Nacht | Konstanzer Konzil

Kategorien Kurzgeschichten

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Manche Menschen sagen, wenn man nachts nicht schlafen kann, liegt das daran, dass man in den Träumen eines anderen gerade wach ist. Sollte das die Wahrheit sein, müssten von mir ganz schön viele Menschen träumen, und das jede Nacht.

Seit ich denken kann, liege ich nachts hellwach in meinem Bett und warte darauf, müde zu werden. Meistens brauche ich Stunden dafür. Es ärgert mich, so viel Zeit damit zu verbringen, nur an meine Decke mit den vierzehn Leuchtsternen zu starren, wenn ich doch eigentlich so viel Besseres zu tun hätte. Die Nacht war für mich immer schon etwas Besonderes, etwas Magisches, aber den Grund dafür habe ich erst jetzt gefunden, in der Nacht, in der ich Lucas Sommer kennenlernte.

In der Nacht, in der ich Lucas Sommer kennenlernte, lag ich wie immer wach im Bett und wartete darauf, dass die Wachliegerei ein Ende hatte. Stattdessen hörte ich plötzlich ein Geräusch, dass mir sehr bekannt vorkam. Es war das Quietschen der Schaukel, die mein Vater vor Jahren an dem großen Kastanienbaum in unserem Garten befestigt hatte. Ich drückte die Leuchttaste meines Weckers. Es war drei Uhr.

Vielleicht hätte ich Angst haben müssen, vor einem Geist, der durch unseren Garten spukte, oder einem Schaukeldieb, aber irgendwie erschien mir jede Befürchtung sinnlos, und so stand ich auf und lief zu meinem Fenster. Der Himmel war so bewölkt, dass das Mondlicht keine Chance hatte, durchzudringen, aber es war sowieso Neumond. Wenn man die Nacht kannte, begann man, mehr nach dem Mondzyklus zu leben als nach Monaten, Schulsemestern und Jahreszeiten.

Trotz der Dunkelheit erkannte ich, dass das Schaukelseil gespannt war, und sachte hin und her schwang. Und das auf der Schaukel jemand saß, das sah ich auch.

Schnell wandte ich mich vom Fenster ab und fasste einen Plan: wer auch immer dieser schlaflose Schaukler war, ich würde ihn zur Rede stellen. Was fiel ihm ein, mitten in der Nacht in unserem Garten zu quietschen? Es gab in diesem Haus schließlich auch Leute, die schlafen wollten. Naja- und dann gab es noch mich.

Ich schlich mich leise durch das Treppenhaus, umging gekonnt die morschen Bodendielen und erreichte die Haustüre.

Ich weiß nicht mehr wann genau ich die Angst vor Dunkelheit verloren hatte, doch es musste Jahre her sein. Das Erste was ich sah, als ich die Türe öffnete, war, dass unser Gartentor nicht ordnungsgemäß geschlossen war. Dann wanderte mein Blick zu unserer Schaukel, und ich entdeckte darauf eine große, hagere Gestalt, die noch immer hin und her schwang. Hin, her, geräuschelos, hin, her.„He hallo!“ rief ich. „Was machst du denn da?“ Fast eben so still sprang die Person ab und kam auf mich zu. „Hallo.“ Jetzt erkannte ich, dass es ein Junge war, der dichtes, dunkles Haar hatte nur nur mit einem T-shirt und einer Jeans bekleidet war. Seine Augen waren dunkel, aber es blitzte hell in ihnen.„Was machst du da?“wiederholte ich meine Frage. „Ich schaukele.“ erwiderte er. „Und du?“ „Du schaukelst in meinem Garten.“ informierte ich ihn, und fügte etwas spöttisch hinzu: „Hundert Meter weiter gibt es einen Spielplatz.“ „Das weiß ich. Aber auf dem Weg dahin habe ich eure Schaukel gesehen, und da habe ich es einfach nicht mehr länger ausgehalten.“

