen. Wir standen kurz vor der elften Klasse und es war das erste Mal, dass die Burladinger und die Gammertinger aufeinander trafen, das erste Mal, dass uns bewusst wurde: entweder wir freunden uns jetzt alle an – oder wir müssen so irgendwie durch.

Ich bin verdammt froh, dass wir die erste Variante gewählt haben.

Am Anfang, das kann ich ganz ehrlich so sagen, war ich in meinem Grundkurs todesunglücklich. Ich kann gar nicht mehr genau sagen wieso, es war nur das Gefühl, dass mir die wichtigsten Leute gefehlt haben. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit kannten wir uns einfach nur zu wenig um zu wissen, wie cool wir sind.

Es braucht seine Zeit, zusammenzuwachsen. Am Anfang saß uns noch der Streit in den Knochen, den es um die Kurswahl im vergangenen Schuljahr gab. Die Nerven, die wir dafür geopfert hatten, mussten sich erst einmal regenerieren (Können sich Nerven regenerieren? Bio 4-stündig, helft mir)

Dringend notwendig war es jedenfalls, denn was dann kam, forderte uns mindestens genauso viel Durchhaltevermögen, Flexibilität und Humor ab. Von den schulischen Ansprüchen der Oberstufe einmal völlig abgesehen – einfach wurde uns nichts gemacht. Man nehme nur mal das Stufenfest im November 2016. Wir hätten es sicherlich gerne in einem fröhlichen, sauberen Rahmen verbracht und wären irgendwann glücklich und zufrieden nach Hause zurückgekehrt. Könnt ihr vergessen, dachte sich offensichtlich die Kanalisation des Jugendzentrums, und trat einfach über. Woraufhin die Toiletten unbegehbar und der Geruch nicht zu überriechen war. Kaum zu fassen, aber ein Teil unserer Stufe hatte in diesem Raum sogar übernachtet – in dem einzigen Raum, dessen Boden noch sauber war.

Auch sonst waren Stufenfeste immer wieder eine Herausforderung, weil es so schwierig war, eine geeignete Location zu finden, beziehungsweise abhängig vom Wetter zu sein. Und wenn das nicht ganz mitspielte, taten wir das, was wir nach feiern am besten können: diskutieren. Wirklich, wir lieben das.

Offensichtlich denkt sich bei einem Streitthema jeder: Wozu haben wir denn sonst diese WhatsApp-Gruppe, wenn nicht zum Argumentieren, Auslachen und sinnlose Memes beisteuern? Und so mancher hat in den zwei Jahren wohl sein Talent im argumentativen, gepflegten Eliminieren anderer Meinungen entdeckt. Aber hey – was gibt es schöneres, als nach 5 Minuten 100 neue Nachrichten auf dem Handy zu haben?

Deswegen ist alles, was wir letztlich beschlossen und durchgeführt haben von so hoher Qualität: es hat immerhin eine Diskussion in der WhatsApp Gruppe und zahlreiche schlagfertige Nein-Argumentierer überstanden.

Und wir haben viel geschafft. Damit meine ich nicht einmal, dass der absolute Großteil der Stufe am Ende der zwei Jahre dann auch wirklich sein Abiturzeugnis in der Hand hielt und wir einen passablen Gesamtdurchschnitt von 2,3 erzielt haben.

Viel mehr noch zählt für mich, was wir außerhalb des Schulischen auf die Beine gestellt haben:  eine eigene Abiparty, die ein voller Erfolg geworden ist, ein Wochenende auf Abihütte und eine Woche in Lloret, die alle überlebt haben (außer die Türe in Tieringen und die Decke im Guitart Park Resort) und eine Party in bedenklichen Höhen auf einem nicht eingezäunten Dach.

Aus Biegen, Brechen und Höllenqualen heraus ist ein Abibuch entstanden, das alles andere als perfekt ist, uns aber immer an diese Zeit erinnern wird.

Perfekt war bei uns sowieso nichts. Wir waren nie diese Vorzeige-Stufe, in der sich alle einfach super verstehen und eine schöne Zeit zusammen verbringen. Das war schon klar, als wir in der Unter- und Mittelstufe zahlreiche Lehrer zur Weißglut gebracht haben. Hauptverantwortliche dafür: diverse Musikboxen und Instant-Buttons-Sounds, Urmensch-ähnliche Geräusche (die ihre Renaissance in Klasse 12 hatten) und die werte Südkurve, vor denen manche Lehrer wahrscheinlich bis heute träumen – und davon nicht erholt aufwachen.

Bis heute hat sich gehalten, dass einige in der Stufe sich engagiert dafür eingesetzt haben, dass Aktionen wie die Stufenfeste oder der Abipulli überhaupt möglich gemacht werden konnten, während es andere erfolgreich geschafft haben, die zwei Jahre ohne einen wirklichen Einsatz zu durchleben. Dass das unfair ist, ist keine Frage. Dass es uns im späteren Leben immer wieder so gehen wird, aber genauso wenig. Die Erfahrung, dass manche Leute einfach grundsätzlich nicht mit dem selben Engagement an eine Sache heran gehen wie man selbst, war für mich sehr deprimierend, gleichzeitig unglaublich lehrreich.

