Einsame Spitze? | Was mir die Kursstufe gezeigt hat

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Ich stehe am Fuß eines großen Gebirges und betrachte die verschiedenen Wege, die von hier ausgehen und alle früher oder später mitten im Gebirge enden. Kalter Wind weht mir auf den Rücken und an den Bergspitzen hoch über mir türmen sich dunkle Wolken. Es ist die Föhnmauer und in wenigen Minuten wird sich die Feuchtigkeit, die der Wind auf seinem Weg nach oben aufgenommen hat, in Form von Steigungsregen zurück nach unten bewegen. Auf der anderen Seite des Gebirges werden die Menschen das plötzlich frühlingshafte Wetter genießen und über Kopfweh stöhnen. Das alles weiß ich. Ein einfaches, geographisch erklärbares Windsystem. Aber welchen Weg nach oben wähle ich denn nun? Der Weg der rechts abgeht, ist schmal und geht steil nach oben. Ich weiß er endet ganz am Gipfel, wo neben dem hölzernen Gipfelkreuz höchstens eine Person Platz findet. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schön die Aussicht sein muss, so hoch über allem anderen mit zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven, je nachdem in welche Richtung man sich dreht. Kein einziger Wanderer ist auf dem Weg zu sehen. Wieso?

Links von mir gibt es einen breiteren Weg, der aber kaum zu sehen ist, weil viele bunte Softshell-Jacken sich darauf tummeln. Die Menschen reden miteinander, irgendjemand trägt eine kleine Lautsprecherbox in den Händen, aus der Musik von Kraftklub dröhnt. Manche haben Kameras dabei und alle freuen sich auf den Ausblick, obwohl dieser Wanderweg, das weiß ich, ein ganzes Stück unter dem Gipfel auf einer breiten Aussichtsfläche mit Gastwirtschaft endet. Wer von dort aus noch weiter hoch will, muss sich auf krakselige Trampelpfade begeben, von denen keiner so richtig weiß ob sie sicherheitstechnisch in Ordnung sind, die daher selten jemand benutzt oder bis nach oben verfolgt. Ganz oben sieht man Seen, Städte, Dörfer, Lokomotiven, Kuhweiden, entferntere Gebirge, Flugzeuge, Fallschirme und die Sonne. Da ist Stille, absolute Stille bis auf den Wind, der einem die Haare zerzaust. Auf der Aussichtsplattform ist es, als wäre man zu einem Teil des Gebirges geworden, man ist für eine bestimmte Zeit ein Mitglied dieser Bergwelt, genießt es mit einem kalten Getränk und der Sonne im Gesicht.Ein Gebirgszug, durchzogen von Wegen, ein Phänomen, dass sich geographisch, physikalisch, chemisch und gesellschaftlich erklären lässt , und noch einmal: wo gehe ich jetzt lang?

Ich bin jetzt seit sieben Monaten in der Kursstufe, also schon mehr als ein halbes Jahr, schwer erklärbar wie die Zeit so schnell vergehen kann. Auf der einen Seite kann ich mir nicht mehr vorstellen, wie das Leben vorher war, auf der anderen Seite fühlt sich – falls das möglich ist – die Routine noch nach etwas Neuem an. Noch immer verschieben sich Strukturen in dieser großen Gruppe von circa 80 Leuten und noch immer zeigen sich täglich neue Unterschiede zur Mittelstufe. Und das betrifft natürlich auch die schulische Seite. Gestern habe ich meine 22. Klausur der Oberstufe geschrieben. Es war Mathe, und das ist auch der Grund wieso dieser Text, den ich schon lange im Kopf hatte, erst heute aufgeschrieben wird, denn die letzten Wochen waren purer Lernstress. Nach Ende des ersten Halbjahres dachte ich: Ist doch alles gar nicht so schlimm, aber jetzt, mitten in der Klausurenphase sehe ich das doch wieder etwas anders und ich habe auch das Gefühl, der Anspruch ist im neuen Jahr gestiegen. Das ist auch etwas, womit ich erst noch klarkommen muss: dass das Papier, dass wir am ersten Februar bekommen haben, keine Halbjahrsinformation war sondern das erste von vier Zeugnissen, und am Ende entscheiden alle diese Noten über unseren Abiturschnitt.

