Merkel geht.
Die Nachricht erreicht mich, als ich ohne Winterreifen auf rutschigen Straßen fahre und eine Karawane an Autos hinter mir her ziehe, die gerne schneller als 80 km/h fahren würden. Im Radio rauscht es zwischen den Worten, die Radiosprecherin verkündet Merkels Rückzug aus der Politik 2021 als würde sie das Wetter vorlesen. Überraschender Wintereinbruch, achten Sie bitte auf Ihre Geschwindigkeit.
War Merkels Rückzug überraschend? Vermutlich nicht. Es hätte Scheuklappen und Ohrstöpsel gebraucht in den letzten Jahren, um den Lärm um die Regierung, das Ansehen der CDU und den Disput mit der CSU und insbesondere Horst Seehofer zu umgehen. Egal in welcher Hinsicht haben sich Fronten verhärtet, von denen Menschen wie ich zuvor nicht einmal wussten, dass es sie gibt.
2014 noch schien die Welt in Ordnung gewesen zu sein. Gegen Ende dieses Jahres absolvierte ich mein Berufspraktikum im Büro des Deutschen Bundestagsabgeordneten Michael Donth von der CDU. Eine AFD gab es dort im Bundestag noch nicht, die Flüchtlingskrise schien überwältigend aber machbar. Merkels „Wir schaffen das!“ wurde noch nicht mit „Merkel muss weg“, „Wie lange sehen wir noch zu?“ und „Von wegen Willkommenskultur“ gekontert. Vieles lag noch in der Zukunft, die Massenbelästigung in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 etwa, die Massenvergewaltigung in Freiburg, die Vorfälle in Köthen, Chemnitz und eigentlich überall im Land. Die Herausforderung, dass Flüchtlinge nicht nur gerettet, sondern später in die Gesellschaft eingegliedert und an deutsche Werte gewöhnt werden müssen, und die Erkenntnis dass das nicht immer, und nicht auf Anhieb funktioniert. Dass es Ausfälle gibt. Ich glaube nicht dass diese Punkte an sich Merkel und den Kurs ihrer Partei gebrochen hat. Es waren die Dispute, die aus diesen Ereignissen entstanden sind. Zwischen Merkel und einem Volk, Das Stück für Stück gespalten wurde. Die „Gutmenschen“ auf der einen, die „Nazis“ auf der anderen Seite. Dazwischen gab es kaum mehr Platz, plötzlich musste jeder Stellung beziehen, eine Meinung dazu haben. Eine meiner Ansicht nach sehr leicht zu bildende Meinung war es an diesem Punkt, gegen das System zu gehen, im übersetzten Sinne: gegen Merkel. Also ging es los: Merkel ist schuld, Merkel muss raus. Die AFD im Aufstiegsrausch, 80 Millionen Asylexperten die es alle besser wussten, gefährliches Halbwissen.
Vor zwei Tagen postete auf Instagram eine Jodelseite folgenden Jodel-Post eines Nutzers:
Schon nach kurzer Zeit sammelten sich darunter Kommentare wie: „Was für ein schlechter Scherz. Merkel konnte nichts, kann nichts und wird nie etwas können“ oder „Merkel hat dieses Land in den Ruin gestürzt und dafür sollen wir Danke sagen?“ Das war der Punkt an dem ich das WordPress-Dashboard geöffnet habe. Der Punkt an dem ich dachte „Ich muss jetzt auch mal meine Meinung sagen“ auch wenn sie unter Umständen niemanden interessiert.
Vor vier Jahren bei meinem Praktikum hatte ich eine Führung im Bundeskanzleramt. Nichts besonderes, kann man easy im Internet buchen und in einen Berlinbesuch einbinden. Dafür aber unglaublich eindrücklich und auch wenn seit 2014 viel Zeit (und noch mehr Klausuren) vergangen ist, ist mir eines im Kopf geblieben: der gewöhnliche Tag und die durchschnittliche Schlafdauer der Bundeskanzlerin. Eins könnt ihr glauben: viel ist es nicht. Ich beschwere mich, wenn ich um halb acht im Büro sitzen und erst um achtzehn Uhr gehen darf, aber diese Frau leistet praktisch übermenschliches, seit 13 Jahren. Dazu der psychische Druck, für eine Gesellschaft von 80 Millionen Menschen gewissermaßen die Verantwortung zu tragen. Gleichzeitig bestenfalls noch für sämtliche Staaten der EU. Menschen sind grausam, wenn es um Erwartungen geht. Sie sind doch Bundeskanzlerin, warum schaffen sie nicht bezahlbaren Wohnraum, und wenn sie schon dabei sind, sagen sie Kim Jong Un doch mal dass er das mit den Atombomben lassen soll. Jeder normale Mensch würde bei so einem Alltag die Nerven verlieren, ganz sicher. Aber wann hat Angela Merkel ihre Fassung aufgegeben? Ganz abgesehen von dem Inhalt ihrer Politik – Wer maßt es sich an zu sagen diese Frau kann nichts?
