Geschenktes Leben | Organspendeausweis

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Ich habe mich sooo lange nicht gemeldet und mein Gewissen tötet mich dafür. Ich kann nicht einmal behaupten es würde am Stress liegen, denn den gibt es zur Zeit nicht. Wir schreiben pro Woche höchstens eine Klausur (was so, so wenig ist für Oberstufenverhältnisse) und an den Wochenenden genießen wir einfach die Fasnet. Alles in allem habe ich gerade also eine richtig gute Zeit, aber es passiert einfach nichts, worüber es sich zu berichten lohnt und ich möchte meinen Blog ungern mit sinnlosen, undifferenzierten Einträgen füllen. Trotzdem kann ich sagen, ich bin gerade einfach absolut zufrieden mit allem, mit der Schule, mit meinen Freunden und mit dem Leben das ich führe. Kaum vorstellbar, aber ich stehe jeden Morgen auf und freue mich auf den ganzen Tag, egal wie viele Stunden davon in der Schule stattfinden. Sicher wird es wieder Tage geben an denen ich mich wieder nach einem Gewinn im Lotto sehne, oder in den Körper eines Supermodels oder einfach nur an den Strand, aber im Moment ist mein größter Wunsch, dass alles genau so bleibt wie es jetzt ist.

Dieser Wunsch – nach Alltag, Freiheit und Gesundheit – bleibt jedes Jahr zahlreichen Menschen verwehrt, die mit einer schlimmen Krankheit diagnostiziert werden. Schleichend, oder aber von einem Tag auf den anderen ändert sich ihr ganzes Leben und der zuvor so selbstverständliche Alltag gelangt in den Hintergrund. Dabei gibt es längst nicht DIE Krankheit. Wir Menschen sind so verwundbar, unser Körper ist ein Wunderwerk aber dennoch nicht zu tausend Prozent verlässlich. Zum Teil sind wir selbst verantwortlich, ob wir im Laufe unseres Lebens an Herz- und Lungenerkrankungen, Diabetes, Leberzirrhose oder ähnlichem erkranken, zum Teil sind wir auch ausgeliefert. Fakt ist, wenn es so weit ist und wir unserem Körper machtlos dabei zusehen müssen, wie er nach und nach an Kräften verliert, klammern wir uns an jeden noch so kleinen Hoffnungsstrahl. Und der wohl bedeutendste, vielversprechendste davon heißt: Organspende.

Zahlreiche Organe und Gewebeteile können heute einem verstorbenen Spender entnommen und einem schwerkranken Patienten transplantiert werden. Detaillierte Infos zu möglichen Spendeorganen und den genauen Abläufen können hier nachgelesen werden.

Das alles ist nur möglich, weil sich Menschen im Laufe ihres Lebens dazu entscheiden, ihre Organe nach ihrem Tod freizugeben. Die politische Regelung der Organspende sieht in nahezu allen europäischen Ländern unterschiedlich aus. In Deutschland ist die sogenannte „erweiterte Zustimmungslösung“ gesetzlich festgelegt. Sie besagt, dass einem Mensch, der sich zu Lebzeiten gegen eine Entnahme der Organe nach seinem Tod ausgesprochen hat, keine Organe entnommen werden dürfen. Hat sich der Mensch während seines Lebens nie festgelegt, entscheiden nach dem Tod die Angehörigen über eine Zustimmung zur Organentnahme, jedoch müssen sie sich dabei an der mutmaßlichen Meinung des Verstorbenen orientieren. Um solche Situationen möglichst zu verhindern, gibt es in Deutschland den sogenannten Organspendeausweis.

Jetzt kommt der wichtige Punkt für alle, die das hier lesen und auf meiner Schule sind: die Sozial-AG der SMV hat noch die ganze restliche Woche einen Stand im Altbau, an dem sie in der großen Pause Aufklärung zur Organspende und zur Stammzellenspende leistet. Es gibt sowohl Flyer über die DKMS als auch kostenlose Organspendeausweise, die sich jeder Mensch ab 16 Jahren aneignen kann. Unbedingt vorbei schauen, das gilt natürlich auch für alle jüngeren Schüler 😉

Mit dem Thema Stammzellenspende beschäftige ich mich nun schon ein ganzes Jahr intensiv. So lange ist es jetzt schon her, dass ich von Meikes Rückfall erfahren und mich näher mit ihrer einzigen Chance, einer Stammzelltransplantation befasst habe. Im Herbst 2016 habe ich mich dann selbst registriert, nur wenige Wochen vor Meike ihrer Leukämieerkrankung erlag. Sie starb, bevor ihr die rettenden Stammzellen transplantiert werden konnten, und deswegen habe ich mich erst recht mit Feuereifer auf mein Seminarkursthema „Neues Leben durch eine Stammzelltransplantation“ gestürzt. Ich weiß ich hab das schon so oft geschrieben, aber ich kann nur noch einmal wiederholen: lasst euch registrieren, es ist so einfach und so effektiv!