Und der? Irgendwie über unsere Zukunft – oder?


Das sind meine Noten in der Oberstufe. Extrem gut in Deutsch, Englisch, Geographie, Geschichte und Religion, eher unterdurchschnittlich in Mathe, Chemie und Sport. Ich bin kein Mittelmaß, sondern eher eine Vereinigung der Extremen. Die Gesellschaftswissenschaften und die Sprachen fallen mir – abgesehen von Spanisch – sehr leicht, dafür in Mathe beides Mal sechs Punkte, und meine sportlichen Leistungen beim Kugelstoßen haben mir immerhin drei Punkte beschert. Diese Noten ärgern mich nicht. Von der ersten (furchtbaren) Mathestunde in der Grundschule bis jetzt hatte ich 10 Jahre lang Zeit um mich damit abzufinden, dass mir die Logik der Mathematik wohl für immer verborgen bleibt. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Schulsport.Wenn mich etwas ärgern könnte, dann vielleicht die Tatsache, dass die Fächer in denen ich weniger gut bin meinen Zeugnisschnitt herunterziehen, der so toll sein könnte, wenn nur Deutsch, Englisch, Geographie, Religion, Geschichte und von mir aus noch Gemeinschaftskunde zählen würden.Die Wahrheit ist aber: weder das eine noch das andere ärgert mich. Ich bin kein Mathegenie – ist halt so. Vor einem Jahr hätte ich das vermutlich noch nicht gesagt, aber jetzt kann ich es.

Und das mein Zeugnisschnitt eben 11 ist und nicht 13 kann und will ich auch nicht ändern. Ich weiß dass, wenn ich mich über meine Noten beschwere, alle zurecht denken: das ist Jammern auf hohem Niveau. Denn das ist es auch. Ich kann mich so glücklich schätzen, dass mir Dinge wie Interpretationen so leicht von der Hand gehen, so wie andere in meinem Kurs froh sind um ihr angeborenes Verständnis für Mathematik. Es gibt Leute die kämpfen Jahr für Jahr um ihre Versetzung. Was beschwere ich mich, dass ich nur einen „guten“ und keinen „sehr guten“ Schnitt geschafft habe?

Früher war ich einer von denen, ich wollte immer die Beste sein. In der Grundschule war ich verwöhnt mit meinen guten Noten, die ich erzielt habe ohne auch nur eine Sekunde dafür lernen zu müssen. Später früher, das war die Zeit in der es mir noch möglich war, durch sehr viel Lernen auch eine sehr gute Note zu erzielen, und auch die Zeit in der ich geweint habe, wenn ich eine schlechte Klassenarbeit zurückbekommen habe, und ja: früher ist noch gar nicht so lange her.

Die Oberstufe hat mir bisher etwas ganz wichtiges beigebracht: Erstens Gelassenheit, auch wenn eine Klausur daneben geht. Zweitens die Tatsache, dass man versagen wird. Das haben uns unsere älteren Freunde von Anfang an beigebracht: spätestens aber der elften Klasse kann man nicht mehr überall gut sein. In einer Woche mit drei Klausuren in drei verschiedenen Bereichen wird man definitiv bei der einen oder anderen Aufgabe versagen, und das muss man hinnehmen, weil, was anderes hilft sowieso nicht. Wenn man immer versucht, der Beste zu sein, macht man sich doch ein Stück weit selbst kaputt. Wenn man nie mit sich selbst und dem was man geschafft hat zufrieden ist, wie kann man sich selber dann noch mögen? Auch für die Mitmenschen kann es äußerst unangenehm sein, wenn man nur noch darauf fokussiert ist, besser zu sein als sie. Ich würde auch nicht gerne mit jemandem zusammen einen Berg besteigen, der nur die ganze Zeit verbissen versucht, als Erster oben zu sein. Und der dann deprimiert ist, wenn das eben einfach nicht funktioniert. Was nützt es mir noch, jedes Mal auf eine zweistellige Mathenote zu hoffen wenn ich dann doch wieder enttäuscht werde?

„Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört etwas zu werden“ sagte einst Sokrates, und hatte damit sicher recht. Deswegen will ich auch nicht anfangen etwas zu sein. Ich lasse die Mathe-Baustelle nur ruhen, um mich auf andere Gebiete zu konzentrieren, in denen ich hoffentlich noch ganz viel werde: besser in Französisch, erfolgreicher mit dem Schreiben, öfter auf Reisen. Ich will beginnen die Berge zu besteigen, von denen ich weiß, dass ich die Spitze erreichen kann.

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Diese Karikatur bezieht sich eigentlich auf die Bildung und die Chancengleichheit, aber ich finde sie unterstreicht auch gut die Schwierigkeit, Hindernisse als unüberwindbar zu akzeptieren. Nicht alle schaffen es auf diesen Baum. Und wenn zum Beispiel der Elefant dennoch versuchen würde, hinaufzuklettern – er würde sich Hals und Bein brechen dabei. Deswegen finde ich, wenn man sich selbst einen Gefallen tun will, versucht man einfach nicht immer, ganz nach oben zu gelangen. Wir kennen uns selbst am Besten und können uns einschätzen. Wir wissen, wie hoch wir unsere Ziele stecken müssen.

It is all about priorities würde ich vermutlich antworten, auf die Frage, wie man die Oberstufe überlebt. Jeder setzt sich seine eigenen Prioritäten, nach denen er dann lebt und lernt – oder auch nicht. Ich denke das geschieht die meiste Zeit unbewusst und fängt schon bei der Frage an, ob man sich im Oberstufenraum an den Gesprächen der anderen beteiligt oder lernt – ok nein Spaß, im Oberstufenraum lernt NIEMAND. Jemals. 😉

Wenn man auf die Spitze des Berges will, wenn man es wirklich ernst meint mit dem 1,0-Abitur, dann ist man entweder unglaublich begabt oder man investiert unglaublich viel Zeit, und diese Zeit besteht dann nicht nur aus sturem Lernen sondern auch aus ganz viel Verstehen und Zusatzinfos in sich aufsaugen, denn meistens kann die magische 15 nur so erreicht werden. Zumindest ist das die Theorie denn auf drei von den vier 15-Punkte-Arbeiten die ich bis jetzt geschrieben habe, habe ich einfach überhaupt nichts gelernt. Das waren zwei Mal Deutsch und einmal Englisch und darauf lerne ich generell nichts. Anders war das bei Kunst, für diese Klausur habe ich sehr viel gelernt, aber nur weil ich in den Tagen vor der Klausur krank war und deswegen sowieso nichts anderes zu tun hatte. Ansonsten hätte ich niemals so viel Zeit in diesen Stoff investiert.

