Die Schreie waren bis in mein Zimmer zu hören. Wieder einmal. Wütend lag ich auf meinem Bett und starrte an die Decke, die ich als Sechsjährige mit Leuchtsternen und Pferdebildern beklebt hatte. Das war alles, was von früher übrig war. Noch zwei Jahre, dann würde ich mein Abitur machen. Zwei Jahre, dann würde ich hier raus sein. „ Das ist doch alles nur, weil du es nicht einsehen kannst!“ tönte es vom Erdgeschoss. „Weil du so stur bist!“ Durch mein Dachfenster sah ich, wie am Himmel dunkle Wolken aufzogen. Ich drehte mich um und vergrub den Kopf unter einem der Kissen, die meine Mutter immer nähte, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte. Also immer dann, wenn mein Vater abgespannt von der Arbeit zurückkam, und irgendetwas fand, dass es zu kritisieren gab. Und wenn es nur die Arbeitsplatte in der Küche war, die nicht so sauber glänzte, wie er das gerne hätte. Dann entwickelten sich Diskussionen wie heute, ein endlos langes Hin und Her, bis meine Mutter ins Dachgeschoss verschwand und weinend Kissen und Taschen nähte, manchmal sogar ganze Kleider. Als ich da so unter meinem Kissen lag, und versuchte, die Schreie zu ignorieren, dauerte der Streit bereits mindestens eine Stunde. Fast wartetet ich darauf, dass meine Mutter nachgab und weinte, denn ein kontinuierliches Schluchzen über meiner Zimmerdecke war besser zu ertragen als diese lautstarken Wutausbrüche.

Mit einem leisen Ploppen meldete mein Handy das Eingehen einer Nachricht. Es war Hannes. Kommst du zum Skaterplatz? Ich ließ meinen Blick zu meinem Longboard wandern, das in einer Ecke meines Zimmers verstaubte, seit Wochen hatte ich es nicht mehr benutzt. Irgendwie fehlte mir die Freude daran, vielleicht, weil mein Kopf in letzter Zeit so voll von anderen Dingen war. Eltern die sich nur noch gegenseitig anschrien zum Beispiel. Also ließ ich die Nachricht erst einmal unbeantwortet. „Du weißt doch selber dass es so nicht weiter geht!“ hörte ich meine Mutter rufen. Ihre Stimme klang fest, was selten geschah. Meistens zitterte sie ein wenig, wenn sie wütend war. „Es ist doch auch für Marcia!“ „Eben.“ sagte mein Vater. „Für Marcia haben wir uns 16 lange Jahre Mühe gegeben. Und wenn du jetzt gehst, dann musst du ihr erklären wieso.“

Einen Moment lang war es fast still, nur von weiter weg war ein Donner zu hören.Ich wünschte, der Donner oder das Kissen hätte abgedämpft, was ich gerade gehört hatte. Meine Augen brannten.

Ich sah förmlich vor mir, wie meine Mutter tief durchatmete, bevor sie langsam sagte:

Ich gehe nicht, weil ich etwas aufgeben möchte. Ich gehe, weil ich das alles einfach nicht mehr kann. Ich gehe kaputt.” Mein Vater räusperte sich. „Du bist doch schon kaputt.“Ich sprang auf, noch ehe ich die erste Tasse auf dem Boden aufschlagen hörte. Keine Sekunde ertrug ich es mehr, in diesem netten, pastellfarbenen Einfamilienhaus.Ich schnappte das Longboard aus der Ecke und rannte nach unten.Sie merkten nicht nicht einmal, dass ich ging, obwohl ich die Zimmertüre extra laut zugeschlagen hatte. Vermutlich wussten sie nicht einmal, dass ich überhaupt da gewesen war. Draußen tippte ich eine Nachricht an Hannes. Ich komme! Dann fuhr ich los.