Genau das hat die zwei Jahre so besonders gemacht: neben dem Aufstellen einer Differentialgleichung, der Entstehung einer Erzlagerstätte und der Analyse eines Gedichtes haben wir vor allem gelernt, wie das Leben funktioniert – und wie es nicht funktioniert. Die Stufe und die Schule boten uns den geschützten Raum, in dem wir uns ausprobieren konnten und zum ersten Mal gesehen haben, wer wir sind und wo wir hin wollen. Den ersten großen Schritt in ein selbstbestimmtes Leben haben wir gemeinsam vollbracht, und das wird uns auch in 20 Jahren, wenn wir längst irgendwo sind, keiner mehr nehmen können.

Wir waren uns so oft uneinig – in allem, in dem man sich uneinig sein kann. Wir kommen von zwei verschiedenen Schulen, aus drei verschiedenen Landkreisen und 22 verschiedene Ortschaften.Aber an diesem bewölkten Morgen an der Grillstelle sind wir als eins aufgewacht. Oder, wie unser Spitzenpolitiker Nummer 1 am Abiball so schön gesagt hat: wir haben es geschafft, eine Einheit zu bilden.

Wie ich das vermissen werde, diese Einheit, in der alle das gleiche Ziel verfolgen. Draußen in der Welt ist jeder wieder für sich. Etwas mit dieser Stufe vergleichbares wird es nicht mehr geben. Schon jetzt sind alle, die vor nicht einmal einem Monat zusammen in der Aula saßen und angespannt auf die Ergebnisse des Abiturs warteten, überall auf der Welt verstreut. Die Zeit, die wir zusammen haben, ist vorbei, ist still und leise zu einem Teil von uns geworden, der uns ab jetzt auf unerkannte Weise begleiten wird.

Danke. Danke dafür, dass ihr die Schule zu einem Ort gemacht habt, zu dem ich gerne gekommen bin. Mit eurem Lachen, euren verrückten Ideen, eurem Humor und eurer Einstellung. Danke für belanglose Oberstufenraum-Gespräche mit jedem, der gerade da war. Für Pausen, in denen wir für eine lächerliche Packung gebrannter Mandeln auf den Markt gerannt sind, um dann hoffnungslos zu spät zurück zu kommen. Für zahllose Diskussionen über die Planung des Wochenendes an den geschlechtlich streng getrennten Aulatischen. Danke, dass selbst das Mensaessen mit euch irgendwie genießbar wurde, und die rätselhaften Produkte des Schulbäckers, danke dass Sportstunden mit euch zur Comedy wurden und so manche Englischstunden in Kinovorstellungen ausgeartet sind. Danke für die vielen unvergesslichen Momente außerhalb des Schulgeländes, in Heidelberg, Sizilien, Dachau, Lloret, und und und. Für die großen und kleinen Dinge – danke, dass mit euch absolut nichts alltäglich war.

Was wir hatten, kann uns keiner nehmen. Wichtig ist doch, dass wir es hatten. Wenn ich in den letzten Monaten, in all den Momenten der Abschiede, mit der Schwermütigkeit gekämpft habe, haben mich 8 Worte immer wieder gerettet: Don´t cry because it´s over, smile because it happened. Dass es passiert ist, ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Wir hätten uns damals beim ersten Stufenfest genauso dazu entscheiden können, Einzelkämpfer zu bleiben, unseren eigenen Weg zu gehen. Dann wäre es gelaufen wie an zahllosen anderen Schulen auch: ein Abitur wie jedes andere, keine Abihütte, keine Abireise, keine ausgelassenen Feste bis tief in die Nacht.

Deswegen können wir verdammt froh sein, dass wir das hatten, dass es uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Dass es uns lachen lässt, wenn uns an irgendeinem Punkt in unserem Leben zum Heulen zu Mute wäre.

Don´t cry because it´s over, smile because it happened.

Und damit sind wir wieder angekommen an jenem bewölkten Morgen im Wald. War es nicht einfach nur unglaublich gut?

Und wie cool war bitte erst unser Abiball, die Nacht der Nächte, auf die wir alle so unglaublich lange gewartet haben? In dieser Nacht wurde das alles noch einmal lebendig. Was wir in acht oder zwei Jahren Gemeinschaft gelernt hatten, es schwebte über uns und färbte alles golden. Es war vielleicht die tollste Nacht unseres Lebens.

 

Ich hätte es ja nie gedacht, aber unsere „Chorproben“ in den letzten Wochen scheinen tatsächlich etwas genützt zu haben, denn als wir da so standen und mit 75 Mann gesungen haben: Auch wenn es weh tut, ist es Zeit für uns zu gehen, wenn es am Schönsten ist , da waren wir die lauteste, klangvollste, bunteste und stärkste Einheit die die Welt je gesehen hat.

Danke.

Es ist Zeit zu gehen
Wir danken Euch für all die Jahre
Auch wenn es weh tut
Ist es Zeit für uns zu gehen
Wenn es am schönsten ist

Es ist Zeit zu gehen
Wir werden Euch im Herzen tragen
Auch wenn es weh tut
Ist es Zeit für uns zu gehen
Wenn es am Schönsten ist


Kein Augenblick ist je verloren
Wenn er im Herzen weiterlebt
Das Leben wird jetzt anders sein
Doch die Erinnerung bleibt ewig bestehen

Wir werden Euch niemals vergessen
Jeder von uns geht seinen Weg
Unsere Fortuna trägt Euren Namen
Ihr habt gezeigt, dass alles möglich ist!

-Zeit zu gehen, Unheilig

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.