Dann diese Menschen die finden, Frau Merkel hätte nichts erreicht und dem Land mehr geschadet als genutzt. Ich frage mich ehrlich, ob diese Menschen das immer schon dachten, auch damals, als das ironische „Danke Merkel“ noch out war. Was haben sie dann damals kritisiert? Dass Deutschland, wie kein anderes Land auf dieser Welt, kein Paradies mit 0 Prozent Arbeitslosenquote, dem Heilmittel für Krebs und kostenlosen Villen für alle ist? Immer heißt es „Niemand ist perfekt“ und „Jeder macht mal Fehler“ aber wenn es um Amtsträger wie die Bundeskanzlerin geht, wird plötzlich ein übermenschliches Wesen erwartet und jeder Fehler streng quittiert. Das ist so sehr Deutschland, dass man immer auf dem stochert, was man nicht hat. Dass man völlig vergisst, wie gut man es hat. Was ich damit nicht fordern will ist eine passive Konformität für die Politik, gegen die man nichts sagen darf. Das ginge dann in Richtung Zensur und Diktatur. Und genau das sind wir nicht, weil Angela Merkel stets dagegen angesteuert hat. Wieso kann man nicht gegen Ende einer so langen Amtszeit einmal auf die Idee kommen zu fragen, WIESO sie so lange war? Wenn ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin NICHTS kann, bleibt sie keine 13 Jahre an der Macht. Nicht einmal eine reguläre Amtszeit, wenn man sich Institutionen innerhalb des Bundestages, wie das konstruktive Misstrauensvotum ansieht. Wenn man die völlig überraschende Tatsache besieht, dass jeder deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren die Chance hat, das mitzubekommen. Diese Politikverdrossenheit, die sich in den letzten Jahren immer mehr etabliert hat, hätte ich an Angela Merkels Stelle keine zwei Monate ausgehalten. Dann hätte ich das Handtuch geworfen und geschrien: „Dann machts doch alle selber wenn ihr es so viel besser könnt!“ Ja, und genau deswegen ist Angela Merkel Bundeskanzlerin, nicht ich.
Deswegen, und weil ich keine Politikexpertin bin. Ich bin nur eine 19-jährige Abiturientin, die die Welt so sieht wie sie aufgewachsen ist, ich bin vielleicht naiv, geprägt von politischen Einflüssen meiner Eltern. Mein Vater hat mich oft zu Veranstaltungen der CDU mitgenommen und so wie sie unter Angela Merkels Führung war, fand ich sie gut. Hey, dazu kann ich stehen. Auch zu dem, was die CDU in den letzten Jahren verbockt hat. Einem Fußballverein dreht man auch nicht den Rücken zu wenn er eine schlechte Saison spielt, oder? Und wenn doch, dann entweder mit gutem Grund oder weil man kein richtiger Fan ist. Trotzdem ist es nicht falsch seine Meinung zu ändern und eine andere Partei zu wählen. Nur sollte man dafür dann genauso gute Gründe haben wie für die alte Partei. Was bei Wählern der AFD aus meiner Sicht nicht allzu häufig der Fall war. Ich betone: meine Meinung.
Ganz ehrlich: mich trifft dieses Ereignis. Ich finde, Merkel hat einen guten Zeitpunkt getroffen, sie hat diese Entscheidung lange und gründlich getroffen, wie sie es immer tut. Es ist das Richtige, trotzdem macht es mir Angst. Ich habe in meinem Leben, wie alle anderen aus meiner Generation, keinen anderen Bundeskanzler bewusst erlebt. Es war immer Angela Merkel. Jetzt werde ich erwachsen und sie geht. Sie war ein Stück weit die Sorglosigkeit meiner Kindheit, was einen bestimmten Grund hat. Meine Eltern haben mich relativ früh an die Geschehnisse des dritten Reichs und des zweiten Weltkriegs herangeführt, wofür ich ihnen auch sehr dankbar bin, weil es während meiner Grundschulzeit doch so einige Witzbolde gab, die da einiges gehörig falsch verstanden hatten. Hitler – das war für mich von Anfang an eine Schreckensfigur. Der hitzige Diktator, der es nicht gut mit den Menschen meint. In Nächten voll mit Alpträumen bin ich zu meinem Vater ins Wohnzimmer gekommen und habe gesagt, dass ich mich fürchte, dass so etwas wieder passiert. Daraufhin hat mein Vater immer gesagt: „Nein, denn unsere Regierung wird das verhindern. Frau Merkel passt auf, dass das nicht passiert.“ So habe ich unsere Bundeskanzlerin als kleines Mädchen wahrgenommen, als Vertrauensperson die uns beschützt und die so besonnen und ruhig ist im Vergleich zu Hitler. Ich kannte weder die Politik im allgemeinen noch ihre im speziellen. Sie war einfach – menschlich.
Natürlich bin ich heute dahinter gekommen, dass das nicht alles ist. Ich wurde mein ganzes Leben von Unheil verschont, in dem andere jeden Tag leben. Meine Eltern waren nie arbeitslos, niemand in meiner Familie ist einer Gewalttat zum Opfer gefallen, ich konnte aufs Gymnasium gehen, jetzt studieren was ich will. Ich kann mich glücklich schätzen und das kann nicht jeder. Deswegen steht es jedem frei, Unmut über einen bestimmten politischen Kurs zu äußern. Mich stört es einfach nur, wenn völlig unbegründet der eigene Frust auf die Politik abgelassen wird, denn dadurch entsteht Schaden, der unter Umständen irreversibel ist: schrumpfende Wahlbeteiligung, rechte Parteien auf dem Vormarsch, aber auch Extremismus von beiden Seiten. Generell Frust der zur Gewalt führt.
Und dass so viele mit einem so großen Disrespekt auf Frau Merkels Ankündigung reagieren, dass die politische Stimmung weiter angeheizt ist und man praktisch nur auf den nächsten Knall wartet, das macht mir Angst.
Drei Sätze, mit denen sich diese Stellungsnahme zusammenfassen lässt:
1. Wir wissen alle gar nicht, wie gut wir es haben.
2. Respekt macht Frieden und Wohlstand überhaupt erst möglich und ist in dieser Situation mehr als angebracht. Respekt und das Bewusstsein, dass ein Mensch immer nur das ist was man von ihm sehen will.
3. Danke Angela Merkel, für eine Politik, die Deutschland geprägt hat – wenn Sie mich fragen überwiegend positiv.