Wenn du deinem Stern folgst | 2022, Kapitel 11

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Was haltet ihr im Allgemeinen von November? Dem Monat, dem ich ohne Weiteres die meisten Regentage Deutschlands zuschreiben würde, obwohl das eigentlich Dezember und Januar sind? Der Zeit, in der sich Weihnachtsstimmung und Lebkuchen noch halb illegal anfühlen? Bald ist Weihnachten. Das Jahr ist beinahe vorbei. Es ist alles immer nur halb. Vielleicht gibt es November, damit wir lernen, das auszuhalten, die eine Millionen Grautöne zwischen dem goldenen Herbst und dem strahlenden Winter. Aber vielleicht sollte ich auch nur aufhören, im Geiste mit Monaten zu kommunizieren. Alles in allem: am 31. Oktober hatte ich Angst vor den nächsten vier Wochen halber Grauheit. Und dann? Kam dieser November.

Die glorreiche Pforte

Ich könnte in allen Einzelheiten davon berichten. Darüber, wie es in 30 Tagen drei Mal geregnet hat. Wie ich mit meinen Freiburger Mitbewohnern durch den Sonnenuntergang in Venedig gelaufen bin. Wie wir in Bergamo und Mailand waren, wie Kodaline vor uns auf der Bühne high Hopes gesungen hat, und I’m ready for it all, Melodien, an die ich glaube, seit ich fünfzehn bin. Wie sich die Stadt ab Mitte des Monats in ein glitzerndes Weihnachtsparadies verwandelt hat (Padua hat ganz offenbar überhaupt gar kein Stromproblem), und ich jeden Abend, wenn ich mit meinem klapprigen Fahrrad durch die Gassen Richtung gefahren bin, ein neues Licht entdeckt habe. Ich weiß nicht, was es ist – die Glücklichkeit lag in der Luft. Ich könnte Seiten darüber schreiben.

Aber ich sag’s, wie es ist: dieser Text entsteht wieder einmal unter äußerst schwierigen Bedingungen. Es ist nicht einmal, wie bei jedem einzelnen bisherigen Kapitel, eine Extra-Schicht in der letzten Nacht des Monats. Stattdessen ist es der 6. Dezember und ich schreibe diesen Text, anstatt meiner Vorlesung über die Poesie von Georg Trakl zuzuhören. Ein Luxus, den ich mir mit meinen Italienisch-Sprachkenntnissen definitiv nicht leisten kann. Deswegen fasse ich 30 unvergesslich wunderschöne Tage mit einer Erkenntnis zusammen, die einfacher und allumfassender nicht sein könnte. Sie ist mir begegnet, als ich letzten Samstag nach Ravenna gefahren bin, um am Grab von Dante Alighieri das Literatur-Fangirl in mir zu erwecken. Besagter Dante Alighieri hat um 1300 in seiner Commedia Divina geschrieben: Se tu segui tua stella, non puoi fallire a glorioso porte. Übersetzt: Wenn du deinem Stern folgst, kannst du nicht an der glorreichen Pforte scheitern.

Die glorreiche Pforte – klingt in der Tat sehr ….glorreich. Aber vielleicht würden wir Dantes Rat gerne schon beherzigen, bevor wir die letzte Station des Himmels erreichen (und hoffentlich überspringen wir auch das Purgatorium). Wenn es nicht ein glorreicher Tod ist, was ist wohl dann unser Ziel? Konfuzius wirft an dieser Stelle ein, dass es darauf gar nicht so ankommt. Glorreiche Pforte hin oder her – es geht darum, dass wir unserem Stern folgen.

Es ist ja nicht so, dass sämtliche Café-am-Rande-der-Welt-Bücher und Instagram-Coaches und eigentlich sämtliche Intellektuell seit Anbeginn der Welt nichts anderes predigen als das: du musst deine. Bestimmung finden. Mach das, was dich glücklich macht. Und ich so: einfach mal nicht ernstnehmen, was die alle sagen! Für mich musste es offenbar die poetische Version von Dante sein. Aber Hauptsache, jetzt habe ich es begriffen.

Ausflug ins Universum

Darauf, dass besagter Stern im Weihnachtskrippen-Stil mit einem Leuchtstrahl am Himmel erscheint, warten wir vermutlich lange. So einfach macht es uns das Leben nicht. Stattdessen sagt es: hier – eine Stadt, ein paar Menschen, rund 130 Millionen Bücher und 195 Länder – mach was draus. Finde deinen Stern. Und wenn du ihn dann gefunden hast, hör nie auf, ihm auch zu folgen.

Seinen Stern finden, seinem Stern folgen – beides ist leicht gesagt. Und gleichzeitig so unglaublich schwer. Nach seinem Stern zu suchen ist, sich selbst zu kennen, zu wissen, was einem gut tut und was nicht, wo man hin will im Leben, wen man dabei haben will, und was man selbst geben kann. Ganz schön viele Fragen für einen kleinen, hellen Punkt am Himmel. Und wahrscheinlich ändern sich unsere Antworten im fünf-Monatstakt.

Ich hatte irgendwie Glück. Ich glaube, ich weiß schon, was mein Stern ist, seit ich mein erstes Buch gelesen habe und zum ersten Mal in Italien war. Es fiel mir lange Zeit sehr einfach, ihm zu folgen. Aber für eine andere, ebenfalls sehr lange Zeit auch nicht. Wie viele Abende habe ich nicht gelesen, sondern auf Instagram verbracht? Wie oft habe ich mir selbst nicht zugehört, wenn mir mein Inneres gesagt hat, dass ich etwas bestimmtes brauche? Und wie oft wird mir alles das auch in Zukunft passieren? Tausend Mal, mindestens. Wahrscheinlich gehört das auch dazu. Dass es Tage oder Jahre gibt, in denen wir den Stern ein bisschen vergessen und uns in andere Richtungen umsehen. Oder es zieht eine zentnerschwere Wolke in Form einer Pandemie, einer Trennung oder einem Krieg auf, und wir wir wissen beim besten Willen nicht mehr, wo er ist und wohin wir ihm folgen sollen. Was dann noch hilft? Zu wissen, dass er noch da ist. Uns zu erinnern, dass wir ihn nur wiederfinden können, wenn wir in den Himmel sehen anstatt auf den Boden. Und dann? Dann kann es um uns noch so dunkel sein. Der Stern leuchtet.

Diesen November habe ich gelesen und geschrieben, Italienisch geredet und neue Orte gesehen. Ich war glücklich wie hundert Jahre nicht mehr. Ich hätte nicht gedacht, dass etwas so einfach, und so allumfassend sein kann. Danke, November.


Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.