Ich musterte den Jungen eindringlich, oder zumindest so eindringlich, wie es die Dunkelheit zuließ. Wenn ich mich nicht irrte, war er ungefähr so alt wie ich, vielleicht ein bisschen älter. „Und wieso schaukelst du überhaupt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das macht man doch so als Kind.“ „Wie alt bist du?“ „17 Jahre und 21 Tage. Aber heute Nacht mache ich alles, was Kinder auch machen.“ Ich gab mir wirklich große Mühe, ihn zu verstehen. Aber um ehrlich zu sein: es gelang mir eher nicht. „Wieso machst du das? Und wieso schläfst du nachts nicht?“ „Du doch auch nicht.“ Er überging meine erste Frage einfach. „Stimmt.“ Und ich war noch immer kein bisschen müde. „Und was hast du jetzt vor?“ fragte ich. „Wenn du heute Nacht ein Kind bist?“ Er zuckte wieder mit den Schultern. „Weiß nicht. Was machen Kinder noch?“ „Sandburgen bauen.“ schug ich vor. „Aber einen Sandkasten haben wir nicht.“ „Dann lass uns doch noch auf den Spielplatz gehen. Du kommst doch mit, oder?“

Wieso ich mitten in der Nacht mit einem Jungen, von dem ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal den Namen kannte, auf den Spielplatz gehen sollte, um eine Sandburg zu bauen? Es gab tausend Gründe, nein zu sagen, und ich nickte mit dem Kopf. „Gehen wir.“

Auf dem Weg zum Spielplatz erfuhr ich, dass er im selben Viertel wohnte. Ich fragte erst mich und dann ihn, wie es sein konnte, dass ich ihn noch nie zuvor getroffen hatte. „Ach wirklich?“ erwiderte er nur. „Dann warst du wohl zur falschen Zeit unterwegs.“ Er begann, mir komisch vorzukommen, aber das Tor des Spielplatzes war schon in Sicht, und eigentlich war alles besser, als wieder schlaflos im Bett zu liegen. Leider wurde es nichts mit unserer Sandburg. Der Sand war viel zu kühl und weich, und langsam begann ich selbst zu frieren in meinem dünnen Nachthemd. „Mist, was machen wir denn jetzt?“ fragte ich. Innerlich hoffte ich, dass er sagen würde: „wir gehen endlich nach Hause ins Bett“, aber stattdessen bestimmte er, dass wir auf das kleine Holzhäuschen kletterten, das auf etwa ein Meter hohen Stelzen stand und nur durch eine Leiter erreicht und durch eine Rutsche wieder verlassen werden konnte. So langsam kam mir der Verdacht, dass er nicht nur Dinge tun wollte, die Kinder auch taten, sondern auch deren Bestimmerton übernommen hatte.

Zu zweit saßen wir in dem kleinen Holzhäuschen und ich versuchte, die Körperwärme die er ausstrahlte, irgendwie auf mich zu übertragen. Mir war wirklich kalt. „Übrigens heiße ich Lucas Sommer.“ sagte er irgendwann unvermittelt. „Ich denke es ist immer besser, wenn man sich mit Namen kennt.“ „Sehe ich auch so. Ich bin Marla.“ Kurz herrschte Schweigen, dann begann ich: „Willst du mir jetzt vielleicht noch erzählen, wieso du heute Nacht Kind bist, anstatt im Bett zu liegen und zu schlafen?“Er lachte leise auf. „Das willst du wohl unbedingt wissen, was?“ „Natürlich.“ gab ich zurück. „Das ist nämlich nicht gerade das Gewöhnlichste, weißt du.“ „Stimmt.“ sagte er gedehnt. „Weil es nämlich verkehrt ist.“
Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. „Du verstehst es nicht oder?“ „Definitiv nicht.“ seufzte ich.

„Also hör zu. Mein Leben ist ein einziges verkehrtes Etwas, und ich habe so lange gebraucht, um heraus zu finden,wie ich es wieder richtig machen kann.“ Seine Stimme zitterte, als er das sagte, und ich sah ihn an und begriff, dass seine ganze Selbstsicherheit aus ihm gewichen war. „Wieso ist dein Leben verkehrt?“ „Ich bin krank. Ich bin schon so lange krank, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es sich anfühlen muss, es nicht zu sein. Aber jetzt geht es zu Ende mit mir.“„Woher weißt du das?“ „Die Ärzte haben es mir gesagt. Vor einem Monat. Da habe ich beschlossen, dass ich mein Leben anders leben will als andere. Weil ich es auch anders beenden werde als sie.“ Er schluckte. „Weißt du, das gibt mir ein kleines Stückchen Macht zurück. Und das brauche ich. Denn ich werde nicht sterben, wenn ich alt bin, und Dinge erlebt habe, von denen ich meinen Enkeln mit einem Lächeln erzählen kann.“ Mir fiel nichts ein, was ich erwidern hätte können. Wenn man so etwas hörte, fiel einem oft nichts Besseres ein, als eine Frage zu stellen. „Und was heißt das, dass du dein Leben anders leben willst?“ Vielleicht war es besser, nach vorne zu sehen, nur ein Stückchen, nicht zu weit. Vielleicht galt das für alles im Leben. Jetzt sah ich wieder das Funkeln in seinen Augen, und seine Stimme klang fester. „Ich stehe auf, wenn alle schlafen gehen. Tagsüber schlafe ich, weil das laut den Ärzten sowieso am besten ist. Aber abends, wenn sie denken, ich bin vom tagsüber-dösen in den Tiefschlaf übergegangen, schleiche ich mich aus dem Haus. Dann frühstücke ich. Du glaubst ja gar nicht, wie erstaunt die Leute aussehen, wenn du um sieben Uhr abends das Frühstücksmenü im Restaurant wählst.“ „Und um Mitternacht gibt es Mittagessen?“ schlussfolgerte ich. Er nickte. „Und am Morgen Abendessen. Und dann schlafe ich wieder. Es ist eigentlich so einfach.“ „Und was genau hat das jetzt damit zu tun, dass du ein Kind bist?“

