Eine Woche in der Sonderschule

Kategorien Kurzgeschichten

Eine Woche Sozialpraktikum liegt hinter mir. Ich bin 7 Tage älter, 7 Tage reifer und im Moment noch überfordert mit all den Eindrücken, die diese Zeit mit sich gebracht hat. Umso lieber möchte ich euch von meinen Erfahrungen berichten.

Am ersten Tag wurde jeder von uns auf eine Klasse zugeteilt. In der kurzen Vorstellungsrunde wurden uns zwei verschiedene Formen der Sonderschule vorgestellt, zum einen die B- Klassen, die praktisch Berufsschulklassen sind, und dementsprechend von Schülern im Alter von 17 aufwärts besucht werden, oder aber die H-Klassen, die dem Bildungsniveau von der ersten bis zur zehnten Klasse gerecht werden.

Ich durfte in meiner Praktikumszeit die Klasse H4 besuchen, die von sieben Kindern im Alter von etwa sieben bis zehn Jahren besucht wird. Jedes dieser Kinder leidet unter einer geistigen Behinderung, dazu kommen beispielsweise Einschränkungen wie der Autismus.

Auch ein Kind mit Down-Syndrom war in meiner Gruppe.

Ein Großteil der Kinder war in der Lage, in zusammenhängenden Worten zu sprechen, jedoch war ihnen anzumerken, dass es ihnen nicht leicht fällt. Trotzdem waren sie zu jeglicher Zeit bemüht, es so gut wie möglich zu versuchen, was einen direkten Kontakt deutlich erleichtert hat.

Insgesamt waren wir zu viert: zwei Fachlehrerinnen, ein Mädchen, dass dort gerade ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolviert und ich.

Die inhaltlichen Schwerpunkte des Unterrichts sind etwa auf dem Niveau der ersten bis dritten Grundschulklasse, jedoch sehr viel langsamer, ausführlicher und individueller.

(…)Den Kindern ist es eine große Stütze, wenn es feste Rituale und einen geregelten Unterrichtsablauf gibt. So beginnt jeder Schultag mit dem sogenannten Morgenkreis, wo zum Beispiel das Wochenende besprochen wird und die Lieblingslieder der Kinder gesungen werden.

Anschließend beginnt der Unterricht, der jeden Tag unter einem anderen Motto steht. Beispielsweise dreht sich Montags alles ums Rechnen, während Dienstags Lesen an der Reihe ist.

Selbstverständlich werden diese Themen in der Sonderschule ganz anders aufgearbeitet als in normalen Grundschulen. Die Methoden zur Stofferfassung sind sehr spielerisch und individuell auf den Schüler abgestimmt. Meine Aufgabe war es, den Kindern bei ihren Aufgaben zur Seite zu stehen, Fragen zu beantworten und ihnen gegeben Falles die Lösung zu zeigen. Die Schüler meiner Klasse sind durch die Reihe weg sehr offen und kamen gerne auf meine Hilfe zurück. Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die Kinder zum Beispiel zur Toilette zu begleiten, um zu überprüfen, das alles klappt. Neben den Unterrichts- gibt es auch viele Spielphasen, die ich mit den Kindern verbringen durfte. So wurde zum Beispiel mit dem Tablet oder dem sogenannten „TipToi“ gespielt. Wenn die Kinder etwas nicht verstanden haben, oder es etwas zu lesen gab, musste ich einspringen.

Am Anfang jeder Woche werden in der Klasse verschiedene Ämter verteilt, zum Beispiel das „Aufstuhl-Amt“, oder auch das Abspülen, denn die Kinder essen ihr Pausenbrot jeden Tag zusammen im Klassenzimmer. Sowohl die Ämterverteilung als auch die Ausführung erfolgt weitgehend durch die Kinder, sodass ich hier nur selten mithelfen musste. Für die beiden Fachlehrerinnen war es eine sichtliche Erleichterung, dass sie die Aufsicht für einen kürzeren Zeitraum an mich übergeben konnten, während sie zum Beispiel etwas besorgen mussten.

Auch mir hat es viel Spaß gemacht, mich mit den Kindern zu unterhalten.

