Li̱e̱·be Substantiv [die], starkes Gefühl der Anziehung zu jemandem, den man schätzt, dabei ist es egal ob diese Gefühle erwidert werden

Das Haus besaß an sich nichts Einladendes. Im Garten wuchsen bunte Blumen, die von Zitronenfaltern umkreist wurden, aber es hing kein Schild an der Türe, das zum Eintreten einlud. Die Menschen auf der Straße sahen zu dem Haus, einige blieben kurz stehen um die Blumen zu bewundern, aber alle liefen schließlich vorbei, weiter auf der Suche nach dem Ziel.

Auch ich blieb einen Moment an dem hölzernen Gartentor stehen, hing fest in meiner Betrachtung. Die Haustüre aus mattgrünem Holz, einen kleinen Spalt geöffnet, jedoch ohne dass man hätte hineinsehen können. Die kleinen Fenster waren mit schweren, hellen Vorhängen bestückt, als würde sich dahinter ein kostbarer Schatz verbergen. Mein Blick wanderte die himmelblaue Fassade entlang bis hin zum grauen Schieferdach. Wieso wollte niemand eintreten? Wieso liefen die Menschen immer noch unaufhörlich vorbei, den Blick stur geradeaus gerichtet?

Ehe ich weiter nachdenken konnte, hatte meine Hand schon die Klinke gedrückt, die zum Gartentor gehörte. Während ich zur Haustüre lief, drehte ich mich mehrmals um, immer im Glauben die Menschen würden mich beobachten und sich wundern, wieso ich das Haus betrat. Aber keiner von ihnen sah mich an.

Also schob ich die Haustüre auf, zögerlich, heimlich. Im Inneren umfing mich Stille. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die finsteren Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ich stand in einem langen Korridor. Kühle legte sich auf die nackte Haut meiner Oberarme, während ich mich umsah. An den Wänden überall Gemälde und vergoldete Rähmen, nicht zu viel, wie ein perfekt vollendetes Kunstwerk. Mit einem Mal nahm ich am Ende des Ganges eine Gestalt war. Groß, schlank und aufrecht löste sie sich aus der Dunkelheit und wandelte in die Mitte des Korridors, wo es etwas weniger schummrig war. Zuerst dachte ich, die Person hätte mich entdeckt und wollte mich begrüßen, doch sie blieb vor mir stehen und verlor sich in der Betrachtung in einem der größeren Wandgemälden. So verstrich eine ganze Weile, ohne dass ich die Spanne in Minuten angeben hätte können.

Ich beschloss, mich bemerkbar zu machen. „Hallo.“ Meine Stimme klang verloren, fast verschwendet. „Hallo. Hallo.“ Schließlich drehte er sich um. „Was möchtest du?“ Seine Stimme war tief, und im diffusen Licht erkannte ich ein männliches, doch weiches Gesicht, dessen Mittelpunkt die großen blauen Augen waren. Er wirkte unnatürlich schön. „Ich weiß nicht.“ Wirklich, wirklich unbegreiflich schön. „Bleibe ruhig, solange du mich nicht störst.“

Ich nickte, und er wandte sich erneut dem Gemälde zu. Ich konnte nicht erkennen, was darauf zu sehen war. Die einzige Kunst, die ich in diesem kühlen, dunklen Korridor voll Prunk erkennen konnte, war er. Plötzlich war er nicht länger im Dunkeln, jede Faser an ihm schien mir zu leuchten. Ich sah die vollen Lippen an, die Augen und die Haare, die blond und seltsam aufgewirbelt waren. Die ebenmäßigen Hände, mit denen er behutsam über das Gemälde strich.

Ich war verloren. Und noch nie so bei mir selbst, wie jetzt.

