Sonntagabend, 18:21 Uhr. Draußen vor dem Fenster zieht Gewitter auf, das vierte in dieser Woche, es ist ein abendliches Ritual geworden. Die Tage bestehen aus Sonne und schwüler Luft, abends gehe ich nach Hause, bevor es losbricht. Drinnen sitze ich in der Wiener WG und denke, das Gewitter ist wie die Wahl heute: es bricht über uns herunter, was sich immer weiter angestaut hat und jetzt können die Wolken es nicht mehr halten und der Himmel offenbart uns ein bisschen mitleidig die Wahrheit: es wird düster.
Als ich vor zwei Monaten nach Wien gezogen bin, habe ich – erwachsen und organisiert, wie es von jemandem erwartet wird, der ins Ausland zieht – meinen Geldbeutel zuhause vergessen. Ich habe die Zugfahrt dennoch überlebt, weil niemand meinen Ausweis sehen wollte, und ich bin nicht verhungert, weil ich kontaktlos mit meinem Handy bezahlen konnte. Zwei Mal saß ich im gefürchteten Wiener Magistrat 35, aber das Magistrat ist gefürchtet, weil man durchschnittlich 48 Jahre auf den Termin wartet und nach Ablauf dieser Zeit überdurchschnittlich oft prototypisch-grantigen Wiener Sachbearbeiter*innen gegenübersitzt. Um meinen Aufenthaltsstatus in Österreich musste ich mich zu keiner Zeit sorgen und jetzt bin ich stolze Besitzerin einer Anmeldedokumentation auf festem, zitronengelben Papier. Ich kann hier einfach so ein Praktikum machen, oder arbeiten, oder studieren. Ich wohne in dieser WG, weil der eigentliche Mieter gerade (hoffentlich) die Zeit seines Lebens im Erasmus verbringt, so wie ich vor eineinhalb Jahren.
18:41 Uhr. Beinahe nichts an meinem Leben wäre dasselbe, würde es die EU nicht geben und wäre ich nicht an einem demokratisch-freiheitlichen Ort aufgewachsen. Und das ist nur mein Leben, ein kleiner Ausschnitt von etwas riesigem. Und auch wenn es jetzt, in dem Moment, in dem das Gewitter ein paar Kilometer weiter schon beginnt, schon viel zu spät ist, weil seit – Stand Jetzt – 41 Minuten die Wahllokale geschlossen sind, kann ich nur hier sitzen und denken: scheiße, ist das alles wertvoll. Und offenbar so überhaupt nicht selbstverständlich. Und – und hier überschneiden sich impulsiver Frustbericht und gängiger Liebesroman – ich verstehe wieder einmal erst, wie sehr ich es brauche, so zu leben, wenn es plötzlich in Gefahr ist.
Im letzten Text, im Januar, habe ich einen Psychologisierungsversuch angestellt. Über die Ängste geschrieben, die Menschen zu Wahlentscheidungen bewegen. Versucht, dadurch Verständnis zu entwickeln. Vielleicht liegt es an der Hitze in der Luft – heute fehlt mir jedes Verständnis.
Es sind bisher nur Prognosen, aber ich bin schon mal vorsorglich schockiert. Und so wütend. Auf alle, die mit ihrer Entscheidung heute auf die Grundwerte einer solidarischen, offenen Gesellschaft getreten sind. Die nicht bereit sind, Propaganda und Angstmacherei zu hinterfragen und es sich stattdessen leicht machen, indem sie nicht oder die mit den „einfachen Lösungen“ wählen. Gar nichts wird einfach, wenn Menschen an die Macht kommen, die grundständige freiheitliche Menschenrechte missachten. Für niemanden, aber besonders für die Menschen unter uns, die auf besagte Solidarität und Offenheit angewiesen sind, und die erschreckend vielen Prozent unseres Landes offenbar so egal sind.
Im Nachhinein erkläre ich mich selber für hochgradig naiv, aber die Kampagnen der letzten Tage und die vielen Aufrufe in den sozialen Medien zur Wahl demokratischer Parteien haben mich tatsächlich sowas wie hoffnungsvoll gestimmt. Forget it. Die AfD ist zweitstärkste Kraft und ich würde die – Stand Jetzt – 16 % der Deutschen einfach gerne schütteln. Ich will keinen einzigen Beweggrund mehr hören, kein Verständnis aufbringen oder sie in ihren Nöten ernst nehmen. Ich will ihnen nacheinander Im Westen nichts Neues in die Hand drücken, dann eine Droge verabreichen, auf deren Trip sie selbst eine ausgegrenzte Person mit Migrationshintergrund, Fluchterfahrung oder sexueller Diskriminierung sind, und zum Schluss noch eine Runde schreien. In ihr Ohr.
Gut, dass ich nicht in der Politik bin, denn zielführend ist nichts von alldem hier. Schlecht, dass nicht einmal mehr die, die da mehr Kompetenz haben als ich, sicher ihrer Arbeit nachgehen können, ohne sich vor der wachsenden Gewaltbereitschaft in dieser Gesellschaft fürchten zu müssen. Wie soll man da nicht den Glauben an konstruktive Gespräche und geteilte Grundwerte verlieren?
Ich stelle mir vor, wie Erich Maria Remarque, Anne Frank, Sophie Scholl und abertausende andere Menschen vom Himmel aus den Kopf schütteln und sich dann abwenden von dem Bild, dass sich ihnen dort unten bietet: all ihre Kämpfe und ihre Appelle und ihre unerfüllten Wünsche, die wir so vermeintlich selbstverständlich leben, werden mit Füßen getreten. Vielleicht schicken sie uns ja diese Gewitter. Man könnte es ihnen nicht übel nehmen.
18:54 Uhr. Bis aus den Prognosen Zahlen werden, die auf die ungünstigste Art geltend und historisch bleiben, wird es noch dauern. Das Gewitter ist bis dahin vielleicht schon weg. Die düsteren Aussichten bleiben. Beim besten Willen finde ich keinen Weg mehr, diesem Text einen optimistischen Plottwist zu verpassen. Stattdessen zitiere ich Kraftklub und dreh laut, damit ich die Welt mal kurz nicht mehr hören muss.
Die Welt geht vor die Hunde Mädchen, traurig aber wahr.