Mitte der Woche findet für die Klasse jede Woche der sogenannte „Waldtag“ statt, bei dem in den Wald gewandert und an einer Hütte gerastet wird. Nach dem Vesper arbeiten die Kinder zusammen im Wald, hier wird gesammelt, gesägt, gehackt und sortiert. Ich durfte mit anpacken und war beeindruckt über die Motivation und den Fleiß der Schüler. Am Ende wurde gegrillt, und ich durfte bei der Essenszubereitung mithelfen.

Obwohl während meiner Praktikumszeit jeder Tag ganz unterschiedlich abgelaufen ist, habe ich mich schnell eingewöhnt und wusste, wo ich helfen konnte.

Die wohl schwierigste Prüfung war es für mich, Konflikte zu unterbrechen und streitende Kinder zu trennen. Es ist manchmal nicht abschätzbar, wie gewaltbereit die Schüler in ihrer Wut werden können, aber zum Glück gewinnt man durch solche Fälle schnell an Erfahrung und kann beim nächsten Zwischenfall routinierter vorgehen.

Insgesamt bestanden meine Aufgaben also hauptsächlich darin, die Kinder durch den Tag zu begleiten, ihnen zu helfen und sie zu unterhalten. Dabei ist mir auch schnell klar geworden, dass die Schüler es sehr wohl ausnützen, wenn sie durch Praktikanten eine Extra-Aufmerksamkeit bekommen. In meinen Augen ist es deshalb sehr wichtig, zu erkennen, wann wirklich Hilfe benötigt wird, und wann die Kinder lediglich faul sind. Ein Verwöhnungs-Programm ist auf Dauer nicht sinnvoll, schließlich sollen die behinderten Schüler nach Ablaufen ihrer Schulzeit ein bestmöglich selbstständiges Leben führen können.

Die beiden Fachlehrerinnen sind mir in diesem Punkt sehr entgegen gekommen, bis ich selbst in der Lage war, richtig zu entscheiden.

Mit behinderten Kindern zu arbeiten war eine komplett neue Erfahrung für mich. So vielseitig eine geistige Behinderung sein kann, so vielseitig sind auch die Menschen, die durch sie gezeichnet sind. An unser Gymnasium erinnert die Sonderschule nicht wirklich, Unterrichtsmethoden, Beziehungen und Räume sind ganz anders festgelegt. So war es am Anfang teils verstörend, wie die Lehrer mit ihren Schülern umgehen. Hier wird sehr viel mehr Wert auf Persönlichkeit gelegt, außerdem gibt es praktisch keinen durchlaufenden Unterricht, weil ständig irgendwelche Einwürfe und Zwischenfälle von Seiten der Schüler kommen. Damit bin ich anfangs überhaupt nicht klar gekommen. Auf dem Gymnasium läuft der Unterricht in der Regel ruhig und fast minutiös geplant ab, während die Sonderschule ein einziges Pulverfass zu sein scheint, das alle paar Minuten hochgeht, sei es durch ein aufkommender Streit oder durch plötzliches Weinen oder Schreien einzelner Schüler, bei denen der Grund zunächst unersichtlich zu sein scheint. Die Kunst ist es, trotz all diesem Chaos den Überblick nicht zu funktionieren und das Gleichgewicht zu bewahren. Lachen und weinen, loben und schimpfen, das liegt in der Sonderschule sehr nahe beieinander.

Dass die Situation jederzeit kippen könnte, war am Anfang sehr ermüdend und überfordernd für mich, sodass ich zuhause meist sofort ins Bett wollte. Die neuen Eindrücke wirkten sehr erschöpfend für mich. Etwa ab dem dritten Tag bemerkte ich, wie ich mich langsam an die Situation gewöhnte. Ich konnte manche Dinge ausblenden und mich auf das Wesentliche konzentrieren, und wirbelte nicht mehr wegen jedem Laut, den die Schüler von sich gaben, herum. Auch schien sich meine Beziehung zu den Kindern maßgeblich zu vergessen. Durch die vielen Gespräche und einige Vokabeln der Gebärdensprache fiel es mir viel leichter, mit ihnen zu kommunizieren, und ich lernte, auf welchen Wegen ich sie erreichen konnte. Klare Ansagen spielten dabei eine große Rolle.

Dadurch, dass ich mich eingelebt hatte, machte die Arbeit viel mehr Spaß, und ich konnte mich vollkommen darauf konzentrieren, so viele Erfahrungen wie möglich zu machen, anstatt vor ihnen zurückzuschrecken.