„Naja,“ er fuhr mit seinem Finger die Holzdielen entlang. „Ich kann so viele Dinge nicht in der selben Zeitspanne erleben wie ihr. Deswegen versuche ich, alles so schnell wie möglich zu tun. Jede Nacht etwas anderes.“„Und das schaffst du?“ Immer hörte man von Menschen, die nach einer schlimmen Diagnose die Kraft dazu fanden, ihr Leben in die Hand zu nehmen, die Dinge machten wie ein Fallschirmsprung oder sowas, und ich konnte das nie glauben. Wäre ich an Lucas´ Stelle, ich würde mich in mein Bett legen und auf den Tod warten, genau so wie ich es Nacht für Nacht mit dem Schlafen tat. „Das ist wie in diesem Buch.“ sagte ich. „Bevor ich sterbe von Jenny Downham.“ „Bevor ich sterbe? Kenn ich nicht.“ antwortete er und grinste schief. „Meine Mutter wollte auch immer, dass ich mehr lese, aber irgendwie hat mich das nie gereizt.“ „Du weißt ja gar nichts, was du verpasst.“ stöhnte ich. „Doch.“ sagte er. „Weiß ich.“ Ich biss mir auf die Lippen. Verdammt, falsche Antwort.

Ich atmete tief durch und wartete darauf, dass ich irgendetwas sagte, aber nichts kam über meine Lippen, und so schwiegen wir wieder, bis meinem Hirn endlich etwas einfiel, was nicht total dumm klang. „Tut mir Leid, wirklich. Ich habe noch nicht so oft mit Todkranken geredet.“ „Kein Problem.“ sagte er nur. „Kinder sagen doch immer, was sie denken oder?“ „Auch wieder wahr.“ „Also: was denkst du?“ Diesmal dachte ich nicht nach. „Ehrlich gesagt: mir ist kalt. Und Hunger habe ich auch.“ „Dann lass uns Abendessen gehen.“ schlug er vor. „Es wird sowieso bald hell.“

Es gefiel mir, wie er dieses Verkehrte völlig selbstverständlich sagte, so wie jeder andere auch, nur umgekehrt. Es gefiel mir , wie er mir indirekt klar machte, dass man sich allem widersetzen konnte, und wenn es der uralte Rhythmus der Sonne und des Mondes war.

„Wo essen Kinder gern?“ fragte ich, nachdem wir das Stelzenhaus durch die eiskalte Metallrutsche verlassen hatten.Lucas grinste. „Also ich war immer für MC Donalds. Du etwa nicht?“ „Doch klar.“ Mir graute vor dem langen Weg dorthin, und minimal auch von einem Auftritt mit Nachthemd im Fast-Food-Restaurant, aber er würde wohl kaum akzeptieren, dass ich mich vorher noch mal kurz umziehen ging.

Zum Glück blieben wir die ganze Zeit über ungesichtet. Am Himmel wurde es schon langsam hell, als wir den MC Donalds erreichten, aber ihr könnt mir trotzdem glauben, dass ein Fast-Food-Restaurant in den frühen Morgenstunden bestimmt einer der deprimierensten Orte der Welt ist. Es roch nach kaltem Fett, starkem Kaffee und Müdigkeit. Die Mitarbeiter hatten tiefe Schatten unter den Augen und auf dem Tisch, den Lucas für uns auswählte, klebte es. Wir liefen zur Theke, bestellten uns zwei Happy Meals und wählten das allerkindischste Spielzeug, dass wir finden konnten. Es war eine kleine Stofffigur, ein ausgesprochen hässlicher Hund, der Wau-Wau machte, wenn man ihn an den Ohren zog. Die Kassiererin zog die Augenbrauen hoch.

