Mein 19. Lebensjahr

Kategorien Gedanken

02. Oktober 2018

Vor 364 Tagen bin ich 18 Jahre alt geworden. Seit 364 Tagen fahre ich Auto, unterschreibe meine Entschuldigungen selber und tue so, als hätte ich mein Leben im Griff.

In Deutschland ist mit dem 18. Lebensjahr die Volljährigkeit erreicht, was bedeutet, dass der Gesetzgeber uns zutraut, mit Autos am Straßenverkehr teilzunehmen, einen verantwortungsvollen Umgang mit hochprozentigem Alkohol aufzuweisen, auf Partys und in der Öffentlichkeit bleiben zu können so lange wir es für richtig halten und Entscheidungen zu treffen, ohne dass unsere Eltern sie mit ihrer Unterschrift bestätigen zu müssen.

„Jetzt bist du erwachsen!“ habe ich vor einem Jahr und einem Tag zahllose Male  gehört.

Falsch, denke ich jetzt, ab dem 18. Geburtstag wird man erwachsen. Davor nähert man sich dem an, bereitet sich vor, lernt die Theorie. Aber jeder weiß, das die Praxis ein ganz anderer Punkt ist. Einer, den es erst zu knacken gilt, wenn der 18. Geburtstag mit seinem rauschenden Fest vorbei ist und der Alltag einzieht.

Vier Stunden bevor ich 19 werde breche ich auf zu einem Fest mit meinen Freunden. Wenn ich eines nicht gelernt habe in diesem Jahr, dann ist es Zeitmanagement. Deswegen bleibt mir nicht viel Zeit um zu tun, was ich unbedingt tun muss. Die Schrift ist kritzelig, aber lesbar auf einer der letzten Seiten meines Tagebuchs.

19. Lebensjahr. 

Du warst das schönste, schwerste, abenteuerlichste, schmerzhafteste, lehrreichste und BESTE Jahr meines Lebens. DANKE!

Mein BESTES Lebensjahr war alles andere als unbeschwert und leicht. Es war eines, vor dem ich viel Respekt hatte. So viele Dinge musste ich zum ersten Mal machen, nicht alle davon waren freiwillig.

Wer kümmert sich schon gerne um seine Bankgeschäfte und Arbeitstermine? Wer hat Spaß daran, mit dem Auto quer über die glatte Straße zu rutschen? Wer schläft beruhigt ein, wenn er keine Ahnung hat wo und wer er in einem Jahr ist, wenn die stets konstante Schulzeit plötzlich zu Ende geht? Wer steht darauf, Sätze zu hören wie: „Wir können das nicht für dich entscheiden, es ist dein Leben.“

Alles das wird man gewöhnt, aber beim ersten Mal ist es nicht cool. Echt nicht. Trotzdem erreicht man, indem man sie tut, ein Stück weit sein Ziel: man wird erwachsen. Man hört auf, an Dingen und Menschen festzuhalten, weil man seine Energie für die wichtigen Momente bewahren will. Man löst sich von den Eltern und schafft einen gesunden Abstand. Mehr und mehr werden Freunde zu einer zweiten Familie, in die man dank Mobilität und Freiheit mehr Zeit und Einsatz stecken kann. Und trotzdem wird man vor allem unabhängiger, und das ist mir von allen Dingen, die mir mein 19. Lebensjahr gebracht hat, am wichtigsten.

Unabhängigkeit, das bedeutet für mich, nicht mehr zu sagen: „Mama fährst du mich….?“ sondern „Ich bin in vier Stunden zurück.“ Oder – noch viel besser – „Ich weiß noch nicht, wann ich zurück komme. Ich gebe euch spontan Bescheid.“ Unabhängigkeit ist, selbst zumindest ein bisschen Geld zu verdienen, das man ansparen oder mit dem man sich etwas kaufen kann die Eltern vielleicht nicht als kaufenswert gesehen haben. Unabhängig ist man, wenn man Entscheidungen für sich selbst trifft, und für sonst keinen. Ein Studium, eine Reise, eine Arbeit, eine Beziehung. Das heißt nicht, sich nach keinem umzudrehen und keine Meinung von Menschen einzuholen, die uns gut kennen. Es bedeutet aber, dass man die Meinungen der anderen mit dem eigenen Empfinden abwägt und daraus ein Ja oder Nein zu schließen, ohne sich komplett in fremde Hände zu legen. Unabhängig sein heißt, in sich selbst ein Zuhause zu haben, aber trotzdem Gäste darin einzuladen. Heute kann ich mit mir selber gut alleine sein, und noch besser mit anderen Menschen zusammen. Vor einem Jahr habe ich meine Stimmung, meine Zuversicht und mein Gesamteindruck vom Leben noch sehr viel mehr davon abhängig gemacht, was andere denken – von mir, über mich, über unsere Freundschaft. Dass sich das in einem Jahr so stark geändert hat, dass ich heute sagen kann dass ich mich frei und unabhängig fühle, ist das Ergebnis langwieriger zwischenmenschlicher Prozesse, aber auch von einigen aktiven Entscheidungen, mit welchen ich genau das erzielen wollte.