Es entstanden sehr bewegende Momente, zum Beispiel wenn sich die Kinder nach einem Lob überschwänglich freuten, oder wenn einer zu lachen anfing und gleich die ganze Klasse einsprang.

Natürlich war es trotzdem noch sehr ernüchternd, zu sehen, wie schwer sich die Kinder teilweise mit Dingen taten, die für „normale“ Menschen die einfachsten Dinge der Welt waren. Auch war und ist es nach wie vor nicht einfach, zu akzeptieren, dass diesen Kindern zwar geholfen werden kann, aber niemals eine Heilung erzielt werden kann. Man darf nicht versuchen, diese Kinder zu „normalen“ Menschen zu programmieren, man kann nur versuchen, es ihnen in ihrer ganz eigenen Welt so angenehm wie möglich zu machen und sie gleichzeitig bereit für ihr Leben in unserer Welt zu machen.

Diese Erkenntnis zu erlangen kann lange und anstrengend sein, und ich denke nicht, dass ich nach einer Woche bereits alle Aspekt zum Thema geistige Behinderung einfach akzeptiert habe.

Sehr schwer war es für mich, zu lernen, auch zu schimpfen. Oft verstehen die Kinder nur durch Schreien, dass sie etwas falsch gemacht haben, und das tat mir sehr weh. Gleichzeitig bewunderte ich die Fachlehrerinnen dafür, wie es ihnen gelang, die Kinder und ihre Taten komplett voneinander zu trennen. Nie wurden die Kinder an sich kritisiert, das Schimpfen richtete sich lediglich an das, was sie falsches getan hatten.

Ich habe gelernt, dass jedes dieser Kinder ein ganz eigenes Individuum ist, ein Unikat, das sich zu behaupten weiß. Kein Schüler saß nur apathisch da, jeder brachte das, was er kannte und wusste, mit ein und versuchte, das Beste herauszuholen.

In nur einer Woche hat sich meine komplette Sichtweise verändert. Ehrlich gesagt hatte ich vor meinem Praktikum stets etwas Respekt vor Behinderten, einfach weil ich sie für unberechenbar und unerreichbar gehalten habe. Diese Angst ist durch meine Arbeit in der Sonderschule komplett verschwunden.

Während ich nach meinem ersten Praktikumstag noch fest davon überzeugt war, aufgrund des anstrengenden Tages niemals als Sonderschullehrerin arbeiten zu können, hat sich meine Einstellung dazu ab Dienstag stark verändert. Je länger man mit behinderten Kindern zusammen arbeitet, desto mehr Freude hat man daran, und desto glücklicher ist man über sein eigenes Leben. Die Arbeit mit diesen Kindern gibt einem unglaublich viel, wenn man sich darauf einlässt.

Ich weiß zwar nicht, ob es mich wirklich mein ganzes Leben lang bis zur Rente zufrieden stellen würde, auf einer Sonderschule zu arbeiten, da ich auch sehr gerne in Richtung Journalismus / Literatur gehen würde, aber als FSJ kann ich es mir auf jeden Fall vorstellen.

Ich denke auch, dass sich die Erfahrungen des Praktikums auf viele andere Situationen im alltäglichen Leben übertragen lassen.

Es geht im Kern nicht darum, mit Behinderten umzugehen, sondern darum, jeden Mensch in seiner Einzigartigkeit zu akzeptieren, sich für neue Dinge zu öffnen und zu versuchen, auf die persönlichen Wünsche und Probleme jedes einzelnen einzugehen.

Deshalb hat sich die Woche in der Sonderschule für mich auf jeden Fall gelohnt, und vermutlich werden die Erfahrungen, die ich dort machen wurde, noch sehr lange in meinem Kopf hin und her geistern und mir im Leben weiterhelfen, egal ob ich später wirklich einmal diese Richtung einschlage oder nicht.

Tija, das also war meine letzte Woche, und ich bin wirklich froh, dass es jetzt erstmal heißt : Ferien, Ausschlafen, Konstanz 🙂

Nähere Infos zu letzterem kommen auf jeden Fall noch, bis dahin, schöne Tage euch, und an alle Leute aus meiner Stufe, die jetzt in Panik ausbrechen: wir haben ja immerhin noch ein paar Tage Zeit, den Praktikumsbericht zu perfektionieren:-D

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 23 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.