Wir waren nicht einmal die einzigen Gäste. Am Tisch neben uns saß ein etwa achtzehnjähriges Mädchen, dessen Kajal und Wimperntusche völlig verschmiert war. Drei Piercings blitzen auf, als sie ihr Gesicht senkte und in den Pommes stocherte, ohne wirklich etwas davon zu essen. Ich sah zwei Tränen auf die rote Pappe tropfen.

Ich rückte etwas näher zu Lucas. „Siehst du die?“„Du brauchst nicht flüstern.“ erwiderte er nur. „Du bist ein Kind. Kinder dürfen so etwas auch laut rausschreien.“ Ich warf dem Mädchen einen kurzen Blick zu. „Aber ich will sie nicht verletzen.“ „Kinder sind nicht der Meinung, dass sie einen Menschen verletzen, nur weil sie laut über ihn reden. Es kommt ja auch immer noch darauf an, was man sagt.“ Ich starrte ihn an. Wieso hatte er immer recht? Woher nahm er diese Sicherheit, diese Weisheit und die Gelassenheit? „Siehst du die?“ wiederholte ich laut. „Ich glaube, ihr geht es gar nicht gut. Sieh mal, sie weint sogar. Ist es nicht scheiße ungerecht, dass wir in solche Situationen kommen, dass wir morgens um fünf alleine in einem Fast-Food-Restaurant sitzen, und nicht mehr weiter wissen? Wieso passiert uns so etwas?“Das Mädchen starrte mich an. Die müden Mitarbeiter starrten mich an. Die Tische, die Stühle und die Theke starrten mich an. Lucas lächelte, lehnte sich zurück und sagte, jedes Wort auskostend: „Das Leben ist scheiße ungerecht.“

Es war verrückt, jahrelang konnte ich immer problemlos wach liegen, und jetzt, wo die Nacht einen Sinn ergab, fielen mir schon die Augen zu, als ich noch im Garten auf der Schaukel saß, und mir die Sonne ins Gesicht schien. Lucas und ich hatten uns nach dem Abendessen verabschiedet, und er hatte mich gefragt, ob ich die nächste Nacht auch mit ihm verbringen wollte. „Ich meine wir können uns auch nur ein paar Stunden treffen.“ hatte er gemeint. „Die anderen Leute haben ja auch keine Dates, die den ganzen Tag lang dauern. Aber irgendwie ist es nachts alleine auch langweilig.“

„Du weißt schon, dass ich deinen Rhythmus noch nicht gewöhnt bin, oder?“ hatte ich erwidert. „Weiß ich. Aber du hast Sommerferien. Du kannst den ganzen Tag schlafen.“ Also hatte ich zugesagt, und in der Tat den ganzen Tag gedöst, im Bett, in der Hängematte, auf der Schaukel. Zum ersten Mal war ich froh, dass meine Eltern berufstätig waren, und ich den ganzen Tag alleine war.

Unsere zweite Nacht begann um sieben Uhr. Dieses Mal hatte ich auf mein Nachthemd verzichtet und trug wie er Alltagsklamotten. „Guten Abend.“ sagte er, als er mich abholte. „Lass uns frühstücken gehen.“ Die Cafés in der Stadt waren noch gut besucht, aber keiner außer uns bestellte sich um diese Zeit ein Buttercroissant mit Orangensaft. Ich holte mir zusätzlich noch einen Milchkaffee, weswegen mich Lucas strafend ansah. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Kann ja nicht jeder sofort nachtaktiv sein.“
Er lachte leise. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht für die Nacht geboren bist.“

Die Kellnerin musterte uns die ganze Zeit über, und als sie dachte wir bemerkten es nicht, schob sie die Angebotstafel mit dem Abendmenü etwas näher in unsere Richtung.

Es ist verrückt, wie man die Menschen durcheinanderbringen kann, indem man ihren gewohnten Rhythmus durchbricht. Morgens Croissant, mittags Nudeln, abends Brot. Als wäre es irgendwie festgelegt, was uns zu der und der Uhrzeit schmeckt, und was nicht.