In mehreren Zusammenhängen habe ich mehr in meinem eigenen Interesse gehandelt als in dem einer Gruppe, der ich angehörte. Das war möglich, weil ich begriffen habe, dass man nicht überall dazu gehören muss sondern da, wo man hingehört. Dass Gehen längst nicht immer ein Verlust ist. Und dass man sich nie, niemals verstellen muss, um irgendwo nicht aufzufallen. Nur anpassen, um die Funktion einer Gruppe nicht zu gefährden.

Ich habe Entscheidungen getroffen, die selbst in meinem engen Umfeld nicht immer auf grenzenloses Verständnis gestoßen sind. Dass ich nach dem Abitur nicht gleich studiere, sondern arbeite und reise, hat mir längst nicht überall Bestätigung eingebracht. Ich habe versucht, die Bedenken und Kritik ernst zu nehmen und ihnen entgegen zu wirken, indem ich einen Job gefunden habe und an meinen Reiseplänen gearbeitet habe, um sie realistisch zu machen. Die Zweifel von außen haben mich gepusht, abbringen hätten sie mich von meinen Plänen aber niemals gekonnt.

Bevor ich so in mir geruht habe, musste ich Berge – oder eher Täler – von Selbstzweifeln überwinden. Ein wichtiger Prozess war dabei, meine Akne von mir als Person zu trennen. Sie mag dank Schminke nicht für jeden ersichtlich sein, aber sie ist da und hat es mir lange Zeit schwer gemacht. Ich kann nicht behaupten dass ich sie heute angenommen und als Teil von mir akzeptiert habe. Nein, denn sie ist einfach nicht schön. Sie ist einfach nur eine Entzündung und wer will das schon im Gesicht tragen, mit 19, wo doch die hormonellen Umstellungen der Pubertät schon in den Hintergrund getreten sind? Zumindest habe ich es geschafft zu verinnerlichen, dass äußere Makel keinen Einfluss auf die Qualität des Lebens haben, WENN man sie davon abhält. Dazu reicht es, sich folgendes vor Augen zu führen: werde ich irgendeines von meinen Zielen – in meinem Fall die Veröffentlichung eines Romans, Reisen so oft es geht, studieren, eine Familie aufbauen, glücklich sein – nicht erreichen, weil ich Pickel im Gesicht habe? Hat sich bisher irgendeiner aus meine Umfeld von mir abgewandt, alleine aufgrund eines Blickes in mein Gesicht? In dem Moment, in dem ich diese Fragen mit Nein beantworten konnte, war ein großer Schritt geschafft.

Auf meinem Weg zu meinem 19. Geburtstag musste ich einen großen Bestandteil meines bisherigen Lebens zurücklassen: die Angst. Allem voran die Angst vor Krankheiten. Die hatte mich in der ersten Hälfte meines 19. Lebensjahres noch stark im Griff, und dann hat sie sich verzogen, weil ich aus Gesprächen mit einigen Menschen und aus Erfahrungen, in denen auf den dunkelsten Moment direkt der hellste folgte, eines verstanden habe: Nichts hat die Macht, unser Leben langfristig zu zerstören, wenn wir es nicht so weit kommen lassen. Selbst wenn ich krank werde, das ist doch nicht das Ende. Es ist nur der Anfang einer neuen Herausforderung. Und, und das ist bereits eine weitere Erkenntnis, alleine ist man nie. Niemals auf der Welt. 

In meinem 19. Lebensjahr habe ich Wahrheit gesucht. Wahrheit, weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass wir das brauchen um weiterzumachen, loszulassen, einzusehen. Wahrheit, oh wie sie weh tun kann. Wie sie uns niederstrecken kann, aber dann wenigstens wirklich. Ein Ende mit Schrecken ist immer noch besser als ein Schrecken ohne Ende. Ich habe angefangen, noch ehrlicher zu sein, gleichzeitig muss man immer spüren, wer die Wahrheit hören will und wer nicht.

Konkrete Ereignisse, die zu all diesen Erkenntnissen geführt haben, war mein erster Winter auf verschneiten Straßen, der glorreiche Ausbruch meiner Akne, mein letztes Garde-Jahr, mein Abitur und die Ereignisse darum herum. Die Entscheidung über meine Zukunft nach der Schule, mein Ferienjob bei SchwörerHaus, meine Reisen nach Paderborn, Rom, Graz und auf die Äolischen Inseln. Ich bin jedem einzelnen dieser Ereignisse dankbar.

Um diesem Text die Schwere zu nehmen, die er vor lauter Schlüsselereignissen vielleicht hat, hier noch eine letzte, schöne Erkenntnis: Mehr als in allen anderen Bereichen gilt beim Autofahren: in der Ruhe liegt die Kraft. Grüße gehen raus an Jan, Felix, Christoph und Linus. Ups haha.


03. Oktober 2018

Vor  365 Tagen bin ich 18 Jahre alt geworden. Heute bin ich die Person, die ich letztes Jahr sein wollte. Das größte Geschenk, das ich hätte bekommen können, hat sich heute Nacht einfach so vor mir entfaltet:

Menschen und Momente.

Heute Nacht habe ich mit fast allen gefeiert, die mir wichtig sind. Den Rest hatte ich in Gedanken dabei.

Jemand hat mir mal gesagt: Zeit ist das Kostbarste, das wir haben.

Let´s enjoy it. Ich kann es gar nicht erwarten.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.