Es klingelt.
Ich nehme meinen Schulrucksack und die Jacke und mache mich auf den Weg. Von der Aula in den Stufensaal, Physik-Doppelstunde. Wenn ich langsamer laufe, muss ich vielleicht drei Minuten weniger im Stufensaal sitzen. Dass sich die Dauer eines Weges verlängert, wenn die Geschwindigkeit schrumpft, dazu reicht sogar mein physikalisches Verständsnis. Alles was danach kommt? Ziemlich dunkel, würde ich sagen. Die Schüler um mich herum scheinen noch nie etwas gehört zu haben von der Geschwindigkeit-Zeit-Theorie. Sie hasten und drücken, als wäre das Klingeln kein ganz normaler Schulgong gewesen sondern der Feueralarm. Nur dass die Brände im Klassenzimmer warten.

Einer hastet nicht und drückt nicht. Macius läuft den Gang entlang wie immer, seelenruhig und mit einem Grinsen im Gesicht, vermutlich weil ihm wieder irgendeine Dummheit durch den Kopf geht. Ich weiß gar nicht, wie er denn immer auf solche Einfälle kommt. „Zehn Euro“, hat er auf dem letzten Fest zu mir gesagt, „Zehn Euro wenn du dich als Security-Mann verkleidest und denen erzählst, dass du jetzt zu ihrem Team gehörst!“ Ich habe ihm den Vogel gezeigt.

Als er mich entdeckt, grinst er nicht mehr. Er sieht mich nur an, so direkt dass ich am liebsten wegschauen würde, aber ich kann nicht. Es durchfährt mich einmal mehr, wie dunkel seine Augen sind, und während seine Freunde neben ihm über irgendetwas lachen, tut er es nicht.

In der letzten Physikstunde haben wir- beziehungsweise alle außer ich- über Kreisbahnen diskutiert. Ein Körper bewegt sich so lange auf einer Kreisbahn, bis ihn die Zentripetalkraft nicht mehr halten kann. Tritt dieses Ereignis ein, wird der Körper tangentiell aus der Kreisbahn geschleudert. Wie stark die Zentripetalkraft ist, hängt von mehreren Faktoren ab. Was den Körper dazu bringt, sich der Zentripetalkraft zu widersetzen- wer weiß das schon. Ich jedenfalls nicht.

In Macius´ dunklen Augen flackern Fragen auf, die er mir stellen könnte, wären wir nicht mitten in den Schülermasssen, mitten im vermeintlichen Brandalarm. Ich könnte sie beantworten.

Wieso ich mich nicht gemeldet habe? Vielleicht aus Angst, dass ich dich damit aus der Kreisbahn werfe. Wieso ich dich nicht gehalten habe? Vielleicht weil deine Freunde sagten, dass du nicht gehalten werden wolltest. Vielleicht hast du selbst die Zentripetalkraft schwächer werden lassen, indem du losgelassen hast, sodass es ein Leichtes war, dich rauszuschleudern. Tangentiell bist du dann davon geflogen, weil du frei sein wolltest, weil du die Kreisbahn aus Vertrauen und Verantwortung nicht ertragen konntest. Du bist gegangen und ich bin in der Kreisbahn, und deshalb melde ich mich nicht.

„Achso“ sagen Macius´Augen, und ein bisschen irritiert: „Seit wann interessierst du dich für Physik?“ Ich zucke mit den Schultern und der Moment, der für uns zwei wie eingefroren war, vergeht. Die Menge hastet weiter, wir sind auf einer Höhe, und dann laufen wir in entgegengesetzte Richtungen weiter. Er zu Kunst, ich zu Physik.

Die Kunst der Physik ist es, in allem das Übertragene zu sehen. „Da euch die Geschwindigkeitszeit-Geschichte und die Kreisbahnen vermutlich zu den Ohren herauskommt“, sagte unser Physiklehrer zur Begrüßung, „machen wir heute etwas Neues. Wir lernen, wie zwei Kräfte sich beeinflussen, selbst wenn sie in entgegengesetzte Richtungen gehen.“

„Hast du nicht gehört“ denke ich, und zum ersten Mal macht Physik fast ein bisschen Spaß.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.