„Was machen wir heute Nacht?“ fragte ich Lucas. „Überleg mal. Gestern waren wir Kinder. Was sind wir dann heute?“ „Äh..Jugendliche?“ Genau. Und was machen Jugendliche?“„Zur Schule gehen“ seufzte ich. „Wenn nicht gerade Ferien sind.“„Dann lass uns zur Schule gehen.“ „Wir haben Ferien, schon vergessen.“ „Ja und? Reißt man die Schule in den Ferien ab?“ Er sah mich so provozierend an, dass ich den Kopf schütteln musste. „Na also. Zeig mir deine Schule, dann stehen wir wenigstens auf dem Schulhof, wie Schüler das so machen.“ Eigentlich war die Schule der letzte Ort, den ich in den Ferien sehen wollte, aber gut, wenn er unbedingt wollte.

Ich trottete emotionslos meinen Schulweg entlang, während sich Lucas interessiert umsah und jeden Pflasterstein unter die Lupe nahm. „He Lucas“ Ich stupste ihn an. „Du bist Schüler. Schüler sind nicht so motiviert auf dem Schulweg.“ „Sorry. Das letzte Mal das ich in der Schule war, ist vier Jahre her. Und übrigens, als Jugendlicher sagt man nicht mehr alles, was man denkt. Also sag jetzt bloß nicht, dass es dir leid tut, und dass ich vermutlich glücklich wäre, wenn ich zur Schule gehen könnte.“ „Wäre ja gar nicht drauf gekommen.“„Wärst du. Mit der Zeit weiß man sowas. Ist das da vorne deine Schule?“Obwohl unsere Schule so ziemlich das Hässlichste war, was man sich vorstellen konnte- grauer Betonklotz mit dunkelbraunen Fensterrähmen und aufgesprungenem Schulhofbelag- sah er sich alles ganz fasziniert an und stellte sinnlose Fragen wie: „Wo ist euer Lieblingsplatz in der Pause?“ und : „Und da kauft ihr euch immer euer Pausenbrot?“, als er den Bäckerstand entdeckt hatte. Zu schade nur, dass die Mensa heute nicht offen hatte.Meiner Meinung nach war der Geschmack nach Tupperbox und der eine oder andere Wurm im Salat ziemlich prägend für ein Schülerleben. Für unser Mittagessen mussten wir uns also etwas anderes überlegen. Auf Fast-Food hatten wir nicht schon wieder Lust, also entschieden wir uns für ein ganz normales Restaurant mit ganz normalen Nudeln.

„Also Schule aus.“ sagte ich. „Was machen wir jetzt?“ „Feiern gehen?“ In seinen Augen blitzte es unternehmungslustig. „Das könnten Jugendliche doch 24 Stunden am Tag tun.“ Mir kam ein Gedanke. „Du siehst so überhaupt nicht krank aus. Kannst du denn alles machen was du willst?“„Dank den zehnhundertmillionen Medikamenten, die ich tagsüber so bekomme ja.“ Er verzog das Gesicht. „Aber Alkohol ist leider tabu.“ „Oh, dann steht Zeche prellen also nicht auf deiner Bucket-Liste?“ „Nope.“ „Auch gut. Ich kenne da einen ziemlich guten Club.“

Lichter. Nächte voller Lichter, Farben, ,und Gesichter,

Lieder, Stunden voller Lieder, und wir singen wieder

Tänze, Minuten voller Tänze, Sternen, siehst du wie ich glänze

Leben, Momente voller Leben, hassen und vergeben

Und noch bist du da

Alle Nächte meines Lebens wollte ich mit Lucas Sommer verbringen. Weil sie auf einmal so viel Sinn machten. Abends trafen wir uns zum Frühstücken, mal in dem Café, und mal in dem, und dann planten wir, was wir machen sollten. Dabei hielten wir uns nicht mehr wirklich an die Sache mit dem Leben, also waren wir in der dritten Nacht keine Erwachsenen oder sowas. Stattdessen dachten wir nach, wie wir uns von der Hitze des Tages erholen könnten, und obwohl ich anfangs absolut dagegen war, schaffte es Lucas, mich zu einem Sprung in den öffentlichen Badesee zu überreden, der nur mit dem Nachtbus erreicht werden konnte.