In der Ferne war ein weiterer Donner zu hören, und ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, Angst vor dem Gewitter zu haben, und keine Angst vor dem, was vielleicht kam, und wovor ich mich schon so lange gefürchtet hatte.Der Skaterplatz war menschenleer, nur Hannes saß auf einer der Halfpipes und schraubte an seinem Board herum. Als er mich sah, ließ er es oben liegen und kletterte mit wenigen Schritten von der Pipe. „Hi. Alles klar?“
„Geht so.“ entgegnete ich. Ohne zu antworten stieg er auf mein Longboard und fuhr eine Runde über den Platz. „Du hast die Schrauben immer noch nicht angezogen.“ „Ich weiß.“ sagte ich.„Ich muss mit dir reden.“

Wir setzten uns auf den Asphalt, Schulter an Schulter, an die Halfpipe-Kante gelehnt. „Das mit deinen Eltern.“ Ich schaute starr geradeaus. „Was war das Erste, an dem du es gemerkt hast?“ Augenblicklich wurde er ernst. „Echt jetzt?“
Ich konnte nur die Lippen aufeinander pressen, ein Wort, und ich wäre genau so erbärmlich in Tränen ausgebrochen wie meine Mutter vorhin.„Ich weiß nicht.“ sagte er schließlich. „Das war bei denen irgendwie schon immer. Heute denke ich, dass sie sich nur Lily und mir zu Liebe geküsst haben. Oder mit uns in den Urlaub gefahren sind. Ich glaube, sie haben sich schon gestritten, bevor ich überhaupt auf der Welt war.“ Ich schwieg. Für Marcia haben wir uns 16 lange Jahre Mühe gegeben. Mir wurde schlecht. Hannes hielt mich an den Schultern fest,

„Geht´s?“ Ich nickte leicht und löste mich aus seinem Griff. Er sah mich prüfend an. „Sicher?“ „Ja. Hannes, ich glaube sie tun es.“ Langsam lehnte ich mich wieder zurück. Die Übelkeit hatte nachgelassen, aber die Angst war noch da. In den letzten Tagen hatte ich ständig versucht, mir nicht anmerken zu lassen, wie schlecht es mir wirklich ging, in der Schule, vor meinen Freunden. Hannes war der Einzige, dem ich je davon erzählt hatte.

Seine Eltern hatten sich zum Ende des letzten Schuljahres scheiden lassen. Damals war Hannes noch in meiner Parallelklasse gewesen, und Tag für Tag hatte er immer noch verzweifelter gewirkt, obwohl er genau so versucht hatte, es zu verbergen, wie ich jetzt. In den Sommerferien waren Hannes und seine kleine Schwester Lily zu ihrer Mutter gezogen, die in einer anderen Stadt eine kleine Wohnung gefunden hatte. Er war nur noch an den Wochenenden hier, und dann auch eher auf dem Skaterplatz als zuhause. „Mein Vater ist unausstehlich geworden seit er alleine lebt.“ hatte er neulich gesagt. „Ich gehe nur noch wegen dir zu ihm, und wegen meinen anderen Freunden.“

Wenn ich genau nachdachte, war mein Vater jetzt schon unausstehlich.

„Bist du ganz sicher?“ fragte Hannes. Ich erzählte ihm, was ich in meinem Zimmer gehört hatte, und da nickte er langsam. „Das hat meine Mutter auch gesagt, dass sie einfach nicht mehr kann.“ Er stand auf, wie um seiner Aussage mehr Bedeutung zu verleihen und sah mich an. „Ich hab zu ihnen gesagt, dass sie sich trennen sollen, weil es mir so, wie es damals war, gar nichts genützt hat. Nicht für das Abi und nicht für mein Leben.“

Ich nickte nur. „Eltern sind scheiße, wenn sie sich trennen.“
Hannes setzte sich wieder neben mich. „Ich weiß.“

Eine Weile saßen wir einfach nebeneinander. Ich sah zum Himmel. Seit dem Donner auf dem Weg hierher war es ruhig geblieben, aber kaum hatte ich das gedacht, spürte ich den ersten Regentropfen auf meinem Arm.

„Sollen wir unters Dach?“ fragte Hannes. „Nass werden,“ erwiderte ich, „ist so viel weniger schlimm als andere Dinge.“ Wir blieben also sitzen, und während der Regen unsere Haare durchnässte, dachte ich eigentlich an gar nichts, nur daran, dass ich froh war, ihn zu haben, und dass ich am liebsten für immer auf dem Skaterparkplatz geblieben wäre.