Heute in der großen Pause habe ich mir dann auch meinen Organspendeausweis geholt, und in einer (mehr oder weniger) ruhigen Minute im Oberstufenraum ausgefüllt.

So sieht ein Organspendeausweis von vorne aus. Neben dem Namen und dem Geburtsdatum wird unten noch die Adresse eingetragen.

Viel schwieriger wird es auf der Rückseite. Hier kann man einer Organentnahme entweder widersprechen, zusagen, oder bedingt zusagen, das heißt bestimmte Organe, die man nicht spenden will ausschließen. Man kann auch eine Person bestimmen, die nach dem eigenen Tod über eine Organentnahme entscheidet.

Natürlich habe ich mich viel mit meinen Freunden darüber unterhalten, was hier die richtige Entscheidung ist, auch wenn man von „richtig“ und „falsch“ in diesem Kontext wohl kaum sprechen kann. Uns kreisten so viele Fragen durch den Kopf. Welche Organe werden einem entnommen, wenn man ALLES ankreuzt? Wie soll das sein, ohne Augen im Grab zu liegen? Was ist, wenn ich mein Herz behalten will, weil es ist doch irgendwie mein Herz? Und was, wenn mich meine Familie vor der Beerdigung noch einmal sehen will, wenn ich dann entstellt bin?

Ich habe wirklich ernsthaft überlegt, ob ich Organe wie das Herz oder meine Augen ausschließen soll. Mein Herz ist einfach mein Herz, mein starkes Herz das manchmal ins Stolpern kommt, und seit das 2014 losging habe ich mich wirklich intensiv damit befasst. Dann meine Augen. Sie haben so viel Schönes gesehen, das Meer, meinen ersten Freund, die Sonne im Flugzeugfenster, die Berge Chinas, meine besten Freunde, das Funkeln in ihren Augen, mit dem sie mich selbst zum Strahlen bringen. Ich bin ihnen so dankbar, dass sie mich das alles sehen lassen, und auch wenn Augen im Himmel vermutlich überflüssig sind, ist es ein befremdlicher Gedanke, diese Welt ohne sie zu verlassen.

Aber dann habe ich wieder daran gedacht, dass irgendwo ein Mensch sitzt, der sich genau das sehnlichst wünscht: die Welt wieder mit den Augen zu sehen und nicht mit der Fantasie, der vielleicht sein halbes Leben im Dunkeln sitzt und auf das Licht wartet. Und ich habe daran gedacht, dass das Herz eines der Organe ist, die am meisten benötigt werden. Mitten in diesem Gedankenchaos hat ein Junge,  der mit mir im Oberstufenraum saß, gesagt: „Ich weiß dass das nicht leicht zu entscheiden ist, aber ganz ehrlich- wenn du tot bist, du brauchst das doch alles nicht mehr oder?“ Und da hatte er einfach recht, und dann habe ich meinen Kuli genommen, ALLES angekreuzt und meine Unterschrift darunter gesetzt. Für mich war das richtig. Aber jeder muss es selber wissen.

Es war ein so unbeschreibliches Gefühl, mitten in der Schule, wo um uns rum das Leben tobte, über den Tod nachzudenken und darüber, wie wir ihn uns vorstellen. Es war, als würden wir mit dieser Entscheidung einen Bruchteil des Unveränderlichen bestimmen können, die Illusion, den Tod ein Stück weit in der Hand zu haben. Wir sind 17 Jahre alt und kein Mensch weiß, wie lange wir noch hier sind. Gerade fühlt sich alles so sicher an, die Wände sind aus festem Beton und wir finden eine Mischung aus „mit beiden Füßen auf dem Boden“ und „mit dem Kopf in den Wolken“. Das Leben scheint endlos, wir sind stark, unbesiegbar, strahlende Helden unserer ganz eigenen Geschichte. Es ist nicht leicht, daran zu denken dass sich das alles ändern wird. Und im Kontext einer Organspende ist es ja meistens kein langes, angekündigtes Ende, sondern abrupt und unerwartet. Angenommen wir geraten in einen Unfall- das kann uns morgen genauso passieren wie in 10 Jahren.

Es fühlt sich also auch ein Stück weit gut an, sich abzusichern, dieses Detail festzulegen. Das ist wie wenn ich kurz vor einer Reise an meinem Schreibtisch sitze, die gepackten Koffer neben mir, und ich auf einen Zettel schreibe: Danke. Dann liste ich all die Menschen auf, die mein Leben so schön machen, ich lasse niemand aus und dann kann ich befreit aufstehen und in das Flugzeug steigen, dass zu 99 Prozent sowieso nicht abstürzt. Ich habe das 2016 vor jeder einzelnen Reise gemacht und es war nie komisch. Zu wissen, dass unser Wille und unsere Zuneigung zu anderen weiterlebt auch wenn wir gehen müssen, macht die Angst vor dem Tod ein bisschen kleiner.