„Spring.“ flüsterte Lucas. Lucas, der Junge bei dem jeder zweite Satz mit „Ist es nicht verrückt dass…“ begann, Lucas, der Junge mit der überdrehten Phantasie überredete Marla, das Mädchen mit der großen Klappe und dem ausgeprägten Sturkopf dazu, kopflos in unbekanntes Gewässer zu tauchen. Ich sprang und fühlte den Wasserdruck seines Sprunges direkt neben mir und unsere Körper bewegten sich im Gleichtakt zurück Richtung Wasseroberfläche. Auf halbem Weg nahm ich seine Hand. Ich hatte etwas gelernt, was ich nie vergessen wollte: im Leben steigen wir auf, wenn wir uns gegenseitig nach oben ziehen.

Es war das kälteste, sternenreichste und aufregenste Bad meines Lebens- und am nächsten Tag hatte ich die Erkältung meines Lebens. Wenigstens machten sich meine Eltern so keine Gedanken, wieso ich den ganzen Tag im Bett blieb, an diesem Tag hatten sie nämlich frei. Mein Dauerniesen erschwerte das Wegschleichen am Abend erheblich, aber ich schaffte es, keinen zu wecken.

In der vierten Nacht besuchten wir Lucas´ erstes Wohnhaus, das seine Familie verlassen hatte, als er gerade einmal drei Jahre alt war. Viel mehr als die Adresse hatte er sich nicht gemerkt, und weil das Haus so weit weg vom Zentrum war, nahmen wir wieder den Stadtbus.

Ich weiß nicht, wieso genau Lucas das brauchte, vor diesem hellgelben Einfamilienhaus mit dem gepflegten Vorgarten zu stehen, und es einfach nur anzustarren. In einigen Fenstern brannte gedämmtes Licht. „Ist es nicht verrückt,“ sagte Lucas, „Dass da jetzt Menschen genau so schlafen und essen und Fernseher schauen wie wir früher, ohne überhaupt zu wissen, wer wir sind? Sie wachen mit der gleichen Aussicht auf. Sie heizen den selben Kamin an. Vielleicht haben sie sogar noch den gleichen Klingelton wie wir damals. Das verbindet uns doch irgendwie.“ „Wir haben auch den gleichen Klingelton wie meine Freundin.“ „Du weißt genau was ich meine.“ Eine alte Frau lief mit ihrem Hund vorbei und betrachtete uns misstrauisch, und zwar so lange, bis sie um die nächste Ecke gebogen war. „Wieso sieht sie uns so an?“ fragte ich fassungslos. „Sie darf nachts um eins Gassi gehen, aber wir sind komisch, weil wir um diese Zeit ein Haus besichtigen?“„Lass sie doch.“ beschwichtigte mich Lucas. „Sie ist doch auch wie wir. Sie macht doch auch nachts, was andere tagsüber machen. Vielleicht war sie nur irritiert, weil ihr nicht klar war, dass es da auch noch andere gibt.“ „Na gut. Willst du noch länger bleiben?“ Er wandte sich zu seinem alten Haus und blieb in genau dieser Position, bestimmt drei Minuten lang. „Was ist wichtiger?“ sagte er dann. „Der Ort, wo man angefangen hat, oder der, an dem man aufhört?“ Ich musste nicht lange überlegen. „Da, wo man aufhört.“ Ich lächelte. „Weil man daran sieht, zu was man es die ganze Zeit über gebracht hat.“

