Manche Menschen sagen, Heimat ist da, wo man sich zuhause fühlt.

Im Poesiealbum meiner Mutter steht, dass Heimat da ist, wo die Wiege stand, und laut einer Definition im Internet ist Heimat „Der Ort wo man geboren wird und aufwächst, oder wo man sich zuhause fühlt“.

Ich bin jetzt sechzehn Jahre alt, und wenn ich zurückblicke, hat mir nie etwas gefehlt. Und doch ist meine Heimat in klitzekleine Teile zerschnippelt, die sich nicht auf einen Ort einigen konnten, und jetzt kilometerweit von einander entfernt sind. Geboren wurde ich in Lissabon, Portugal, wo mein Vater herkommt. Meine Großmutter wohnt dort auch, gemeinsam mit ihrem zweiten Mann, und sie hat fest damit gerechnet, dass wir bei ihr wohnen bleiben, und sie ihren einzigen Enkel beim Großwerden begleiten darf.

Es kam anders, als mein Vater beschloss, uns zu verlassen. Ich war vier Jahre alt, und alles, was ich von meinem Vater heute noch weiß, ist, dass ich ihn nie wieder sehen möchte. Daraufhin sind meine Mutter und ich zu den Eltern meiner Mutter gezogen, in ein kleines Dorf in Süddeutschland. Mein Vater lebt jetzt in Berlin und hat eine neue Frau. In der Nacht, in der sie es erfahren hat, hat meine Mutter fünf Küchenteller zerschellt.

Manchmal denken die Menschen, ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Weil ich nicht zu der Definition passe. Geboren wurde ich in Portugal, aufgewachsen bin ich in Deutschland, und zuhause fühle ich mich nicht an einem Ort. Zuhause fühle ich mich, wenn es meiner Mutter gut geht, wenn ich mit meinen Freunden draußen bin, oder beim Fußball das alles entscheidende Tor schieße.

Als ich jünger war, habe ich viel zu oft den Fehler gemacht, Vergleiche aufzustellen. Ich verglich mich mit meinem besten Freund, der am selben Ort geboren wurde, an dem er aufwuchs. Mit meiner Klassenkameradin, die jede Woche zwischen ihren getrennten Elternteilen pendelte. Mit allem was anders war, habe ich mich verglichen, und das mag gut gehen, wenn es um die Körpergröße oder Schulnoten oder so was geht, aber nicht bei Heimat. Heimat ist zu individuell, denke ich.

Je älter ich werde, desto weniger wichtig wird mir diese Definitionssache. Was die Menschen von mir denken, ist nicht weiter wichtig, so lange ich über mich selbst Bescheid weiß. Was die Definitionen besagen, zählt nur dann, wenn sie mir weiterhelfen.

Das Traurige ist, dass meine Mutter noch immer viel zu viel vergleicht. Die Definitionen, auf die ich pfeife, bestimmen für sie das ganze Leben. Sie sieht Familien auf dem Spielplatz, Pärchen im Kino und schöne Gärten mit Schaukeln, und dann macht sie sich Vorwürfe, weil wir es ihrer Meinung nach schlechter haben. Ich glaube, sie denkt immer noch, ich wäre irgendwie benachteiligt, weil meine Heimat in mehrere Länder verteilt ist, oder weil wir zuhause nur zu zweit sind. Sie sieht in meinem Leben Lücken, die mir niemals aufgefallen wären. Dass ich mich niemals beschwert habe, halten manche Leute für Bescheidenheit, aber das ist es nicht. Bescheidenheit ist, wenn man weiß, dass einem etwas fehlt, und wenn man sich trotzdem nicht beschwert. Aber mir fehlt nichts. Ich glaube, das ist das Schöne an Heimat. Sie braucht kein Geld, keine komplette Familie, keine intakte Umwelt, und vielleicht nicht mal ein Dach über dem Kopf. Heimat lässt sich überall einrichten, selbst am dunkelsten Ort der Welt kann man sich heimisch fühlen. Heimat beginnt mit einem Lächeln und einem Freund, und sie hört erst dann auf, wenn wir es entscheiden.

Ich habe keine Ahnung, wie oft ich in dieser weiten Welt noch meine Heimat finden werde. Ganz schön oft, hoffe ich.

Ich lebe Tag für Tag, wache morgens auf und gehe zur Schule. Spiele Fußball und Skat mit meinen Freunden und fahre mit dem Bus nach Hause.

Und Heimat war nie etwas anderes für mich.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.