Unsere weite, weite Wüste

Kategorien Kurzgeschichten

Alles was ich habe, ist Sand, in feinen, hellen Körnern hinter Glas

und die Vorstellung, im Sturm zu stehen, in unserer weiten, weiten Wüste

 

„Glaubst du, das hier wird dir weiterhelfen?“ Sie zeigen auf die Sanduhr, die er fest umklammert, so fest, dass das blank polierte Glas kaum zwischen den rissigen , blassen Fingern zu sehen ist. Aber dass er sie bei sich hat, reicht ihm, János, 18 Jahre alt, auf dem Weg in seinen ersten Krieg. „Vielleicht“, schreit er gegen das Getöse der Flugzeugtriebwerke an, aber die Kameraden hören nicht mehr, sie steigen bereits die Treppe zum Passagierraum empor. Keiner von ihnen sieht zurück.

Nur Samal, János´ bisheriger Schulkamerad, kauert neben ihm. Ab jetzt sollen sie Seite an Seite kämpfen. Samal weint, es ist das erste Mal und János streicht ihm hilflos über den Rücken, die Sanduhr fest in der anderen Hand. „Hab keine Angst, wir werden hierher zurückkehren.“ Er wiederholt den Satz immer wieder, während sie sich aufrichtig und ebenfalls die wacklige Treppe besteigen, wir werden hierher zurückkehren, bis ihm jemand die Hand auf die Schulter legt. Es ist Yunus, der Militärarzt seit 50 Jahren, der auf nahezu wundersame Weise jeden Einsatz ohne Verletzung überlebt hat. Seine von Falten und Runzeln umringten, kastanienbraunen Augen treffen direkt in die von János als er sagt: „Wenn wir erst in den Wolken sind, mein Junge, wird es uns schon überkommen. Dieses unauslöschliche sofortige Verlangen nach Heimat.“ Und er tippt ihm noch einmal auf die Schulter, bedeutet ihm mit einem freundlichen Lächeln, weiterzugehen.

János vermisst dieses wohlige Gefühl von Heimat sofort. Mit seiner Bemerkung hat Yunus ihn aufgewühlt. Unter dem Dröhnen der startenden Maschine, der immer höheren Beschleunigung, denkt er an früher, an den kleinen, klapprigen Küchentisch, an dem er mit seinen fünf Geschwistern versammelt war, alle Blicke und Aufmerksamkeit an die Mutter, die ihnen deutsche Literatur vorlas. János´´Mutter liebte Literatur, und sie war sich sicher, dass die Bildung, die sie mit all den zauberhaften Worten ihren Kindern gab, eines Tages dafür sorgen würde, dass der Friede in ihrem Land so Einzug hielt, wie es in dem beschaulichen Dorf bereits der Fall war. Jetzt ist János auf dem Weg in den Krieg, und hört die sanfte Stimme seiner Mutter durch das Dröhnen: „Ich drücke mein Gesicht an seine dunkle, warme Rinde und spüre Heimat – und bin so unsäglich dankbar in diesem Moment.“ Sophie Scholl, die s mutig und selbstlos dafür gekämpft hatte, ihr Land, ihre Heimat von den Grauen des Nationalsozialismus zu befreien. János will das auch – mit all seinen Kräften dafür kämpfen, dass die Terrormiliz nie wieder Schrecken im Süden des Landes auslösen kann, dass seine friedliche Heimat verschont bleiben und der Friede so näher kommen wird. Doch die Erinnerung an die Abende in der Küche, Sophie Scholls bunte, ehrliche Gedanken und das tiefe Blau im Flugzeugfenster machen sein Herz schwer. Yunus hatte recht, denkt er, und während er verzweifelt die Sanduhr drückt, fragt er sich, wie jemand seine Heimat nur freiwillig verlassen kann.

„Wenn wir dort ankommen.“ haben sie János im Zuge der Vorbereitungen für Unwissende gesagt, „brauchst du nicht erwarten, auf irgendwelche Einwohner zu treffen. Die sind entweder schon tot oder geflüchtet.“ Und János begann, jede Nacht von einer Geisterstadt zu träumen, in der er ganz alleine gefangen ist.

Neben ihm auf dem staubigen Flugzeugsitz hat sich Samal langsam beruhigt. Er schläft, atmet in ruhigen Zügen, als würde ihn dort unten nicht die Hölle erwarten. János weiß es. Er sieht den sorgenvollen Blick des Militärarztes, der nicht die von der Sonne angeleuchtete Wolkenwelt erfassen kann, sondern nur seinen großen Verbandskoffer. „Ich kämpfe für meine Heimat.“ flüstert János und niemand hört es, außer er selbst. Er sieht die kleinen Brüder in der Küche sitzen, mit zum Gebet gefaltenen Händen, den liebevollen Blick der Mutter, mit der sie zum Bild des im Krieg gefallenen Vaters sieht, er sieht all die Straßen und Häuser seines Dorfes, ihre Anordnung kann er im Halbschlaf mit dem Fingre aufmalen, so sehr hat er sie verinnerlicht.

Und er sieht sie.

Sie steht vor ihm, mit einer einzigen Träne im rechten Augenwinkel, aber sie strahlt wie an allen Tagen zuvor. Du schaffst das.“ hat sie gesagt, „schon alleine, weil ich immer bei dir bin. Und sie hat ihm die Sanduhr gegeben, mit den Worten: „Damit du sie immer mit dir tragen kannst, unsere eigene kleine Wüste.“

János macht ein Auge zu und sieht durch das Glas in den Sand. Er sieht sich wieder dort stehen, in der Wüste, die gleich hinter seinem Heimatdorf beginnt, zusammen waren sie oft dort, haben den Sand mit ihren bloßen Füßen aufgewirbelt und sich vorgestellt, im Sturm zu stehen.

In Gedanken können sie sich jederzeit in dieser Wüste wiedersehen, ihrer Heimat. János lächelt. Vielleicht lächelt sie gerade auch. Das ist er- mit seinen Erfahrungen, seinen Erlebnissen, Menshcen die er kennt, Ängste, die er verflucht.

Er hat gerade seinen Herkunftsort verlassen, aber nicht seine Heimat. Denn wie es Abram Terz einst formulierte: „Heimat ist kein geographischer Begriff. Man trägt sie in sich selbst.“

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.