Seit ich auf dem Gymnasium war wusste ich ich will ein gutes Abi schreiben. Ist ja eigentlich klar. Seit ich auf dem Gymnasium war dachte ich aber auch, ich könnte mir für das Abi die Fächer aussuchen, die ich gut kann. Die Kurswahl letztes Jahr hat mir dann gezeigt dass es anders kommen kann, und so zufrieden ich mit Geo und Spanisch auch bin, diese Fächer sind und bleiben Notlösungen für mich, und ich könnte darin niemals die Leistungen erzielen, die ich mit Französisch und Geschichte erreicht hätte. Ab diesem Punkt war mir eigentlich schon klar, dass ich gar nicht mehr versuchen muss, den Eins-Komma-Schnitt anzusteuern. Und als ich die Entscheidung gefällt habe, nicht die Schule zu wechseln, habe ich auch indirekt den sozialen Aspekt der Schule priorisiert. Und ich bereue es zu keiner Sekunde! Ich hätte niemals so viele schönen Momente und so intensive Freundschaften erlebt, und mir ist das nun mal wichtiger als ein herausragender Abschluss. Ich will damit nicht sagen dass Freundschaft und sehr gute Schulnoten nicht vereinbar sind, es ist nur sehr schwer und ich habe Respekt vor allen, die das schaffen. Ich denke da spielt Talent auch eine große Rolle, und für Mathe besitze ich das nun mal leider nicht.
Ich hatte in den letzten Wochen einige Diskussionen mit Leuten, die gesagt haben: „Was bringt mir ein soziales Leben, wenn ich dafür meinen Abschluss versaue?“ Für mich das größte Problem ist, mit „Abschluss versauen“ meinen sie, dass man zum Beispiel nur 10 Punkte hat statt 15. Das ist von „Versauen“ weit entfernt, und ich habe gesagt: „10 Punkte sind doch keine schlechte Note, das ist eine 2,3 und liegt im Bereich GUT.“ Die Person hat daraufhin mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Es kommt immer darauf an mit wem du dich messen willst.“

Ich hab schon verstanden. Das sind Personen, die ganz nach oben auf die Bergspitze wollen, und die es überhaupt nicht kümmert, dass sie dabei alleine sind. Sie haben ein Ziel, nämlich einen guten Abischnitt, den sie für ihren Studiengang auch brauchen. Das will ich ihnen auf keinen Fall verübeln. Angebracht wäre eher Bewunderung, dafür dass manche so hart und diszipliniert arbeiten für ihr Ziel, dass man sie bestimmt nie im Oberstufenraum antrifft, wo sie nicht so gut arbeiten könnten wie zuhause oder in der leeren Aula. Ich finde es nur wichtig zu verstehen, dass jeder seine Prioritäten anders setzt, manchmal schon abhängig vom Fach. 7 Punkte wären in Mathe ein Traum und in Deutsch eine Katastrophe für mich. Und ich denke das ist ganz normal.

Seit ich meine Prioritäten gesetzt habe, komme ich viel besser durch das Leben. Ich schreibe meine 14 Punkte in den Sprachen und meine 6 in den Naturwissenschaften, ignoriere meine Hausaufgaben im Oberstufenraum und kriege auch immer noch regelmäßig die Krise, wenn eine Mathe-Klausur ansteht. Das wird sich wohl niemals ändern, muss es auch nicht, solange ich meine Prioritäten kenne und größtenteils nach ihnen vorgehe. Ich will einfach nur, dass andere das respektieren, dass ich eben nicht dafür schräg angeschaut werde wenn ich mich über 10 Punkte freue. Dass niemand, der auf dem steilen Pfad Richtung Gipfel unterwegs ist, zu denen auf dem breiten Weg herabsieht und den Kopf schüttelt, und dass keiner in der Menge dem einsamen Kletterer zuruft: „Bloß weil du keine Freunde hast!“ Denn so kann man das ja definitiv auch nicht sagen.
Welchen Weg ich jetzt nehmen soll? Ich denke ich laufe einfach mal zu auf dieses große, vermeintlich unbezwingbares Gebirge, denn eins steht fest: Aussicht ist relativ – es kommt immer darauf an, was man daraus macht.

*Bildquelle: https://www.google.de/search?q=karikatur+baum+gerechtigkeit&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwjts4zrueDSAhVGuRQKHSQDDpMQ_AUICCgB&biw=1280&bih=603#tbm=isch&q=karikatur+baum+gerechtigkeit+rollstuhlfahrer&*&imgrc=6c1IjQr_danfFM:&spf=595

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.