Irgendwann stieß Hannes mit dem Fuß mein Board an. Es rollte höchstens zwei Meter weit. „Marcia, denk daran, du bist nicht abhängig von ihnen. Du schaffst das. Aber eins musst du mir versprechen.“ Ich hob die Augenbrauen, aber er sah an mir vorbei. „Wenn du nicht mehr nach Hause kommen willst, weil du es so schrecklich findest, dann musst du was machen, ja? Ich will nicht, dass du dich verschließt, und mit niemandem mehr redest. “ Er kratzte sich am Kopf. „Wobei ich dir das eigentlich nicht zutrauen würde.“ „Stimmt.“ seufzte ich, „das ist eher so deine Art.“

Ganz am Anfang war Hannes selbst so gewesen, wie er es gerade gesagt hatte.Ich hatte mich hilflos gefühlt, war praktisch nur daneben gestanden, hatte ihm zugesehen, wie er sich erst verloren, und dann wieder gefunden hatte. Und heute saß er neben mir und erzählte vom letzten Sommer, als wäre es das normalste auf der Welt.

„Wie machst du das eigentlich?“ fragte ich.

„Wie kannst du da plötzlich so einfach drüber reden?“ „Naja.“ Hannes sah zu Boden. „Vielleicht, weil ich gemerkt habe, dass es das Beste ist, was man aus so einer Situation noch machen kann. Anderen damit zu helfen.“ Gerade wollte ich sagen, dass er recht hatte, und dass er mir wirklich half damit, da fuhr ein Auto in die Einfahrt des Skaterparkplatzes. Es war der Wagen meiner Mutter.Ich sah sofort die große Reisetasche, die sie achtlos auf den Beifahrersitz geworfen haben musste, und die Wimperntusche, die nicht mehr auf ihren Wimpern, sondern auf ihren Wangen klebte.

Ihre Absätze klackerten auf dem Asphalt des Skaterparkplatzes, als sie auf uns zu lief. »Gott sei Dank. Ich habe gehofft, dass ich dich hier finde.« Ihre Stimme zitterte jetzt doch ein wenig.

Hannes räusperte sich verlegen. »Gut also ich geh dann mal, mein Vater wartet sowieso schon.« Er sah noch einmal zu mir. »Ich ruf dich morgen an.« Damit verschwand er Richtung zuhause. Sein Board ließ er auf der Halfpipe liegen.

»Marcia.« Meine Mutter machte einen kleinen Schritt auf mich zu. »Es tut mir Leid, dass du das alles mitanhören musstest.«
Als ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Das Wichtigste ist, dass du verstehst, dass du keine Schuld trägst. Und glaub mir, ich würde dir zu Liebe bleiben, wenn ich könnte. Aber es geht nicht.« »Schon gut.« Ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. Das verweinte Gesicht meiner Mutter konnte ich kaum ertragen.

»Auch dein Vater meint es nicht böse.« fuhr sie fort. »Das weißt du doch, oder?« Ich nickte, und konnte ihr in diesem Moment sogar glauben.Sie sah mich bittend an. »Pass ein bisschen auf ihn auf, ja? Im Übrigen bin ich ja nicht für immer weg. Ich brauche einfach eine Weile Zeit für mich alleine.«

Versprich nichts, was du nicht halten kannst, dachte ich, aber dann nickte ich. Meine Mutter atmete tief durch. „Gut. Ich werde mich auf jeden Fall melden und…du schaffst das schon.“

Ganz am Ende der Straße sah ich Hannes stehen. Er hielt sein Handy in der Hand, schien uns aber zu beobachten. „Ja.“ sagte ich. „Ich bin ja auch nicht alleine.“ Da umarmte sie mich, nur ganz kurz, aber sehr heftig. Ich sog ihren Geruch ein, versuchte, ihn mir einzuprägen. Als die Umarmung vorbei war, war Hannes von der Straße verschwunden.

„Soll ich dich noch nach Hause fahren?“

Ich schüttelte den Kopf, und sah ihr hinterher, wie sie mit ihren hohen Schuhen ins Auto stieg, wendete, und davon fuhr. Ich glaubte zu sehen, dass sie wieder angefangen hatte, zu weinen. Langsam nahm ich mein Longboard in die Hand und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte es nicht eilig.

Die Dinge würden sich früh genug verändern.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.