Er wollte unbedingt auf den Friedhof. Es war die fünfte Nacht, und ich war irgendwie total dagegen. „Wir feiern in der Nacht das Leben!“ versuchte ich, ihn zu überzeugen. „Der Friedhof ist der Tod!“Lucas stocherte wütend in seinem Frühstücksei. „Wieso soll man auf dem Friedhof nicht das Leben feiern können? Der Tod gehört doch zum Leben!“ Dann schaute er mich mit seinen dunklen Augen so bittend an, dass ich wieder einmal verloren war. „Wie du meinst. Dann gehen wir halt.“
Ich hatte keine Verwandten auf diesem Friedhof. Meine verstorbenen Großeltern hatten weit weg von uns gewohnt und sonst kannte ich überhaupt keinen Toten. Dagegen bewegte sich Lucas fast mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die verschlungenen Kieswege. „Bist du öfter hier?“ fragte ich misstrauisch.„Nie.“ Er sah verlegen zur Seite. „Ehrlich gesagt habe ich mich nie alleine auf den Friedhof getraut.“ „Weil du zu viele Horrorfilme gesehen hast?“ „Weil es wirklich ziemlich psycho wäre, alleine auf den Friedhof zu gehen, wenn dort niemand liegt, den man kennt.“ Ich ließ meinen Blick über die Grabreihen wandern. Vereinzelt leuchteten rote Lichter auf. „Ich hätte nicht geglaubt, dass es mir so wenig Angst machen würde, das zu machen.“ „Das ist doch auch so etwas Verrücktes. Dass alle denken, nachts spukt es auf dem Friedhof. Die Leute sind tot, aber wenn sie wirklich Geister sind, dann ist es ihnen doch vollkommen egal, ob es Nacht ist oder Tag, oder? Wenn sie spuken wollen, dann machen sie es doch einfach.“ „Vielleicht mögen sie es aber nachts lieber, weil es da dunkel ist, und sie niemand sieht?“ „Das ist ein Argument.“ Trotzdem begegnete uns kein einziger Geist, und irgendwann setzten wir uns unter eine große Trauerweide und sahen durch die Zweige zu den Gräbern. „Da liegt man also.“ sagte er. „Ja.“ „Meine Mutter wollte, dass ich verbrannt werde.“ Ich sah ihn überrascht an, obwohl es eigentlich klar war, dass er irgendwann einmal mit seinen Eltern darüber geredet haben musste. Er sagte es aber, als hätte seine Mutter einen Zahnarzttermin für ihn gemacht. „Aber ich fand die Vorstellung irgendwie total scheiße, nur noch als Asche zu exisitieren.“ „Du existierst doch…“ Ich brach ab. „Ich meine, du bist noch da, so oder so, du brauchst deinen Körper nicht mehr.“Da begann er ganz plötzlich zu weinen, nicht so ein normales Weinen, viel heftiger. Es schüttelte ihn, und ich war so hilflos. Ich schlang meine Arme um seine Schultern und hielt ihn fest, so gut es ging. Ich sagte nichts. „Ich will doch nur nicht ganz weg sein.“ brachte er hervor. „Ich kann mir das nur nicht vorstellen.“ „Du wirst niemals ganz weg sein, hast du gehört?“ Ich drückte seine Hand. „Die Nacht wird immer deine sein. Wenn ich nachts wach liege dann bist du bei mir, und dann frühstücken wir zusammen, und unternehmen etwas. Selbst wenn du es wolltest, du könntest nie verschwinden.“
„Tu mir einen Gefallen, und komm mich nicht auf dem Friedhof besuchen.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Weil, weißt du, wenn ich wirklich ein Geist sein werde, und dich dann kommen sehe, dann werde ich wahnsinnig werden, weil ich unbedingt mit dir reden will.“ „Geht klar.“ flüsterte ich.

In dieser Nacht ließen wir das Abendessen aus. Wir saßen unter der Trauerweide, bis es morgen war. Wir sahen den Sonnenaufgang zusammen. „Zeit ins Bett zu gehen.“ sagte Lucas und rappelte sich auf. „Bis heute Abend.“ „Bis heute Abend Lieblingsgeist.“ Ich wusste, ich würde diesen Ort nie wieder sehen.

An diesem Abend kam Lucas nicht. Ich wartete und wartete, und nichts geschah. Irgendwann ging ich ins Bett, weil meine Eltern sonst garantiert Verdacht geschöpft hätten, und dann lag ich im Bett und wartete darauf, dass ein Stein gegen meine Fensterscheibe flog oder sowas, aber das einzige war, dass ich irgendwann – erkältet, enttäuscht und müde- einschlief.

Ich wachte erst auf, als es längst hell war, und bis ich realisiert hatte, dass heute ein anderer Tag war als sonst, brauchte ich Ewigkeiten.
Ich stellte fest, dass er mir fehlte. Er war mein Lieblingsgeist, mein Nachtkumpane, und die einzige Person, mit der ich in den letzten Tagen richtig geredet hatte. Und eigentlich auch die einzige Person, mit der ich in meinem Leben richtig geredet hatte. Dann kam mir der Gedanke, dass ich mich so schnell wie möglich daran gewöhnen musste, ohne ihn zu leben. Was, wenn ich etwas falsches gesagt hatte auf dem Friedhof? Wenn er seine Nächte in Zukunft lieber allein verbringen wollte? Oder hatte er jemand anderen gefunden? Die Frau mit dem Hund? Meine Gedanken rannten wild durch meinen Kopf. Ein Friedhof nach Mitternacht, ein Sprung in einen dunklen See, ein Fremder der nachts auf unserer Schaukel saß- all das machte mir keine Angst, aber der Gedanke, ohne diesen einen Menschen weiterzuleben brachte mich fast um.