Irgendwann riss ich mich heftig los, es war wie ein körperlicher Schmerz. Ich lief in die nächstbeste Türe, die vom Korridor abging, und fand mich in einem großen, lichten Zimmer mit strahlend weißen Wänden wieder. Woher kam das Tageslicht, wenn es im ganzen Raum kein Fenster gab. Oder viel mehr: wozu brauchten Menschen Fenster in den Häusern, wenn es auch ohne hell genug war?

Ich ging in dem weißen Zimmer umher, bis ich in einer Ecke angelangt war, in der ein großer schwarzer Flügel stand, als einzig dunkler Fleck im Hell. Er war die ganze Zeit über dort gestanden, ohne dass ich ihn gesehen hatte. Behutsam schob ich den Deckel nach oben und ließ meine Finger über die Tasten gleiten. Ich spielte ein eingängiges Stück, das mich viele Stunden meiner Kindheit gekostet hatte. Die Töne erfüllten das Zimmer voll und kräftig, und es war, als fänden all die Stunden die ich als kleines Mädchen am Klavier verbracht hatte, in diesem Moment ihre Erfüllung. Als würde seine tiefe Stimme in den Noten mitschwingen, als sänge er die Melodie, die keinen Text hatte, als wäre sie nur für ihn komponiert. Eine Stimme in mir versuchte mich davon zu überzeugen dass es Einbildung war, erzählte mir von einem alten italienischen Pianisten, der eines frühen Morgens, als sich der Staub im Sonnenlicht brach, diese Melodie im Kopf hatte. Ich glaubte ihr kein Wort.

Wieder hatte ich von einer Sekunde auf die andere das dringende Bedürfnis, mich loszureißen. Ich wollte was anderes sehen. Ich verließ den hellen Raum, zurück in den dunklen Korridor, in eine andere Türe ohne ihn anzusehen. Dieses Mal gelangte ich in eine Art Kammer, die im Grunde genommen nur aus drei Wänden und einem Fenster bestand. Mit einem Anflug von Sehnsucht schob ich den Vorhang aus weißen Mullstoff beiseite und spähte hinaus. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung war die Straße viel weiter unten als es bei einem Fenster im Erdgeschoss der Fall wäre. Ich war keine Treppen gelaufen, wie konnte es sein dass ich mich mehrere Meter über der Straße befand?

Gerade war ich sie noch entlang gegangen. Noch immer zogen Menschen vorbei, einige blieben stehen wie ich zuvor. Unter den Bewunderern stand ein Junge mit dunklen, dichten Haaren und suchenden Augen. Als er mich am Fenster entdeckte, hob er die Hände und ich sah den Strauß Chrysanthemen, den er trug. Ich wünschte, ich könnte ihren Duft durch die Wände riechen. Der Junge sah mich abwartend an. Kommst du? Fragte sein Blick. Ich wollte. Ich war es satt, durch dieses Haus zu irren, ich wollte zu dem Jungen auf der Straße und weiter mein Ziel zu suchen, mit ihm zusammen, in der Hoffnung dass er etwas gesprächiger war als der Junge im Korridor.

Als ich den Raum verließ, stand er noch immer regungslos vor dem Gemälde, ein Kunstwerk seines Universums. Schönheit, Distanz, Unbeschreiblichkeit, die ich nicht ertragen wollte. Da er ohnehin nicht mit mir sprechen und sich daher wohl auch nicht verabschieden wollte, ging ich zur Haustüre und drückte die Klinke. Nichts geschah. „Wieso geht die Türe nicht auf?“ Ich musste zurück. Da draußen warteten ein Jemand, ein Strauß Chrysanthemen und das Leben auf mich, das ich vor Minuten erst verlassen hatte. Ich musste doch zurück.

„Die Tür ist offen.“ sagte er, ohne den Blick von dem Gemälde zu lösen. „Wenn du gehen möchtest.“ Ich versuchte es wieder und wieder. „Aber ich möchte doch gehen.“ „Das sehe ich.“ sagte er. In seiner schönen, schönen Stimme lag ein Hauch von Spott.

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.