Man merkt mir wohl an, dass mich das Thema Organspende wirklich beschäftigt. Es ist einfach dieses Prinzip, das mich schon bei der Stammzellspende so fasziniert hat: jemand schenkt einem Fremden die Chance auf ein neues Leben, der Fremde der nicht länger fremd ist. So entstehen Verbindungen, die ein ganzes Leben andauern – und auch darüber hinaus. Was wollen wir eigentlich mehr?

Auch in Literatur und Film wird das Thema häufig aufgegriffen, beispielsweise in Jodi Picoults Beim Leben meiner Schwester, wobei sich dieses Buch jedoch auf eine Lebendspende bezieht.

Zur Organspende habe ich zwei unglaublich gute Bücher gelesen.

In Things we know by heart von Jessi Kirby begibt sich die junge Protagonistin Quinn auf die Suche nach den Menschen, die die Organe ihres verstorbenen Freundes Trent erhalten und damit die Chance auf ein neues Leben bekommen haben. Besonders wichtig ist Quinn der Empfänger von Trents Herzen, doch sie kann nicht ahnen, in welche Situation sie sich dadurch begibt.

Das Buch zeigt auf eine tiefgehende Weise auf, welchen Gefühlen sich sowohl Empfänger von Organtransplantaten als auch die Angehörigen des Spenders stellen müssen, mit wie viel Schicksalsschlägen und Herausforderungen eine solche Zeit verbunden ist, und wie zauberhaft das Schicksal seine Fäden zwischen Menschen spannt, die schon ihr ganzes Leben lang füreinander bestimmt waren.

Die deutsche Ausgabe von Things we know by heart heißt Mein Herz wird dich finden und kann hier bestellt werden.

Das andere Herz von Alf Kjetil Walgermo zählt schon seit 2014 zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Die dreizehnjährige Protagonistin Amanda wird unerwartet mit einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit konfrontiert, der nur mit einer Herztransplantation entgegengewirkt werden kann. In drei Teilen berichtet Amanda von ihrer Reise, wie sie selbst die Zeit bis zum Tag 0 nennt, und berichtet dabei ergreifend ehrlich. Wie unerträglich, kräftezehrend und zermürbend die Wartezeit für einen Schwerkranken sein muss, kann ein Gesunder nur erahnen. Am Ende des Klappentextes steht: Eine mitreißende Geschichte über die erste Liebe und die Kostbarkeit des Lebens und dieser Beschreibung ist nichts mehr hinzuzufügen!

Im August 2016 wurde in Facebook etc. das Schicksal der jungen Macey Rae bekannt. Das amerikanische Mädchen litt an einer unheilbaren Herzkrankheit und wartete auf ein Spenderherz. Als der erlösende Anruf kam, nahm die Mutter Maceys emotionale Reaktion auf Video auf. Dieses Video ging um die ganze Welt und sorgte für viel Aufmerksamkeit für das Thema Organspende. Bereits am 30. August begann Maceys neues Herz in ihrem Körper zu schlagen und bis heute postet sie auf ihrem Youtube-Channel Videos über ihre Geschichte, und animiert so tausende von Menschen weltweit zur Organspende. Auch auf ihrer Facebook-Seite werden regelmäßig Updates gepostet und ich kann euch sagen, es spielt überhaupt keine Rolle dass dieses Mädchen irgendwo in den USA sitzt: die Botschaft kommt an. Und sie ist SO inspirierend!!

Das wohl Berührendste auf der Facebook-Seite „Maceys New Heart“ ist ein Bild von dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Sie steht im Garten und hält einen Luftballon in Herzform in den Händen, den sie in die Himmel steigen lässt – in Gedenken an den verstorbenen Menschen, dem sie ihr neues Herz zu verdanken hat.

Dieses Bild habe ich bestimmt 5 Minuten ununterbrochen angestarrt, mit Tränen in den Augen und dem festen Willen, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Entstanden ist daraus die Kurzgeschichte Rollentausch, die ich schon vor einer ganzen Weile hier veröffentlicht habe. -> Rollentausch.

Organspende -ein Thema mit unzähligen Pro- und Kontraargumenten, Zweifeln und Ängsten, weil es nun mal kein richtig oder falsch gibt, wenn es um das Leben und die eigene Würde geht. Jeder geht seinen Weg, und das ist gut so.

So war heute ein komischer Tag, an dem ich mich viel mit meinem Leben und dem anderer befasst habe. Ich habe heute einen Teil meiner Zukunft besiegelt und letztendlich führt das nur dazu, dass ich jetzt noch intensiver lebe als vorher und ich bin froh darum.

Wir wissen nie was kommt, aber lasst uns da raus gehen und das Beste draus machen.

Das Leben wartet auf uns.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.