Erst als Lucas gegen acht vor meinem Gartenzaun stand, beruhigte ich mich wieder. „Da bist du ja. Wo warst du denn gestern?“
„Tut mir Leid.“ murmelte er. „Lass uns frühstücken gehen.“
Er war auffallend blass und unruhig in dieser Nacht. Nach dem Frühstück fragte ich ihn, worauf er Lust hatte. „Ich würde gerne die Sache mit dem Lebenslauf noch fertig machen.“ erwiderte er. „Können wir heute Rentner sein?“ „Klar.“ sagte ich, und verkniff es mir, anzumerken, dass wir das Erwachsenenalter übersprungen hatten. Er wollte Rentner sein, also waren wir Rentner. Er brauchte diese Macht. „Und was machen wir als Rentner?“
„Wir sitzen in den Park auf eine Bank. Ich habe Brot zum Enten füttern dabei.“

Leider schienen die Enten unsere Nachtaktivität nicht zu schätzen. Keine einzige ließ sich blicken, als wir auf der Bank saßen. Also aßen wir das Brot selbst.

„Ist alles gut bei dir?“ fragte ich ihn. „Ich bin ein bisschen müde.“ Ich schwieg. Er schwieg. Gerade begann ich mich zu fürchten, uns wären die Worte ausgegangen, da legte er den Kopf in den Nacken und sah nach oben. „Sieh dir den Himmel an.“ Ich tat ihm nach und staunte. Selten gab es einen so hellen Sternenhimmel wie in dieser Nacht. Die Milchstraße verlief direkt über uns, und ich sah auch die Venus blinken. „Eigentlich sind die Sterne unsere Freunde.“ sagte ich. „Sie sind genau so nachtaktiv wie wir.“
„Weißt du, was meine Theorie ist?“ wollte Lucas wissen. „Nein, was denn?“ „Ich denke, irgendwo auf der Welt, beziehungsweise irgendwo, wo es Nacht ist, schaut immer jemand zu den Sternen, so wie wir jetzt, aber es gibt bestimmt auch Sekunden, in denen schaut auch zufällig keiner.“

„Und dann?“
„Und dann wechseln die Sterne den Platz. Ich wette mit dir, wenn kurz keiner zum Himmel sieht, dann machen sie das, das geht allerhöchstens eine Sekunde. Sie veräppeln uns. Sie haben ihren Spaß daran. In der einen Sekunde sehen wir einen Stern, und kurz darauf schauen wieder zu der Stelle, aber es ist ein anderer Stern, den wir jetzt ansehen. Nichts ist wie es scheint. Im wahrsten Sinne des Wortes.“
„Du hast ganz schön viele Theorien, du.“
„Ich weiß, ich weiß.“

„Was denkst du passiert, wenn wir sie doch dabei erwischen?“

„Dann,“ Lucas lächelte, „passiert vielleicht ein kleines Wunder.“

Lichter. Nächte voller Lichter, Farben, ,und Gesichter,

Lieder, Stunden voller Lieder, und wir singen wieder

Tänze, Minuten voll von Tänzen, Sternen, siehst du wie wir glänzen

Leben, Momente voller Leben, hassen und vergeben

Strahlst du vor dich hin

Lucas Sommers Leben endete genau so verkehrt, wie es angefangen hatte. Er starb an einem Tag, um 14:42, und ich hasste ihn dafür, dass er sein Leben nicht wenigstens ordentlich beendet hatte, um Mitternacht oder so. Ich wusste niemals, woran er starb, ein irrelevantes Detail einer Sache die nie hätte geschehen dürfen, aber ich erfuhr, dass seine letzten Worte: „Achtung achtung, ich wechsele gleich den Platz“ waren. Seine Mutter kam zu mir nach Hause und erzählte es mir. An einem Morgen.

Die ersten Nächte schlief ich tief und fest. Dann begann ich, wieder wachzuliegen. Jetzt gehört die Nacht nicht mehr mir alleine, jetzt gehört sie auch Lucas. Jede Nacht teilen wir uns. Sie gehört uns. Uns ganz alleine.

Ich gehe in den Garten. Ich setze mich auf die Schaukel. Sie schwingt ganz leicht hin und her. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe zu den Sternen.

„Sag nicht, du willst jetzt schon Mittagessen gehen.“ sage ich. Der Stern, der mich am Hellsten anstrahlt, blinkt kurz auf, und ehe ich mich versehe, steht ein kleinerer an seiner Stelle. „Na gut, du hast mich überredet.“ sage ich, und gleite von der Schaukel.

Er hat die Macht zurück.

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Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.