It is the wrong time

for somebody new

it is a small crime

and I have got no excuse

damien Rice

Es war an einem dieser Tage, die zum Metrofahren viel zu schade waren. Es hatte 30 Grad, die sich in Rom wie immer wie 35 anfühlten. Die Metro raste trotzdem, unbeirrt, von Station zu Station. Die Menschen stiegen ein und aus.

Vor ihren Augen sah sie, wie im Gedränge ein schmaler, etwa 16 jähriger Junge einem deutschen Touristen die Geldbörse aus dem Rucksack stahl. Sie tat nichts. In Rom geschahen Tag für Tag Verbrechen wie diese, mal kleinere und mal größere.

Sie sah zu ihm hinüber. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Die feine Haut auf den Lidern war heller als die des restlichen Gesichtes. Sie zählte die winzigen Schweißperlen auf seiner Stirn. Die Furchen verrieten, wie angespannt er war.

Traurig zu sein war schwer, wenn es regnete. Weil einen die Tropfen, die vom Himmel fielen, an Tränen erinnerten, die das Selbe taten. Regen erinnerte die Menschen daran, dass es Dinge gab, die sie nicht steuern konnten. Kontrollverlust war etwas Trauriges.

Aber an sonnigen Tagen traurig zu sein, dachte sie, war noch viel schlimmer. Als wäre es ein Naturgesetz, änderte sich in Rom die Stimmung schlagartig, wenn der Himmel blau wurde. Touristen aus aller Welt bevölkerten die Straßen, Musiker spielten ihre Lieder, es herrschte Dolce Vita wo man hinsah. Die Metro war nur noch Zwischenstopp. Vor Freibad, Eisdiele oder Meer.

Sie und er passten nicht in dieses Bild. An ihnen haftete nicht der unverwechselbare Geruch von Sonnencreme, sondern ein Hauch von Efeu. Friedhofsgewächs. Erstklassig geeignet. Auf dem Friedhof war alles schattig gewesen, aber für sie hatte es sich angefühlt wie in der prallen Sonne, ausgedorrt und unter dem Druck der römischen Außenwelt, den blauen Himmel und die gelbe Sonne und das süße Leben verdammt noch mal zu genießen.

Plötzlich zuckten seine dichten Wimpern und er machte die Augen auf, als hätte ihn ein schlimmer Traum geweckt. „Wir sind schuld.“ sagte er durch den Lärm aus italienischem und englischen Sprachgewirr, Kinderweinen und Metrobrummen. „Sind wir doch.“

„Sind wir nicht.“ sagte sie, und fügte das hinzu, was seit Wochen ihr auswendig gelernter Satz war. „Wir wussten nicht, dass er betrunken war.“ „Ich hätte ihm den Schlüssel wegnehmen sollen.“

„Er hätte dich gehasst, sobald er es gemerkt hätte.“ „Aber jetzt ist er tot, und das ist auch nicht besser. Du hast deinen Freund verloren.“ „Und du deinen besten Freund. Es macht keinen Unterschied.“

Sie verstummte, weil ihr die Bedeutungsschwere dieses Satzes klar wurde. Sie wollte sich eigentlich nicht anmerken lassen, wie sie sich mit ihm verglich, eine gemeinsame Ebene suchte, Tag für Tag seit ihr Freund gestorben war, und sie ihn weinen sehen hatte, seinen besten Freund, der ihn betrunken hatte fahren lassen, nach einer Party am Abend. Für ihn war das ein großes Verbrechen. Kein Geldbörsendiebstahl. Ein Lebensklau.

Die Metro bremste kreischend und er stand auf. „Lass uns aussteigen.“ Sie achteten nicht einmal auf den Namen der Station. Im Gedränge auf der Treppe nahm er ihre Hand. Dazu hielt man Händchen: um sich nicht zu verlieren. Nur, man tat es auch dann noch, wenn es eigentlich gar nicht passieren konnte.  Auf halber Strecke wurde sie von der Masse gegen eine Wand gedrückt und er wurde mitgezogen. Oberkörper an Oberkörper standen sie da und atmeten schwer. „Wir“ sagte sie, „haben keine Schuld.“ „Ja.“ sagte er, aber er sah sie nicht an, sein Blick wanderte ins Unerkenntliche. „Gehen wir weiter.“

Sie stellten fest, dass es irgendeine unbedeutende Metrostation gewesen war, an der sie ausgestiegen waren, kilometerweit weg von ihrem Zuhause, aber in der Nähe gab es eine Treppe, die zum Ufer des Tibers führte. „Verrückt, dass die Leute überall sind, wenn es warm nicht, nur nicht da, wo es am nächsten am Wasser ist.“ meinte er. Es erstaunte ihn, dass auf dem langen betonierten Ufer kaum eine Menschenseele zu sehen war. Sie sagte nichts. Sie kannte diesen Anblick und die Intimität, sie war so oft mit ihm dort unten gewesen. Alleine war sie nie ans Tiberufer zurückgekommen, und es fühlte sich gut an, es jetzt zu tun, aber war es auch das richtige?

Als ob man einen Menschen so einfach ersetzen konnte.

Sie setzten sich auf den von der Sonne aufgeheizten Asphalt und schwiegen. Der Tiber floss trübe. Selbst er hatte keine Lust auf die Hitze. „Vielleicht wollte er es nie anders.“ sagte sie unvermittelt. „Manchmal glaube ich wirklich, er wollte gehen.“ „Du denkst er hat es absichtlich gemacht?“ Sie zögerte kurz. „Ich sage nur ich weiß nicht ob ihm die Alternative besser erschienen ist: bleiben. Eingesperrt. Er hat sich immer Freiheit gewünscht.“  „Denkst du er ist jetzt frei?“ Er sah sie mit großen Augen an, aber sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Vielleicht wünsche ich es mir auch nur.“ „Ich mir auch.“ sagte er leise.

Sie starrte auf das andere Ufer als würde sich da ein wichtiges Naturereignis abspielen, dann ganz plötzlich, als sie dem Drang nicht mehr standhalten konnte, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn. Lippe an Lippe, salzig wie das Leben in der Wüste, ausgedorrt wie sie waren, seit der, der zwischen ihnen war und sie verbunden hatte, gegangen war. Dem Tiber machte das nichts aus. Er floß unbeeindruckt weiter.

In ihrem Kopf hallten die Worte wieder. „Wir haben keine Schuld“. Sie wusste, dass es falsch war. Dass die Oase in der Wüste an diesem Mittag am Tiber eine Illusion war, ein Verbrechen.

Aber in Rom geschahen Tag und Tag Verbrechen wie diese, mal kleinere und mal größere.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.